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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 594 / 20.5.2014

Nicht bei den Tätern verweilen

Kultur Das Theaterprojekt »Urteile« über die Mordopfer des NSU in München deckt den Rassismus im deutschen Alltag auf

Von Tunay Önder

Ähnlich dem Soziologen Émile Durkheim, der in seinen empirischen Untersuchungen zum Selbstmord in modernen Gesellschaften resümierte, dass sie keine Angelegenheit einzelner, verzweifelter Menschen sei, sondern eine soziale Tatsache, also eine Tatsache, die aus gesellschaftlichen Umständen resultiere und die daher nur aus dieser Perspektive adäquat interpretiert, erklärt und bewertet werden könne - in Anlehnung an diese soziologische Perspektive kann man in Bezug auf die Morde des NSU sagen, dass der Blick nicht einfach bei den TäterInnen verweilen darf. Der Blick darf weder bei den TäterInnen noch bei deren Geschichte, Einstellung und Umfeld verweilen, weil das allein nicht erklären kann, wie die Morde passieren konnten und warum sie nicht unterbunden oder rechtzeitig geklärt wurden.

Die Morde des NSU und die Revue der dazugehörigen Ermittlungsakten und Medienberichte führen exemplarisch vor Augen, dass das Problem nicht allein die rassistischen Morde sind und nicht allein der Rassismus Einzelner oder eines Netzwerkes, so wie es die Anklage gegen ein Trio oder Netzwerk nahe legt. Das Problem ist auch der institutionelle Rahmen und das alltägliche gesellschaftliche Fahrwasser, in denen solche Morde, Anschläge und Übergriffe passieren.

Die Erregung über die Morde und ihre TäterInnen bleibt eine leere Empörung, wenn sie nicht gleichzeitig auf die diskriminierende Routine innerhalb gesellschaftlicher Institutionen wie Polizei, staatliche Behörden, Medien, Schule und andere öffentliche Einrichtungen verweist. So außerordentlich die Morde waren, so un-außerordentlich ist die Allgegenwärtigkeit der Strukturen, Denkmuster und Einstellungen, die den Morden zugrunde liegt.

Ausgeblendet: Die Sichtweise der Angehörigen

In dem dokumentarischen Theaterprojekt »Urteile« steht das Wissen der Hinterbliebenen im Zentrum, die Zielscheibe der rassistischen Morde und Anschläge des NSU gewesen sind. Im Zentrum steht also das Wissen jener Menschen, die diskriminierende Routinen nicht nur im Kontext der Mordermittlungen zu spüren bekommen haben, sondern aus ihrem alltäglichen Leben kennen.

Ihre Perspektive wurde innerhalb der gesellschaftlichen Deutungsmaschinerie, in der Aussagen von Subjekten offensichtlich entlang ihrer ethnischen Einordnung akzeptiert oder ausgeschlossen werden, systematisch marginalisiert. Ihre Ansichten und Stimmen haben kaum einen Zugang gefunden in den gesellschaftlichen Diskurs, in denen Wahrheiten, Wissen, Überzeugungen und Urteile hervorgebracht wurden. Ihre Realität wurde während all der Jahre, in denen ein Fragezeichen über den Morden schwebte, weitgehend ausgeblendet.

Wenn überhaupt, dann wollte man ihre Ansichten als Tatverdächtige hören, als Angehörige eines »migrantischen Milieus«, in dem der TäterInnen vermutet wurde. Die ErmittlerInnen erwarteten zwar nicht, dass sie direkt und offen von den unterstellten kriminellen Geschäften des Mordopfers sprechen, aber zumindest Hinweise und Andeutungen geben würden, die die Vermutungen und Vor-Urteile der Polizei bestätigen könnten. Als die Angehörigen dieser Form der Annäherung ablehnend begegneten, zeigten sich die Medien und Behörden empört und sprachen davon, dass man von den Familien zwar Minztee serviert bekomme, aber keine Antworten.

Für unsere Recherche bestand daher zunächst einmal die Frage, ob wir von Menschen, deren Meinung und Sprachlosigkeit all die Jahre nicht nur nicht ernst genommen, sondern vollkommen falsch und diffamierend ausgelegt wurde, ob wir von diesen Menschen erwarten können, dass sie Vertrauen aufbringen und uns erzählen, was sie denken. Wir sind zunächst einmal davon ausgegangen, dass Menschen, die durch Morde und Anschläge sowie darauf folgende Verdächtigungen und Unterstellungen durch Behörden, Medien und der öffentlichen Meinung gedemütigt und gebrochen wurden, überhaupt nicht sprechen möchten, mit niemandem. Es verhielt sich anders.

Vollkommen an der Realität vorbei

Wir haben beide Familien aus München getroffen und mit den Angehörigen, FreundInnen und ArbeitskollegInnen der beiden Ermordeten Theodoros Boulgarides und Habil K?l?ç gesprochen. Was haben die Hinterbliebenen erlebt? Welche Erfahrungen haben sie gemacht mit den Sicherheitsapparaten, Medien, NachbarInnen, ArbeitgeberInnen, der Schulverwaltung ihrer Kinder? Wie ordnen sie die Verdächtigungen und Demütigungen ein? Was dachten sie damals, was denken sie heute und wie fühlen sie sich überhaupt in Deutschland?

Rückblickend können wir feststellen, dass die Ermittlungen und Medienberichte an der Realität vorbeigingen. Das gilt sowohl für die polizeiliche als auch für die journalistische Recherchearbeit, ganz zu Schweigen von den dubiosen Methoden des Verfassungsschutzes. Man kann fast sagen, dass die Ermittlungen und Recherchen in den Staats- und Medienapparaten weniger re-konstruierend als vielmehr konstruierend waren: Sie haben ihre eigene Wirklichkeit erst geschaffen. Ich dachte bisher, diese Arbeitsweise - zu erfinden, zu fantasieren - sei dem Theater vorbehalten. Nun scheint sich die Sache umzukehren. Denn wir versuchen mit dem Theaterprojekt »Urteile« möglichst nah an der Realität zu bleiben. Nur an wessen Realität?

Es scheint diverse Realitäten oder Parallelwelten zu geben wie beispielsweise die der Medien oder die der Ermittlungsbehörden, in der fast ausschließlich Menschen mit »weißen« Erfahrungen und Perspektiven sitzen. Hier ist ihre Fantasie in Bezug auf bestimmte Menschen, von denen sie womöglich keinen Einzigen je näher kennengelernt haben, besonders groß gewesen und hat über die Morde hinaus viel Schmerzen und Leid ausgelöst.

In »Urteile« konfrontieren wir daher die Realität der Angehörigen mit den Erzählungen der Medien. Wir haben mit JournalistInnen gesprochen, die über die Morde berichtet haben, als noch nicht klar war, wer die TäterInnen sind. Sie betreiben investigativen Journalismus für eines der größten deutschen Nachrichtenmagazine oder schreiben für die Boulevardzeitung. Wie sind die JournalistInnen an das Thema herangegangen? Wie neutral war ihre Berichterstattung? Wie nah ist ihre Verbindung zu den Sicherheitsbehörden? Was impliziert ihre Sprache oder die Verwendung von bestimmten Begriffen? Wen haben sie als glaubwürdige Quelle gewertet, und wen als Tatverdächtige? Wie denken sie rückblickend über ihren Umgang mit den Angehörigen der Opfer im Rahmen ihrer Recherchen und Berichte? Reflektieren sie über ihre Denkmuster?

Gesellschaftliche Ursachen in den Blick nehmen

Wir haben sämtliche Zeitungsartikel und Medienberichte zu den Morden zusammengesucht, die zwischen 2001 und 2010 veröffentlicht wurden. Auffallend war der Schulterschluss zwischen Medien einerseits und den polizeilichen und staatsanwaltlichen Behörden andererseits. Ohne Kommentar und ohne Reflexion wurden die Informationen und Ermittlungsergebnisse der Polizei an die Öffentlichkeit weitergegeben.

So liest man in den Medienberichten immer wieder, wie die Polizei bei den Ermittlungen auf »eisernes Schweigen« im Umfeld der Opfer getroffen sei. Was bedeutet so eine Aussage eigentlich? Warum wurde das Schweigen der Angehörigen nicht ernst genommen? Warum wurde ihnen nicht geglaubt? Stattdessen wurde unterstellt, dass die Angehörigen der Mordopfer mehr wissen, es aber verheimlichen.

Mit Geldbelohnungen wollte man nun insbesondere aus der »türkischen Community« Informationen holen. Fast lobend berichteten Medien von der akribischen Arbeit der Polizei: Bis in die Türkei würde unter Verwandten gefahndet, »Hunderttausende Daten, vor allem Namen seien miteinander abgeglichen, Passagierlisten von Türkeiflügen rund um die Tatzeiten« ermittelt worden.

In den Zeitungen kursierte der Fahndungsaufruf der Polizei mit einem Phantombild eines jungen Mannes mit dichtem dunklen Haar, dunklen Augen, dunklen Brauen und einem »Mongolen-Bart«, darunter stand: »Gesucht wird nach einem südländischen Typ«. Einige Monate später schreibt ein Journalist schließlich, dass es sich um Profis handle, »die möglicherweise extra aus der Türkei eingeflogen werden für ihre Tat«.

Wie kann es sein, dass an entscheidenden Stellen der Gesellschaft klischeehafte und vorurteilsbeladene Bilder nicht nur reproduziert, sondern aktiv mitgestaltet und verbreitet werden. Wie kann es sein, dass der Ausdruck »Döner-Morde« durch die Medien wabert, ein Ausdruck, der die Morde nicht nur verharmlost und die Gruppe von Türken oder Deutschtürken, auf die er sich bezieht, abwertet, sondern gleichzeitig suggeriert, dass keine Menschen, sondern Döner getötet worden wären.

So sehr der brutale Mord an einem geliebten Menschen die Angehörigen erschüttert und traumatisiert hat, so wenig hat die Entdeckung des rassistischen Tatmotivs die Angehörigen überrascht. Die Morde waren die extremste Variante einer rassistischen Einstellung, deren abgeschwächte, salonfähige, strukturelle, unsichtbare und subtile Form alle Angehörigen der Mordopfer tagtäglich erfahren haben - vor, während und nach den Anschlägen.

Nach dem Ende eines langen Prozesses am Münchner Landgericht, nach Verurteilung der Hauptangeklagten und ihrer MithelferInnen, wird sich nichts verändert haben, wenn nicht ernsthaft und folgenreich die gesellschaftlichen Umstände, Strukturen, Funktions- und Handlungsweisen überdacht und verändert werden, unter denen die Morde nicht nur nicht aufgedeckt, sondern unter denen die Angehörigen diskriminiert wurden und unter denen die Zielgruppen rassistischer Anschläge weiterhin diskriminiert werden.

Tunay Önder ist Soziologin und schreibt auf dem Blog migrantenstadl, dasmigrantenstadl.blogspot.de.

Der Text ist im Rahmen der Produktion »Urteile« am Residenztheater München entstanden und wurde erstmals im Programmheft veröffentlicht.

Dokumentartheater über die Opfer des NSU

Es geht um Angst, verletzte Gefühle, Klischees und Vorurteile: Am 10. April 2014 wurde im Marstall Christine Umpfenbachs Theaterprojekt »Urteile« über die Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) in München uraufgeführt. Das Stück befasst sich mit der Perspektive der Angehörigen von Habil K?l?ç und Theodoros Boulgarides und verdeutlicht, warum die Entdeckung des rassistischen Tatmotivs die Hinterbliebenen nicht überraschte. Habil K?l?ç wurde am 29. August 2001 in seinem Obst- und Gemüseladen in München-Ramersdorf erschossen. Als Tatmotiv galt »organisierte Kriminalität«. Am 15. Juni 2005 starb Theodoros Boulgarides in seinem Geschäft in München-Westend. »Eiskalt hingerichtet - das siebte Opfer. Türken-Mafia schlug wieder zu«, stand in den Medien. Die betroffenen Familien wurden nach den Morden von den Sicherheitsbehörden, Medien, aber auch von ihrem unmittelbaren Umfeld zehn Jahre lang zu Unrecht verdächtigt. Tunay Önder hat für dieses Stück recherchiert, das die Situation der Angehörigen während der zehn Jahre zwischen den Jahren 2000 und 2010 behandelt.