Titelseite ak
Linksnet.de
ak bei Diaspora *
ak bei facebook
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 594 / 20.5.2014

»Schweig' du lieber«

Geschichte Vor 70 Jahren überlebte Argyris Sfountouris das SS-Massaker im griechischen Distomo

Interview: Nina Schulz

Auch 70 Jahre nach dem SS-Massaker im griechischen Distomo haben die Opfer noch keine Entschädigung erhalten. Die Täter sind nie angeklagt oder verurteilt worden. Der Überlebende Argyris Sfountouris berichtet von seinen langen Bemühungen um Anerkennung der geschichtlichen Wahrheit und um Entschädigung.

Deutsche Behörden haben das SS-Massaker im Juni 1944 in Distomo als "nicht NS-Tat" definiert. Wie denkst du darüber?

Argyris Sfountouris: Die deutschen Behörden haben immer wieder behauptet, die Ereignisse in Distomo seien »Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung« gewesen. Kein Kriegsverbrechen, kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern irgendwie seien bei Gefechten mit Partisanen zufällig 218 Zivilisten umgekommen und eine Menge Häuser im Dorf niedergebrannt worden. Dagegen wollte ich mit einer Gruppe aus Distomo klagen. Nicht auf Entschädigungen, sondern auf Wahrheit. Das klingt sehr abstrakt. Aber in Deutschland gibt es das Gesetz gegen die Auschwitz-Lüge. Ich wollte einen Prozess gegen die Distomo-Lüge beantragen. Dann habe ich erfahren müssen, das Gesetz über die Auschwitz-Lüge betrifft ausschließlich Auschwitz. Es gab keine Möglichkeit, gerichtlich gegen die Distomo-Lüge vorzugehen.

Dann hast du auf Entschädigung geklagt?

Erstens muss es die seelische Entschädigung für den Verlust der Eltern in früher Kindheit geben. Zweitens die rein materielle Entschädigung, für das niedergebrannte Haus und den Verlust von Gütern. Der damalige Präfekt von Böotien, dem Distrikt, in dem Distomo liegt, hat von uns allen eine Vollmacht erbeten, um vor griechischen Gerichten auf Entschädigungen gegen die Bundesrepublik zu klagen. Das Oberste Gericht in Griechenland hat befunden, dass die Staatenimmunität für Kriegsverbrechen nicht gelten kann. Meine Schwestern und ich haben auch in Deutschland geklagt, in der Hoffnung, nicht direkt an der Staatenimmunität zu scheitern. Für materielle Entschädigungen haben wir kein Recht bekommen. Aber der deutsche Bundesgerichtshof hat in der Präambel zu seinem Urteil von 2003 gesagt, das Massaker von Distomo sei eines der grausamsten Kriegsverbrechen gewesen. Insofern wurde die Wahrheit über Distomo in Deutschland bekannt. Für uns ist es eine Genugtuung gewesen, dass man ein Kriegsverbrechen nicht einfach wegretuschieren kann. Für die Zukunft und die Nachwelt. Das ursprüngliche Ziel haben wir erreicht. Indirekt.

Eine Entschädigungszahlung an dich und deine Schwestern hat es nicht gegeben?

Nein. Es hat auch nie eine offizielle Entschuldigung gegeben. Wenn Deutschland - sowohl der Staat als auch die Menschen, die den Staat und die Institutionen repräsentieren - nach dem Krieg Reue empfunden hätten, hätte es Prozesse gegen die Täter geben müssen. Und Verurteilungen. Darum geht es für die Nachwelt: um das Wissen, dass gewisse Taten gar nicht erst begangen werden dürften.

Daran hängt für dich eine Forderung?

Bei den Menschenrechten müssten auch die Rechte der Soldaten aufgelistet werden. Nämlich, dass sie verbrecherische Befehle gar nicht befolgen dürfen. Dann könnten sie zum unmenschlichen Drill, der in der Ausbildung stattfindet, »Halt« sagen. »Wenn ihr mich in eine Bestie verwandeln wollt, dann mache ich nicht mit.« Ein allgemeines Recht auf Desertion. Das Gewissen muss die höchste Instanz bleiben. Darin liegt der Sinn von Menschenrechten.

Deiner Meinung nach hat es nie eine Nachkriegszeit gegeben, sondern immer nur Zeiten zwischen den Kriegen.

Wenn ich über das Massaker von Distomo und die Konsequenzen spreche, höre ich immer wieder, Kriege habe es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Wieso denken so viele, der Krieg sei eine Funktion des Menschseins? Dabei hieße doch aus der Geschichte lernen, Kriege zu vermeiden und die Probleme anders zu lösen. Ich denke, es gibt Kriege, weil diejenigen, die Kriege wollen, aus der Geschichte gelernt haben, dass man mit Kriegen Profit machen kann. Wenn aber ein UNO-Gericht sagt, es gibt ein Recht auf Entschädigungen für alle Kriegsopfer, wäre die Folge eines Krieges, zur Kasse gebeten zu werden. Dann wird man eine ganze andere Rechnung anstellen müssen als jetzt, und Kriege würden sich nicht mehr lohnen.

Findest du den Begriff Entschädigungen zutreffend?

Den Begriff Entschädigungen finde ich immerhin besser als das abscheuliche Wort Wiedergutmachung. Das ist gleichbedeutend damit, alle Scheußlichkeiten und Verbrechen als eine heilbare Krankheit anzusehen. Diese Kriegsverbrechen, diese Morde sind etwas Definitives. Die sind nicht wiedergutzumachen. Dass man im Nachkriegsdeutschland - ich weiß nicht, wo es diesen Begriff sonst noch gibt - dieses Wort wählte, ist schon eine Beschönigung für die Geschichte, für das, was im Nationalsozialismus geschehen ist. Dieser Begriff ist der Beginn des Vorwärtsschauens.

Auch eine Formel, die du kritisierst ...

Genau. Man hört immer: »Schau nicht zurück, schau vorwärts, denke vorwärts, mache etwas für deine Zukunft«. Aber wo liegt dieses Vorwärts, wenn es keine Erinnerung gibt? Ich empfinde das wie ein »Schweig' du lieber. Du hast uns nichts zu sagen. Das wollen wir gar nicht hören.« Dagegen wehre ich mich. Mein ganzes Leben lang. Jemand hat mich mal gefragt, welches Bild für mich charakteristisch sei. Es ist das Kinderfoto von mir mit fünf Jahren, mit ganz fest zusammengepressten Lippen. Das tat ich 50 Jahre lang, weil ich gespürt habe, dass niemand etwas davon hören will. Die Opfer sollen also gefälligst den Mund halten. Ihre Erfahrung, ihr Erleben ist nicht gefragt. Ganz im Gegenteil müsste man die Erfahrungen der Kriegsopfer sammeln und publizieren. Sie sind die Weltgeschichte.

In dem Sinne zitierst du Ingeborg Bachmann.

»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.« Diesen Satz hatte ich 1994 bei der Tagung für den Frieden in Delphi meiner Eröffnungsansprache vorangestellt. Dort trafen sich Griechen, Deutsche und Schweizer. Ich fand es wichtig, dass sie auch aus der Feder einer deutschen Dichterin hören, dass die Wahrheit den Menschen zumutbar ist. Es gab einige anwesende Deutsche, die fanden, wir dürfen nicht zu viel erzählen. Wir dürfen die Deutschen nicht schockieren. Aber die Folge solcher Schonung erlebten wir 50 Jahre lang. Wenn wir schon eine Tagung für den Frieden machen, dann nicht, um auf jene Rücksicht zu nehmen, die eben nichts hören wollen.

Schweigen kommt also dem Verschweigen gleich?

Das Verschweigen in Deutschland hat Methode. Die Gerichte nennen das Staatsräson. Es ist eine Möglichkeit, einen neuen Staat aufzubauen ohne ständig an seine Schuld oder die Schuld, die einem die Eltern aufgeladen haben, zu denken. Das ist das eine. Das andere ist die Kameradschaft, die nach dem Krieg unter den alten Soldaten, darunter natürlich sehr vielen Kriegsverbrecher, gepflegt wurde. Niemand durfte über diese Erfahrungen sprechen. Wer aus der Schule plaudert, der ist erledigt. Einzelne haben erst im Todesbett ihren Kindern von ihren Kriegserlebnissen berichtet. Sie haben ein Leben lang schweigend ihre Schuldgefühle mit sich getragen. Erst die Kinder der Täter haben erzählt. Solche Reuearbeit ist nötig. Noch besser wäre es, wenn die Täter selber diese Arbeit leisten. Das ist auch eine Möglichkeit für die Opfer, auf irgendeine Weise zumindest, jemandem persönlich verzeihen zu können. Das Verschweigen ist das genaue Gegenteil.

Das bezeichnest du als »Geschäft des Vergessens«.

Dadurch, dass man »vorwärts« ruft und Schlussstriche will, das ist alles ein Geschäft des Vergessens. Das ist wichtiger als die Besinnung, die Ethik, die Liebe, das »Liebe deinen Nächsten«, um es etwas frommer zu sagen. Das soll man als Letztes tun. Zunächst soll man ans Geschäftliche im ökonomischen Sinne denken. Aber wir müssten auch eine Ökologie der Ethik betreiben. Wenn der Begriff Ökologie die Beziehungen der Lebewesen untereinander und mit ihrer unbelebten Umwelt beschreibt, dann müssten wir nicht nur eine Ökologie der Umwelt betreiben, sondern auch eine Ökologie der Ethik. Denn wir wollen doch nicht eine intakte Umwelt schaffen, die von Barbaren bewohnt wird. Also müssen wir am Menschen arbeiten. Davon wird leider gar nicht gesprochen. Aber genau das verstehe ich unter einer Ökologie der Ethik.

Was für ein Gedenken an Distomo wünschst du dir?

Gedenktage und Feierlichkeiten sind sicherlich notwendig, aber mir ist vor allem das Gedenken abseits dieser Tage wichtig. Dass die nächste und übernächste Generation es weiterträgt und diese Generationen sowohl in Griechenland als auch in Deutschland informiert bleiben. Ich wünschte, dass mein großes Archiv zu diesem Thema, auf Deutsch und Griechisch, zusammen mit anderen ähnlichen Archiven, erst einmal gerettet wird und weiter existieren kann. Dazu braucht es eine Stiftung. Es soll nützlich gemacht werden für die Jugendarbeit, für die Wissenschaft. Es soll ein lebendiges Archiv daraus werden, das die Jugend für ein wirkliches und richtiges Gedenken motiviert und aktiviert. Das ist mein Wunsch. Solange ich noch am Leben bin, kann ich meinen Beitrag leisten. Sonst kann ich leider nicht mehr viel machen. Das muss man einsehen, dass die Möglichkeiten immer kleiner werden, die eigenen Möglichkeiten.

Das Massaker von Distomo

Am 10. Juni 1944 verübte das SS-Panzer-Grenadier-Regiment 7 eines der grausamsten Massaker an der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges. Im griechischen Ort Distomo wurden 218 DorfbewohnerInnen brutal ermordet. Argyris Sfountouris und seine drei Schwestern haben das Massaker überlebt. Er war dreieinhalb Jahre alt, als seine Eltern und 30 seiner Familienangehörigen niedergemetzelt wurden. Argyris Sfountouris wünscht sich, dass sein Distomo-Archiv gerettet wird. Ideen dazu können an die ak-Redaktion gesendet werden.

Kein Recht auf Entschädigung

1995 klagten Argyris Sfountouris und seine Schwestern in der Bundesrepublik auf Entschädigung und Schadensersatz. Die Klage wurde abgewiesen. In Griechenland hatte eine Sammelklage Erfolg: Im Jahr 2000 verpflichtete der Areopag, das höchste Gericht Griechenlands, die Bundesrepublik, eine Summe von insgesamt 28 Millionen Euro Entschädigung an die KlägerInnen aus Distomo zu zahlen. Das ist bis heute nicht geschehen. 2008 erlaubte der oberste Gerichtshof in Italien den Klagenden aus Distomo, ihre Rechtsansprüche gegenüber deutschem Staatseigentum in Italien durchzusetzen. Daraufhin erhob die Bundesrepublik Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wegen Verletzung der Staatenimmunität. 2012 gab der IGH der Bundesrepublik Deutschland Recht. Was wie ein zwischenstaatlicher Disput anmutete, handelte im Kern von individuellen Rechtsansprüchen NS-Überlebender auf Entschädigung. Mit diesem Urteil ist die Möglichkeit für NS-Überlebende auf Entschädigung juristisch versperrt. Das heißt für Sfountouris »Nach dem höchsten UNO-Gericht ist das Recht der Opfer auf Entschädigung kein Menschenrecht!«

Distomo 2014

Am 8. Juni um 19.30 Uhr findet im Ort Distomo die Veranstaltung »Kampf für Entschädigungen und gegen Neonazis in Deutschland und Griechenland« statt. Anschließend gibt es eine Theateraufführung von Klassen der deutschen Schule in Athen und aus Distomo im Theater beim Mausoleum - eine Premiere der Zusammenarbeit. Weitere Informationen dazu: ak-distomo@nadir.org.