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Argentinien ist zahlungsunfähig
Anfang August war Argentinien »technisch zahlungsunfähig«. Ratingagenturen stuften das Land deshalb als »bedingt zahlungsunfähig« ein. Die Zuspitzung in den letzten Wochen ist jedoch kaum zu verstehen, wenn man nicht weiß, was sich vor über zehn Jahren abspielte. Ende 2001 war in Argentinien fast alles, was Beine hat, auf den Straßen - mit Kochtöpfen und trotz erklärtem Ausnahmezustand. Es folgten Streiks, Straßenkämpfe, Plünderungen und Fabrikbesetzungen. Anfang Dezember 2001 hatte der IWF Hilfen für fällige Kredite verweigert - eine Kapitalflucht setzte ein und Mitte Dezember verhängte die Regierung eine allgemeine Bankkontensperre, ein Staatsbankrott zeichnete sich ab. Die argentinische Zentralbank konnte nicht als »lender of last resort« (Kreditgeber letzter Instanz) einspringen und Geld drucken, weil der Peso seit den 1990ern an den US-Dollar gekoppelt war. Umgekehrt hätte eine Auflösung dieses sogenannten Currency Boards auch nicht geholfen, denn eine eintretende Pesoabwertung hätte die Auslandsschulden nur verteuert, die vor allem auf US-Dollar liefen. Die argentinische Regierung trat - auch aufgrund des Drucks von der Straße - die Flucht nach vorne an und setzte die Bedienung der Staatsschulden aus. Nach dem Aussetzen der Zahlungen kündigte Argentinien 2003 einen Schuldenschnitt an: Private Gläubiger müssten auf einen großen Teil ihrer ursprünglichen Einlagen verzichten.
Bis 2001 galt Argentinien als Musterknabe. Privatisierungen, Liberalisierung und eine verstärkte Orientierung auf den Export waren ganz nach dem Geschmack des IWF. Grundlage des Wirtschaftswachstums war ein Kapitalzufluss (auch dank der vorangegangenen Asienkrise). Drohte dieser auszubleiben, verschuldete sich der Staat im Ausland. Die US-Verbindlichkeiten wuchsen auf fast 180 Milliarden US-Dollar. Diese Auslandsschulden und die Umstrukturierungen ab 2003 sind der Ausgangspunkt der aktuellen »Pleite«. Zwar hat ein sehr großer Teil der Gläubiger der Umschuldung und dem Schuldenschnitt zugestimmt, ein kleiner Teil jedoch nicht. Und die haben es jetzt eilig, denn in der Umschuldungsvereinbarung wurde in einer Klausel festgelegt, dass ab dem 1. Januar 2015 die Umschuldung nicht mehr rückgängig zu machen ist - alle Klagen oder Neuverhandlungen sind damit unmöglich. Das ist auch ein Grund, warum es die in der Presse oft genannten Hedgefonds derart eilig haben.
Für NML Capital Management und Aurelius Capital Management, die zu Elliott Management gehören, einem der größten US-Finanzfonds, gehören derartige Vorfälle zum Geschäftsmodell. Nicht ohne Grund kann sich der Fonds mit einem jährlichen Profit von fast 15 Prozent brüsten. Eine derartige Gewinnmarge ist nur möglich, wenn man (wie 2001 in Argentinien) eigentlich wertlose Papiere billig einkauft (etwa für 15 Cent je US-Dollar Nennwert), bei einer Umschuldung nicht mitmacht und dann juristisch auf die komplette Rückzahlung des Nennwerts pocht (auf den einen US-Dollar, den man für 15 Cent gekauft hat). Im Fall Argentinien würde das bedeuten, dass die Hedgefonds etwa 1.600 Prozent Gewinn machen würden.
Die eigentliche Arbeit bei diesem Geschäftsmodell ist ein jahrelanger Rechtsstreit. Paul Singer, der Chef von Elliott Management, hat in den letzten Jahren auch versucht, was bei säumigen Schulden üblich ist: Pfändung. Überall auf der Welt versuchte er, argentinisches Vermögen beschlagnahmen zu lassen. Der Konflikt um die Pfändung eines Marineschulschiffs landete sogar vor dem Internationalen Seegerichtshof in Hamburg - und wurde abgewiesen.
Nur technisch zahlungsunfähig ist Argentinien deshalb, weil ein Gericht in den USA (Gerichtsstandort der Anleihen) entschieden hat, dass die Anleihen ohne Abschlag ausgezahlt werden müssen - und zwar bevor die anderen Gläubiger, die beim Schuldenschnitt mitgemacht haben, ihr Geld bekommen. Gelder auf US-Konten wurden auf Anweisung des Gerichts eingefroren. Der Aufschrei war groß - nicht nur bei den Gläubigern, die auf ihr Geld warten, sondern natürlich auch in Argentinien. Soziale und politische Folgen wie Ende 2001 sind jedoch kaum zu erwarten, ebenso wenig ein internationales Insolvenzrecht (Sovereign Debt Restructuring Mechanism, SDRM), wie es seit Jahren gefordert wird. Der letzte Vorstoß im Rahmen des IWF wurde u.a. auf Druck der USA nicht weiter verfolgt. Bereits 1932 hielt der Finanzsoziologe Herbert Sultan zurecht fest: »Nicht der Schuldner ist die entscheidende Figur bei den Anleihen des Schuldnerstaates. Gewiss ist sein Verhalten für seinen Kredit nicht unwesentlich, ja sogar von sehr großer Bedeutung; aber von welcher Bedeutung es ist, darüber entscheidet eben nicht der Schuldnerstaat, sondern darüber entscheiden seine Gläubiger.« Oder eben deren Gerichte.
Ingo Stützle