Titelseite ak
Linksnet.de
ak bei Diaspora *
ak bei facebook
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 596 / 19.8.2014

Die Angst ist groß

International Ein Bericht aus Sulaimania, Kurdistan-Irak

Von Karin Mlodoch

Anfang Juni 2014 brachte die Al-Qaida-Abspaltung »Islamischer Staat im Irak und der Levante« (ISIL) die nordirakische Groß- und Erdölstadt Mossul und zahlreiche weitere Städte in den Provinzen Ninive, Salahaddin und Baquba/Dyala unter ihre Kontrolle, rief einen Kalifatsstaat aus und nannte sich fortan IS - Islamischer Staat. Seither wüten die schwarz vermummten Djihadisten in den eingenommenen Gebieten, installieren Sharia-Gerichte und bedrohen ChristInnen, die nicht zum Islam konvertieren wollen, mit dem Tod.

Der schnelle Vormarsch der Djihadisten im Irak und der kampflose Rückzug der irakischen Armee kamen nicht ganz überraschend: Schon im Januar 2014 hatte die ISIL die Kontrolle in den Städten Falluja und Ramadi in der arabisch-sunnitisch dominierten Provinz Anbar übernommen. Militärische Unterstützung bekamen sie dort von sunnitischen Stammesverbänden und Milizen - von denen einige noch 2007 von den USA aufgerüstet wurden und an deren Seite gegen Al Qaida kämpften - und der sogenannten Naqshbandi-Armee um den ehemaligen zweiten Mann des Baath-Regimes: Izzat al-Duri.

Das Erstarken dieser Allianz und der Zuspruch, den sie aus Teilen der sunnitischen Bevölkerung bekommen, sind das erschreckende Ergebnis der jahrelangen ethnisch-religiösen Spaltungspolitik im Irak. Die US-Administration, die heute so vehement eine Regierung der nationalen Einheit fordert, hatte nach der Militärinvasion und dem Sturz des Baath-Regimes 2003 selbst die Trennungslinien zwischen arabisch-sunnitischen, schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen zum politischen Organisationsprinzip erhoben: Die US-Übergangsverwaltung CPA unter Paul Bremer bildete eine Übergangsregierung und ein irakisches Parlament nach ethnisch-religiösem Proporz. In den letzten Jahren hatte sich die irakische Regierung unter dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki zunehmend zu einem autokratischen Regime entwickelt und die systematische Ausgrenzung der arabisch-sunnitischen Bevölkerung auf die Spitze getrieben.

Auch die Konflikte zwischen der Al-Maliki-Regierung in Bagdad und der Kurdischen Regionalregierung hatten sich in der letzten Zeit zugespitzt. Bereits mehrfach drohte der Streit um die umstrittene Stadt Kirkuk und die eigenständige kurdische Erdölförderung in eine militärische Konfrontation umzuschlagen; seit Anfang 2014 blockierte und verzögerte die Regierung in Bagdad die Überweisung von Mitteln aus dem Staatshaushalt in die kurdische Region.

Warnungen vor einer ethnisch-religiösen Spaltung

Seit Jahren haben zivilgesellschaftliche, Frauen- und Menschenrechtsgruppen im Irak vor der zunehmenden ethnisch-religiösen Spaltung und Islamisierung der irakischen Gesellschaft gewarnt und eine breite multiethnische Koalition für einen laizistischen demokratischen Staat gefordert. Der Vormarsch der IS-Truppen ist nun eine albtraumhafte Bestätigung ihrer Mahnungen. In einem Interview mit dem Radiosender NPR am 1. Juli 2014 brachte Hanna Edgar, Frauenrechtsaktivistin der Al Aal Association in Bagdad, ihr Entsetzen und die Hoffnung auf eine breite gesellschaftliche Koalition gegen die ISIL zum Ausdruck: »No way to ISIS in Irak - no way - no way.«

Aber eine landesweite Koalition gegen die IS blieb aus. Al-Maliki erteilte US- und internationalen Forderungen nach der Beteiligung arabisch-sunnitischer Kräfte an der Regierung eine Absage und setzte stattdessen auf die Hilfe des Iran und des höchsten schiitischen Geistlichen im Irak, Großayatollah al-Sistani, der schiitische junge Männer zum Kampf aufrief. Die kurdische Regionalregierung verweigerte al-Maliki jede Unterstützung und nutzte stattdessen den Zusammenbruch der irakischen Armee, um ihre Kontrolle auf die bisher umstrittenen Gebiete und Städte wie Kirkuk und Khanaqin auszuweiten. Der kurdische Präsident Massud Barzani kündigte ein Referendum für die staatliche Unabhängigkeit Kurdistans an.

Angesichts der jahrzehntelangen Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung im Irak und der bisherigen Erfolge bei der politischen und ökonomischen Stabilisierung der kurdischen Region erfuhr die kurdisch-nationale Antwort auf den Vormarsch der IS breite Unterstützung in der kurdischen Bevölkerung. Auch auf internationaler Ebene gab es einen plötzlichen Sympathieschub für die kurdische Unabhängigkeit.

Aber es gab auch Dissens innerhalb der kurdischen Parteienlandschaft: Während die Demokratische Partei Kurdistans von Massud Barzani (DPK) für eine Nichteinmischung in die Kämpfe mit der IS plädierte und an der staatlichen Unabhängigkeit arbeitete, rief die Patriotische Union Kurdistans von Jalal Talabani (PUK) zum Kampf auf und lieferte sich Gefechte mit IS an der Südostgrenze der kurdischen Region; dies allerdings nicht zuletzt auf Druck ihres langjährigen Bündnispartners Iran, der den KurdInnen mit Einmarsch drohte, sollten sie die Regierung al-Maliki weiterhin nicht unterstützen.

Am 3. August 2014 erfuhr der kurdische Höhenflug ein jähes Ende: In wenigen Stunden überrollten IS-Kämpfer die im kurdisch verwalteten Gebiet gelegenen Städte Sinjar und Shangal, Zentren der yezidischen Religionsgemeinschaft. Tausende in der Region stationierte kurdische Peshmerga hatten dem nichts entgegenzusetzen. Hunderte yezidischer Männer wurden grausam ermordet, Hunderte Frauen von den IS-Kämpfern verschleppt. An die 40.000 YezidInnen flohen in Panik in das nahegelegene Sinjar-Gebirge und harrten dort tagelang in glühender Hitze ohne Wasser und Nahrung aus. Dutzende Kinder verdursteten dort; die Bilder der von der Hitze verbrannten Gesichter der Eingeschlossenen gingen um die Welt.

Indes rückte IS weiter Richtung Erbil vor. Es waren vor allem KämpferInnen der türkisch-kurdischen PKK und der syrisch-kurdischen YPG, denen es gelang, zu den YezidInnen im Sinjar-Gebirge vorzudringen. Kurdistan-Irak schien hingegen wie erstarrt. Es herrschten Schock und Entsetzen, aber auch Häme und parteipolitisches Gezänk über die schwache Kampfmoral der Peshmerga.

Am Morgen des 8. August griffen die USA ein: Die US-Luftangriffe auf IS-Stellungen wurden in Kurdistan-Irak mit großer Erleichterung begrüßt und brachten Bewegung in die Situation: Alle kurdischen Parteien unterstellten ihre Peshmerga-Verbände dem von der Goran-Bewegung geführten Peshmerga-Ministerium. Irakisch-kurdische Peshmerga kämpfen nun Seite an Seite mit PKK/YPG-KämpferInnen zwischen Erbil und Mossul gegen die IS-Verbände und werden durch Luftangriffe der US- und der irakischen Armee unterstützt.

Vom unabhängigen kurdischen Staat ist hier zurzeit nicht mehr die Rede. Stattdessen wird nun die herausragende Rolle der Kurden bei der Bekämpfung des Terrorismus unterstrichen und die umfassende internationale Unterstützung, die Kurdistan nun angesichts dieser »Speerspitzenrolle« genießt: Tatsächlich sind die bewilligten Waffenlieferungen aus USA, Frankreich, Großbritannien und der EU ebenso wie finanzielle und humanitäre Hilfe »unterhalb der Waffenlieferungen« wie aus Deutschland für die KurdInnen nicht nur konkrete Unterstützung im Kampf gegen IS, sondern mehr als alle Unabhängigkeitsreferenden Riesenschritte zur Staatlichkeit.

Zweifellos hat zurzeit das Zurückdrängen der IS mit allen Mitteln Priorität und dabei benötigt die kurdische Regierung jedwede Unterstützung. Ebenso unbestreitbar braucht sie Hilfe bei der Bewältigung der immensen Flüchtlingsströme. An die zwei Millionen Menschen sind zurzeit allein in der kurdischen Region in Bewegung: arabische, kurdische, turkmenische, assyrisch-christliche und yezidische Familien aus dem Nord- und Zentralirak. Die kurdischen Städte platzen aus allen Nähten; an den Stadträndern schießen die Zeltlager aus dem Boden. Mieten, Lebensmittel- und Benzinpreise steigen. Die Angst vor einem Einsickern von IS-Kämpfen mit den Flüchtlingen ist groß. Schon gab es in Sulaimania eine kleine Demonstration für die Begrenzung des Zuzugs von arabischen Familien; ebenso aber auch eine zivilgesellschaftliche Gegeninitiative, die sich solcherart aufkeimendem Rassismus entgegenstellt.

Ein Erfolg gegen die IS ist bislang nicht in Sicht

Der fast ausschließliche Fokus auf Kurdistan auch in der deutschen Mediendebatte verstellt aber den Blick auf die anderen Brennpunkte im Irak. Neben der Front in Mossul gibt es eine zweite im Südosten der kurdischen Region, die an die arabisch-sunnitischen Provinzen Baquba, Salahaddin und Anbar grenzt. Hier wüten die IS-Banden schon seit Januar 2014 derart, dass sich selbst die anfangs mit ihnen verbündeten Ex-Baathisten und viele der arabisch-sunnitischen Stämme inzwischen distanzieren. Zwischen der kurdisch kontrollierten Stadt Khanaqin und der teilweise von IS besetzten 20 Kilometer entfernten Stadt Jawlala kämpfen seit Wochen kurdische Peshmerga Seite an Seite mit der PKK und irakischer Unterstützung gegen die permanenten Vorstöße der IS.

Auch in Bagdad ist die Situation dramatisch. Hier fürchten die Menschen nicht nur den Vormarsch der IS; der Zusammenbruch der irakischen Strukturen und die massive Präsenz schiitischer Milizen in der Stadt haben ein Klima der Rechtlosigkeit geschaffen, das für alle laizistischen, zivilgesellschaftlichen Kräfte sowie Frauen- und MenschenrechtsaktivistInnen eine Bedrohung ist. Das Erstarken der IS hat insgesamt extremistische Positionen gegen Frauen gestärkt. Mitte Juli wurden in Bagdad 29 Prostituierte in einem Bordell ermordet; die Täter schrieben an die Wand »Das ist, was mit Prostituierten passiert«. Es gab keinerlei staatliche oder polizeiliche Reaktion auf die Morde.

Mit der Verbindung aus menschenverachtender Ideologie, grausamer Brutalität, grenzüberschreitenden Aktivitäten (nicht nur in Syrien und Irak, sondern global) und dem Besitz hochmoderner erbeuteter Waffen ist die IS eine Bedrohung für die gesamte Bevölkerung der Region. Mit internationaler Unterstützung können die KurdInnen die IS möglicherweise militärisch zurückschlagen. Um ihnen aber im Irak langfristig das Wasser abzugraben, muss der seit Jahren stagnierende gesamtirakische politische Prozess wiederbelebt werden.

In diesem Kontext sind die aktuellen Veränderungen an der irakischen Staatspitze eine gute Nachricht. Nach langem, krankheitsbedingten Ausfall des kurdischen Staatspräsidenten Talabani hat nun Fuad Masum, ebenfalls Kurde von der Patriotischen Union Kurdistan, das Amt übernommen. In der Nacht zum 15. August erklärt al-Maliki seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit. Der von seiner Fraktion benannte Nachfolger Haidar al-Abadi, sein langjähriger Berater, markiert eher einen Gesichts- als einen Politikwechsel. Dennoch ist mit al-Malikis Abtritt nun der Weg frei für erneute Verhandlungen zwischen kurdischer Regionalregierung und irakischer Regierung und - so ist zu hoffen - einer gemeinsamen Strategie gegen den »Islamischen Staat«.

Karin Mlodoch ist Psychologin und Gründungsmitglied des Vereins HAUKARI e.V.

HAUKARI e.V. leistet zusammen mit medico international Nothilfe in Zeltlagern in Khanaqin mit überwiegend arabisch-sunnitischen Flüchtlingen, die keine familiäre Unterstützung oder Bürgen in Kurdistan-Irak haben. (www.haukari.de)