Mord als Mission
International Der Aufstieg der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Irak und Syrien
Von Harald Etzbach
Sie steinigen »EhebrecherInnen«, ermorden Andersgläubige und politische GegnerInnen auf brutalste Weise und gehen mit Vorliebe gegen die BasisaktivistInnen und Organisationen der Opposition vor. Die dschihadistische Terrororganisation Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS), die sich seit kurzem nur noch Islamischer Staat (IS) nennt, steht für ein absolut atavistisches Verständnis des Islam. Die vermummten Gestalten unter der schwarzen Fahne mit der Schahada (dem islamischen Glaubensbekenntnis) hantieren mit modernen Hightech-Waffen. Sie produzieren professionelle Propagandavideos, und ihre militärischen Kampagnen dokumentieren sie akribisch in einem Report, der nach Art eines Geschäftsberichts die Erfolge der Organisation für mögliche Investoren auflistet. (1)
In der westlichen Presse wurde IS zum ersten Mal wahrgenommen, als diese ursprünglich aus dem Irak stammende Organisation im April 2013 als neue radikalere Konkurrenzorganisation des al-Qaida-Ablegers Jabhat al-Nusra in Syrien auftauchte. Jabhat al-Nusra hatte zuvor ihre Zugehörigkeit zu al-Qaida aus taktischen Gründen geheim gehalten, jetzt wurde diese Verbindung offen von Abu Bakr al Baghdadi, dem Führer von IS, in einer Radioansprache verkündet. Zugleich gab al-Baghdadi die Vereinigung der beiden Organisationen unter seiner Führung bekannt. Al-Nusra wies diese Erklärung zurück und wandte sich an Aiman al-Zawahiri, den Anführer von al-Qaida, mit der Bitte um Vermittlung. Al-Zawahiri antwortete zwei Monate später in einem privaten Brief, der im arabischen Programm des katarischen Nachrichtensender al-Jazeera veröffentlicht wurde. Darin wird die Vereinigung der beiden Gruppen abgelehnt und al-Baghdadi angewiesen, im Irak zu bleiben. Al-Nusra wird als offizielle al-Qaida-Gruppe in Syrien bestätigt. Al-Baghdadi ignorierte diese Anordnungen mit der Begründung, hiermit werde die koloniale Grenzziehung zwischen dem Irak und Syrien anerkannt. Im Folgenden spaltete sich al-Nusra, wobei insbesondere die nicht-syrischen Kämpfer sich der radikaleren IS anschlossen.
Ab dem Sommer 2013 brachte IS systematisch Gebiete insbesondere im syrischen Nordwesten unter seine Kontrolle, wobei die Organisation faktisch niemals gegen Truppen des Assad-Regimes kämpfte, sondern ausschließlich gegen die Freie Syrische Armee (FSA) und andere Gruppen des Widerstands. IS gelang es hier, an verschiedenen Orten »Emirate« einzurichten. In diesen beseitigte IS die durch die Opposition eingerichteten Strukturen der zivilen und militärischen Verwaltung und zwang der Bevölkerung eine extrem reaktionäre Form des Islam auf.
Wie wenig IS in der lokalen Bevölkerung verankert war, zeigte sich im Januar 2014, als es FSA-Brigaden trotz ihrer militärischen Unterlegenheit gelang, IS innerhalb eines Monats aus einem Großteil der Provinzen Aleppo, Idlib und Latakia zu vertreiben.
Der militärischen Kampagne waren intensive Kontakte der FSA zur Bevölkerung vorausgegangen, mit dem Ziel, lokale UnterstützerInnen des IS (die oftmals nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus materiellen Gründen oder auch einfach aus Angst mit den Dschihadisten kooperierten) von der Mehrheit der nicht-syrischen IS-Kämpfer zu trennen. Diese Strategie ging auf, und IS zog sich ostwärts in Richtung Raqqa zurück.
Der IS-Feldzug gegen die syrische Opposition
In der Provinz Raqqa (mit der gleichnamigen Hauptstadt, die im Mai 2013 eingenommen wurde) hat sich IS bis heute festgesetzt. Trotz mutiger Proteste der Bevölkerung scheint die Herrschaft der Islamisten hier bisher stabiler zu sein als im Nordwesten. Auch von Seiten es Assadregimes schien IS zunächst nicht viel zu befürchten zu haben. Bei den häufigen Luftangriffen auf die Stadt wurde das IS-Hauptquartier im ehemaligen Gebäude der Provinzverwaltung auffälligerweise bisher verschont; die Opfer waren zumeist ZivilistInnen.
Der Erfolg des IS in Raqqa hängt zum Teil damit zusammen, dass es hier tatsächlich eine gewisse Unterstützung durch regionale Stammesstrukturen gibt. Zwar war Raqqa eine Zeitlang die einzige von der Opposition verwaltete syrische Provinzhauptstadt, doch galt die Provinz lange Zeit als Hochburg der syrischen Baath-Partei von Präsident Baschar al-Assad. Mit einer geschickten Spaltungspolitik war es dem Assadregime gelungen, das traditionelle Stammessystem zu schwächen und sich selbst als entscheidenden Machtfaktor zu etablieren. Mit der Erosion des Regimes brachen diese Strukturen weg, und im entstandenen Machtvakuum verbündeten sich die diversen Clans und Stämme zur Sicherung ihrer Interessen mit der Macht, die im jeweiligen Augenblick gerade militärisch die stärkste war.
Es ist daher kein Zufall, dass genau jene Stämme, deren VertreterInnen Baschar al-Assad im August 2011 einen Treueid leisteten, im Oktober 2013 IS öffentlich ihre Unterstützung zusagten. (2) Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass gerade jener lokale Clan, der zu den engsten Verbündeten des Assadregimes gehörte (der Bariaj-Clan) und der einen bedeutenden Teil der lokalen Pro-Assad-Milizen stellte, heute in Raqqa zu den wichtigsten Unterstützern des »Islamischen Staates« gehört.
Von Syrien in den Irak
Vor diesem Hintergrund konnte Raqqa Mitte Juni Ausgangspunkt eines Feldzugs werden, bei dem IS in den Irak eindrang und schließlich Mossul sowie die irakischen Provinzen Ninive, Salahaddin und Anbar eroberte. Das zeitweilige Bündnis von IS und irakischen Baathisten (3), das zum Erfolg des IS im Irak zunächst wesentlich beitrug, scheint sich inzwischen aufgelöst zu haben. Dennoch haben sich den Dschihadisten im Irak offenbar auch viele sunnitische Kämpfer angeschlossen. Sie teilen die radikalen Ansichten der Islamisten zwar nicht, wollen aber gemeinsam mit ihnen gegen die schiitische Maliki-Regierung in Bagdad kämpfen.
Die konfessionelle Spaltung des Irak in ihrer heutigen Form ist eine direkte Folge der Politik der USA nach 2003. Die unter US-Kontrolle stehende provisorische Regierung des Irak war von Anfang an nach ethnisch-konfessionellen Prinzipien organisiert, und die USA setzten zunehmend auf eine Clique von PolitikerInnen schiitischer Parteien. Saddam Hussein hatte die schiitische Bevölkerungsmehrheit des Irak unterdrückt, jetzt nutzen einige ihrer Führer die Kooperation mit der Besatzungsmacht dazu, repressiv gegen die sunnitische Minderheit vorzugehen. Ein trauriger Höhepunkt war das Jahr 2006, als beinahe 35.000 ZivilistInnen bei konfessionellen Kämpfen getötet wurden.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die IS-Dschihadisten bei ihrem Irak-Feldzug schwere US-Waffen aus Beständen der irakischen Armee, darunter auch Black-Hawk-Hubschrauber und anderes Fluggerät erbeuteten, nachdem die USA der Freien Syrischen Armee seit Jahren die Lieferung schwerer Waffen mit der Begründung verweigern, diese könnten in die Hände radikalislamischer Kräfte fallen. Die Islamisten erbeuteten jedoch nicht nur Waffen, sondern auch 600 Millionen Dollar in verschiedenen Banken in Mossul.
Vermögende Dschihadisten
IS hatte allerdings auch zuvor keine Finanzierungsprobleme. Auf Speichersticks, die die irakische Armee kurz vor dem Sturm des IS auf Mossul sicherstellte, fanden sich unter anderem die vollständigen Finanzdaten der Organisation. (4) Demnach besaß IS ein Vermögen von 875 Millionen Dollar, zusammengeraubt aus dem Verkauf antiker Kunstschätze, aus Lösegeldern, Schutzgelderpressungen und Grenzzöllen. Auch der Verkauf von Öl aus den von IS besetzten Gebieten im Norden und Osten Syriens an das Regime in Damaskus hat Geld in die Kassen der Organisation gespült. Diese Art der Kooperation hatte das Assad-Regime bereits mit al-Nusra betrieben. Nach Schätzungen der syrischen Opposition werden in den von IS kontrollierten Ölfeldern zurzeit etwa 100.000 Barrel gefördert - ausreichend, um den dschihadistischen Kampf noch lange Zeit zu finanzieren.
Die Geschichte der Kooperation zwischen dem Assadregime und den Dschihadisten reicht jedoch noch weiter zurück. Das Regime hatte einen wesentlichen Anteil an der Entstehung islamistischer Gruppen wie al-Nusra und IS. Nach dem Einmarsch der USA in den Irak 2003 verfolgte Syrien eine zweischneidige Politik: Einerseits wurden Islamisten im Auftrag der CIA in syrischen Gefängnissen gefoltert, andererseits sorgte das Regime in Damaskus für die Unterstützung und Ausrüstung islamistischer Gruppen, die im Irak gegen die Besatzung kämpfen sollten. Jene von ihnen, die nach Syrien zurückehrten, wurden umgehend in das berüchtigte Sednaya-Gefängnis geworfen, um dann Jahre später, zu Beginn der Revolution im März 2011, plötzlich wieder entlassen zu werden. Genau diese Dschihadisten wurden dann sehr schnell zu Anführern islamistischer Brigaden, darunter solchen der al-Nusra und auch des IS. Zugleich wurden demokratische Aktivisten und dialogbereite Vertreter der Opposition eingekerkert und ermordet. Das Regime, das die Proteste als eine internationale terroristische Verschwörung darstellte, tat also alles dafür, um seine Behauptung Wirklichkeit werden zu lassen.
Auch wenn es nach dem Fall von Mossul zum ersten Mal zu Angriffen der Regimetruppen auf IS- Stützpunkte gekommen ist (sei es, um einen allzu großen Einfluss der Organisation zu verhindern, sei es auf Drängen Irans), so war es doch das Assadregime, das die Entstehung von IS am unmittelbarsten gefördert und das am meisten von dessen Terror gegen die Bevölkerung und die bewaffneten Einheiten der Opposition profitiert hat.
Nachdem IS nicht zuletzt mit Hilfe der im Irak eroberten US-Waffen große Teile der Provinz Deir ez-Zor in seine Gewalt gebracht hat, kontrolliert die Organisation nun bereits 60 Prozent der syrischen Erdölfelder. Anfang August bedrohte IS die kurdische Enklave in Kobane, im Nordirak haben die Dschihadisten einen Großteil der Andersgläubigen und politischen GegnerInnen vertrieben. In Mossul gibt es zum ersten Mal seit 2.000 Jahren keine ChristInnen mehr, und in Sindschar und anderen von Angehörigen der religiösen Minderheit der Yeziden bewohnten Städten haben die Dschihadisten nach Angaben von MenchenrechtlerInnen Massaker verübt.
IS ist aber nicht unbesiegbar. Das haben die Erfahrungen aus Aleppo und Idlib gezeigt, wo es Gruppen der syrischen Opposition gelang, IS zu verjagen. Auch in einigen Orten der Provinz Deir ez-Zor haben lokale Gruppen erfolgreich begonnen, mit Waffengewalt gegen IS vorzugehen. Der Schlüssel zum Kampf gegen IS liegt in der Unterstützung der demokratischen Opposition in Syrien, die sich in einem verzweifelten doppelten Abwehrkampf gegen die Dschihadisten des IS auf der einen, gegen das Assadregime und seine Verbündeten auf der anderen Seite befindet. Während die internationale Aufmerksamkeit gerade auf die Eroberungszüge des IS im Nordosten Syriens und im Nordirak gerichtet ist, nehmen Truppen des Assadregimes und IS-Einheiten Aleppo in die Zange und drohen, jene zu ermorden, die die Stadt Anfang des Jahres von den Dschihadisten befreiten. Eine breite internationale Kampagne der Solidarität ist dringender denn je - mit Kobane und der yezidischen Bevölkerung von Sindschar ebenso wie mit den Menschen in Raqqa, Aleppo und im Palästinenserlager Yarmouk bei Damaskus, das seit Monaten von syrischen Regimetruppen belagert wird.
Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und lebt als Übersetzer und Journalist in Berlin.
Anmerkungen:
1) www.huffingtonpost.co.uk/2014/06/18/iraq-crisis-7-facts-isis-annual-report_n_5506255.html
2) Beide Zeremonien sind auf Youtube dokumentiert: www.youtube.com/watch?v=CPgLh0--Atg; www.youtube.com/watch?v=-q4rfodQz-c.
3) Die irakische Baath-Partei war die Regierungspartei Saddam Husseins; ihre Überreste operieren heute aus dem Untergrund. Die irakische und syrische Baath-Partei haben ihre Wurzeln beide in der panarabischen Ideologie des Baathismus, der seit Anfang der 1940er Jahre einen säkularen, arabischen Nationalismus und Sozialismus propagierte.
4) www.theguardian.com/world/2014/jun/15/iraq-isis-arrest-jihadists-wealth-power