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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 594 / 20.5.2014

»Die gesamte Bevölkerung ist betroffen«

WM in Brasilien In Rio de Janeiro haben die Sportevents massive Auswirkungen

Interview: Sarah Lempp

Rio de Janeiro wird nicht nur einer der WM-Spielorte sein, sondern beherbergt 2016 auch die Olympischen Spiele. Deshalb sind die Auswirkungen der Sportgroßereignisse hier besonders stark zu spüren. Der Widerstand organisiert sich unter anderem in lokalen Basiskomitees, in denen sich soziale Bewegungen, NGOs, akademische Institutionen sowie von Zwangsräumungen Betroffene zusammenschließen. ak sprach mit Carla Hirt, Aktivistin im Basiskomitee von Rio de Janeiro, über die Ausschlüsse, die das aktuell durchgesetzte Stadtmodell produziert, und über die negativen Auswirkungen von WM und Olympia.

Rio de Janeiro erlebt zur Zeit eine massive städtische Umstrukturierung, die mit den Sportgroßereignissen - WM 2014 und Olympia 2016 - gerechtfertigt wird. Was sind die wesentlichen Konsequenzen dieser Umstrukturierung?

Carla Hirt: Das zentrale Ziel der Megaevents, wie sie aktuell durchgeführt werden, ist nicht, den Sport und den Wettkampf zu feiern. Die Priorität dieses Eventmodells liegt vielmehr auf der Immobilienspekulation in den Städten, in denen die Spiele stattfinden. In ganz Brasilien findet derzeit in vielen Städten eine sogenannte »Revitalisierung« statt. Anders als es die offizielle Rhetorik besagt, sind diese Baumaßnahmen nicht dazu da, das Leben der Bevölkerung zu verbessern. Vielmehr geht es darum, die Interessen der Immobilienspekulation zu erfüllen, was die Gentrifizierung und elitäre Ausrichtung ganzer Innenstädte zur Folge hat. Die Lebenshaltungskosten in der Stadt werden für große Teile der Bevölkerung untragbar. Rio de Janeiro ist zu einer Ware geworden. Anstatt die Stadt so zu organisieren, dass möglichst viele Menschen Zugang zu ihr haben, wird sie so umstrukturiert, dass sie sich möglichst gut an die Wohlhabenden verkaufen lässt. So wird aktuell das Hafenareal von Rio de Janeiro umgebaut, 2016 soll sich dort das Olympia-Medienzentrum befinden. Mit dieser Begründung wurden viele Familien aus ihren Häusern vertrieben. Auch der Straßenbau konzentriert sich auf Gebiete, die für den Großteil der Bevölkerung keineswegs vordringlich sind, sondern in erster Linie auf Neubaugebiete, in denen große Bauunternehmen bewachte Luxuswohnanlagen planen. Die Immobilienspekulanten, die davon profitieren, gehören häufig zu den größten Geldgebern für Wahlkampagnen.

Welche Gruppen sind am stärksten von der Umstrukturierung betroffen?

Alleine in Rio de Janeiro waren ca. 100.000 Personen von Zwangsräumungen betroffen, seitdem 2008 Eduardo Paes Bürgermeister wurde - und das sind die offiziellen Zahlen, die tatsächlichen Zahlen dürften also noch höher liegen. Zudem wurden öffentliche Einrichtungen privatisiert und so der Öffentlichkeit entzogen - wie etwa der Sportkomplex beim Maracanã-Stadion mit Sport- und Schwimmhallen, einer öffentlichen Schule und einem Museum für indigene Kultur. Olympia-Athleten hatten so keine Trainingsmöglichkeiten mehr, soziale Projekte mussten aufgeben, die indigene Community weiß bis heute nicht, wie es um die Zukunft des ältesten Indigenen-Museum Lateinamerikas steht. Darüber hinaus wird es informellen Straßenverkäufern während den Spielen nicht gestattet sein, im Umkreis der Stadien ihre Waren anzubieten. Aber letztlich ist die gesamte Bevölkerung betroffen: durch die Verteuerung der Stadt, durch den Anstieg der öffentlichen Schulden aufgrund der hohen Ausgaben für den vielfach überflüssigen Neu- oder Umbau der zwölf Stadien, durch die FIFA-Sondergesetze, durch die massive Polizeigewalt gegenüber all jenen, die Kritik an diesem Vorgehen äußern, durch die sogenannten Parfümerie-Baumaßnahmen, die zur Elitisierung der Städte beitragen, und so weiter. Am stärksten betroffen sind jedoch diejenigen mit weniger Kaufkraft, die von Zwangsräumungen Betroffenen, die informellen Arbeiter sowie all jene, die es sich nicht mehr leisten können, in einer so teuren Stadt zu wohnen, wie es Rio de Janeiro mittlerweile geworden ist.

In allen brasilianischen Metropolen gab es in den letzten Monaten Demonstrationen unter dem Motto »Es wird keine WM geben«. Rechnest du auch während der WM selbst mit großen Protesten?

Mit Sicherheit. Es ist wichtig zu betonen, dass dieses Motto sich dagegen richtet, was aus den Megaevents geworden ist - nicht gegen Sport und Sportwettbewerbe im allgemeinen. Die Leidenschaft für Sport ist unabhängig vom Verständnis der Prozesse, die hinter dem Modell von Großereignissen stehen, wie es FIFA und Co. praktizieren. Ihnen geht es in erster Linie darum, möglichst viel Profit zu machen.

Inwiefern sind die aktuellen Proteste eine Fortsetzung der Proteste vom Juni 2013?

Schon 2013 war einer der zentralen Sprechchöre auf den Demos »Es wird keine WM geben«. Er entstand sehr spontan und wurde vielfach von Personen gerufen, die zuvor in keiner politischen Gruppe aktiv waren. Dennoch verstanden sie, dass er eine tiefere Bedeutung hat (anders als die großen Medien, die den Ausruf sehr banal und simpel wiedergaben, losgelöst von seinem räumlichen, zeitlichen und sozialen Kontext). Aufgrund all der Dinge, die ich bereits genannt habe und durch die Themen, die bei den Demos 2013 präsent waren - in erster Linie Kosten und Qualität öffentlicher Dienstleistungen wie Transport, Gesundheit und Bildung - war immer deutlich, was die zentralen Forderungen sind: das Recht auf die Stadt sowie Bürgerrechte in Würde. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Themen und entsprechend gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen den Gruppen, die dafür kämpfen.

Die Regierung setzt gegenüber den Protesten auf massive Repression. Unter anderem wurde ein Gesetz gegen »Vandalismus« und »Terrorismus« auf den Weg gebracht, das es ermöglichen würde, Proteste während der WM mit 15 bis 30 Jahren Gefängnis zu bestrafen. (Siehe das Interview auf Seite 28) Funktioniert die Strategie der Einschüchterung?

Das ist eine schwierige Frage. Einerseits hatte die Repression zur Folge, dass viele Leute auf die Straße gingen, um dagegen zu protestieren und die sozialen Bewegungen zu unterstützen. Andererseits schüchtert die Polizeigewalt natürlich auch viele Menschen ein und hält sie vom Protestieren ab. Der Gesetzentwurf, den du ansprichst, verstößt gegen die Verfassung, und die sozialen Bewegungen bewerten ihn als extrem undemokratisch. Deshalb wird er bereits als »AI-5 der WM« bezeichnet - in Anlehnung an das repressive Sondergesetz AI-5 aus Zeiten der Militärdiktatur.

In den vergangenen Jahren fanden vier von fünf Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen in BRICS-Staaten statt (Brasilien, Russland, China, Südafrika). Ziehen sportliche Großereignisse zunehmend in den globalen Süden, da es dort noch mehr neue Märkte zu erschließen gibt?

Der FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke sagte 2013 sogar selbst, dass Großereignisse wie die FIFA-WM sich in Ländern mit einer weniger stark ausgeprägten Demokratie einfacher umsetzen lassen. Um die entsprechenden Maßnahmen durchzusetzen, braucht es allerdings auch Regierungen, die dazu bereits sind, gemäß den FIFA-Regeln mitzuspielen. Dazu bedarf es einer Dosis Autoritarismus.

Nach den Protesten im vergangenen Jahr verlor Dilma Rousseff viel Popularität. Dennoch wird erwartet, dass sie die Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014 erneut gewinnen wird. Wie schafft sie das?

Dilma steht für eine Fortsetzung der Regierung Lula, die wichtige Veränderungen und große Sozialprogramme eingeleitet hat. Wenn sie sich zwischen der Arbeiterpartei PT (eher links) und der zentristischen PSDB (eher rechts) entscheiden müssen, wählen viele Menschen weiterhin lieber die PT. Das ziehen sie immer noch einem Sieg der konservativen PSDB vor, die vor Lula regierte und die für Flexibilisierung und Privatisierung steht.

Carla Hirt wird beim BUKO-Kongress in Leipzig (29.5.-1.6.2014) über die Kämpfe für ein Recht auf Stadt in Rio de Janeiro berichten.

Die Fotos

im Schwerpunkt sind aus dem Buch- und Ausstellungsprojekt »SHIFT Brazil 14/16« der FotografInnen Lilly Bosse, Bennie Julian Gay, Cordula Heins, Carolin Klapp, Julia Maria Max, Janine Meyer, Carolin Nowicki, Ariane Pfannschmidt, Caroline Speisser und Djenna Wehenpohl. In ihren Fotos kommentieren und analysieren sie die Umstrukturierungsprozesse im Vorfeld der Fußball-WM und der Olympischen Spiele in Brasilien und bewegen sich dabei zwischen Dokumentation und Inszenierung. Die Publikation erscheint im Juni bei Peperonie Books. Die Ausstellung im Bremer Goethe Theater beginnt am 2. Juli 2014. Nähere Informationen unter www.shift-photoproject.org.