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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 594 / 20.5.2014

Streik am Berg

International Tödliche Arbeitsunfälle und Massentourismus am Mount Everest und die Folgen

Interview: Ingo Stützle

»O sieh, sieh«, ruft Heidi im gleichnamigen Roman von Johanna Spyri, »auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?« »Berge heißen nicht«, erwiderte dieser. Für Geissenpeter war noch klar, dass nur Gebirgspässe einen Namen verdienen, nicht aber Berge. Heutzutage kennt jedes Kind den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest. Dort starben Mitte April 2014 mehrere Träger.

Mitte April sind am Mount Everest 16 nepalesische Bergführer umgekommen. Für was braucht man so viele Sherpas?

Martin Krauß: 16 Träger sind nicht viele, wenn man sich überlegt, welche mittlere Industrie sich am Everest entwickelt hat. Anfang Mai 2014 waren über 1.000 Menschen im Basecamp, die auf den Aufstieg warteten. Das Everest-Basecamp liegt auf 5.300 Metern Höhe, also höher als der höchste Berg der Alpen. Da ist für den normalen Wanderer schon eine Akklimatisierung nötig.

Was die verunglückten Bergführer dort machten, war: den Ansturm für den Mai, wenn die absolute Mehrheit der Everestbesteigungen stattfindet, vorbereiten. Sie haben im Schnee gespurt, Fixseile verlegt, Camps angelegt, Sauerstoffflaschen und Material hochgetragen, und die sogenannten Icefalldoctors haben Leitern als Brücken über den extrem gefährlichen Khumbu-Eisbruch gelegt, den Einstieg in die Everestbesteigung. Diese Menschen, größtenteils - aber nicht nur - Männer, sind für den Everest etwa das, was Bauarbeiter für das europäische Autobahnnetz sind: Ohne sie gäbe es den Verkehr am Everest nicht. Außerdem würde ich gerne was zu dem Begriff Sherpa sagen.

Bitte? Warum nicht?

Er wird hierzulande meist als Synonym für Träger gebraucht, gerne auch mit besitzanzeigendem Fürwort, etwa: »Everest-Bezwinger Edmund Hillary und sein Sherpa Tensing«. Sherpas sind aber, so steht es mittlerweile sogar im ja lernfähigen Duden, Angehörige des Bergvolks der Sherpa, die in der Khumbu-Region, also der Region rund um den Everest, leben. Sie kamen erst vor 400 bis 500 Jahren in diese Gegend und haben sich traditionell ihren Lebensunterhalt mit dem Tragen von Lasten über die Pässe zwischen Indien, Nepal und Tibet verdient. So ist bei diesem Volk, das etwa 80 Prozent der Träger und Bergführer in der Khumbu-Region stellt, traditionell eine große alpine Kompetenz vorhanden. Und weil sie in Dörfern in teils über 4.000 Metern Höhe leben, ist die Akklimatisation auch gegeben.

Bei öffentlich gefeierten Erstbesteigungen waren die Träger immer schon vorher da, wie dein Buch so schön heißt. Den Ruhm ernteten sogenannte Abenteurer und mutige Männer. Der Mount Everest, der höchste Berg der Erde, wurde 1953 erstmals erklommen. Inzwischen tummeln sich Tausende von Touristen. Wie hat sich die Rolle der Träger in den letzten 60 Jahren geändert?

Auch hier waren die Träger schon vorher da. Ende der 1920er, als europäische Mächte, vor allem Deutschland und Großbritannien, den Himalaja alpinistisch erobern wollten, bedienten sie sich quasi natürlich der Einheimischen. 1934 ging eine deutsche Nanga-Parbat-Expedition in den Himalaja, und vier deutsche Bergsteiger und sechs Sherpas kamen um. Der amerikanische Autor Jonathan Neale beschreibt in dem Buch »Schneetiger« sehr genau, was diese Katastrophe bei den Sherpas bewirkte: »Sie konnten es sich nicht mehr leisten, wie Kinder behandelt zu werden.«

In der letzten Zeit hört man öfter davon, dass die Träger streiken. Warum?

Streiks gibt es, seit die deutschen, englischen, französischen, italienischen et cetera Herrenbergsteiger da aufgetaucht sind. Die Geschichte der Sherpas und ihres Widerstands gegen ihre unterbezahlte Ausnutzung ist in einigen Sachbüchern recht gut dargestellt worden. Auch wenn Bergsteiger, die der europäischen Arbeiterbewegung entstammten, etwa der Österreicher Fritz Wiesner von den Naturfreunden, im Himalaja unterwegs waren, wurden sie mit Streiks konfrontiert, die sie dann nach klassischer Aussperrungsmethode bezwingen wollten. Das gilt etwa auch für die 1978 feministisch inspirierte Expedition »A Woman's Place is on the Top«. Als die Träger ihre Forderungen formulierten, soll Expeditionschefin Arlene Blum mit Steinen nach ihnen geworfen haben - dann eskalierte der Streik.

Also nichts Neues unterm Mond?

Doch. Seit den 1990er gibt es eine regelrechte Everest-Industrie, Reinhold Messner verwendet immer den Begriff des »Pistenalpinismus«: dass also die Bergsteiger nicht mehr ihren Weg suchen, nicht mehr sich selbst sichern, sondern auf für sie präparierten Spuren, auf denen sie ihre Sicherungen in die bereits gelegten Fixseile hängen können, den Berg hochgehen.

Ist der Pistenalpinismus Resultat der allgemeinen Tendenz des »Schneller-Höher-Weiter« in der gegenwärtigen »Leistungsgesellschaft«, die mit einer wachsenden Beliebtheit von Extremsportarten herangewachsen ist?

Das »Höher-Schneller-Weiter« ist ja nur Ausdruck dessen, dass Sport, also auch Bergsteigen, Produkt der bürgerlichen Gesellschaft ist. Das war also von Beginn an da, als 1786 der Montblanc bestiegen wurde und damit - kein Zufall: etwa zur gleichen Zeit wie die Französische Revolution - der Alpinismus begründet wurde.

Was wir seit den 1990ern erleben, ist Ausdruck einer enormen Durchkapitalisierung dieser Art des Bergsteigens. Während die Spitzenbergsteiger andere Rekorde aufstellen - am schnellsten die schwierigsten Wände hochkommen und möglichst viele Wände am Stück erklettern et cetera -, sind Berge wie der Mount Everest eigentlich für den klassischen Alpinismus gestorben: Man kann da fast gar nicht mehr mit eigener Route hochgehen, da sind auf allen möglichen Zugängen schon Fixseile gelegt und die Strecke gespurt. Das ist das, was man Everest-Industrie nennt. Und, kleiner Einschub, die Naturfreunde sind ja die Wander- und Bergsteigerorganisation der Arbeiterbewegung, gegründet nach dem bürgerlichen Deutschen Alpenverein und anderen Clubs der Gentlemanbergsteiger.

Mit Everest-Industrie kamen dann auch die größeren Unglücke?

Ja, 1996 kam es zur ersten Katastrophe dieser Art des, noch in Anführungsstrichen, »Massentourismus« am Everest. Eher durch Zufall ist sie sehr gut dokumentiert in Jon Krakauers Buch »In eisige Höhen«; er wollte als Journalist eine solche touristische Besteigung begleiten und erlebte eine bergsteigerische Katastrophe hautnah mit. Damals wie heute kann man sich für circa 60.000 US-Dollar auch ohne nennenswerte alpinistische Erfahrung quasi auf den Everest führen lassen. Das hat - natürlich! - die kommerziellen Besteigungen nicht enden lassen, sondern nur populärer gemacht. Mittlerweile gibt es über 100 Firmen in Nepal, die Everesttouren anbieten.

Die Träger, Bergführer und alle anderen daran beteiligten Einheimischen verdienen zwar mehr als durchschnittliche Nepalesen, aber im Vergleich zu dem, was die Tourismusfirmen verdienen und auch zu dem, was der Staat mit seinen Gipfelbesteigungslizenzen einnimmt, ist das ein Witz. Die aktuellen Streiks drehen sich um die Bezahlung, vor allem aber um die Verbesserung der Absicherungen im Todes- und Krankheitsfall.

Organisieren sich die Träger und Bergführer selbst oder gibt es Gewerkschaften? Es wird jetzt auch zu einer verschärfen Konkurrenz unter den Arbeitern kommen, oder? In der Presse wird bereits zwischen »radikalen« und »gemäßigten« Teilen unterschieden?

Es gibt alles: selbstorganisierte Bergführerbüros, die in etwa genossenschaftlich organisiert sind, aber auch ständeähnlich fremde Konkurrenz abwehren; es gibt wilde Streiks, und es gibt auch gewerkschaftsähnliche Zusammenschlüsse. Und denen entgegen steht die Konkurrenz der Träger und Bergführer. So gut wie niemand ist da fest angestellt, die werden alle für jeweilige Touren gebucht. In den letzten Jahren drängen auch immer mehr Bergführer, die nicht aus Nepal sind, auf diesen immer lukrativer werdenden Markt - Stichwort Everest-Industrie.

Die Unterscheidung zwischen »radikal« und »gemäßigt« ist schlicht die zwischen denen, die nach der jüngsten Katastrophe aus guten ökonomischen und guten moralischen Gründen eine Everestsaison aussetzen und dann neu verhandeln wollen, auf der einen Seite, und denen, die bereit sind, die frei werdenden Jobs zu übernehmen, auf der anderen Seite.

Martin Krauß publizierte letztes Jahr das Buch »Der Träger war immer schon vorher da. Die Geschichte des Wanderns und Bergsteigens in den Alpen«, in dem er die Alpingeschichte gegen den Strich bürstet.