Titelseite ak
Linksnet.de
ak bei Diaspora *
ak bei facebook
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 597 / 16.9.2014

United Neighbours

Stadt & Protest Die Kämpfe von Geflüchteten und die gegen Zwangsräumungen weisen wichtige Gemeinsamkeiten auf

Von Refugee Strike Berlin und dem Bündnis Zwangsräumung Verhindern

Proteste gegen Mietsteigerungen und Zwangsräumungen sowie die Geflüchtetenproteste haben in den letzten Jahren an Intensität zugenommen und zeigen über die linke Szene hinaus ein hohes Mobilisierungspotenzial. Bei beiden Bewegungen steht die Selbstermächtigung im Mittelpunkt. Gleichzeitig werden zentrale Strukturen des Bestehenden in Frage gestellt: Bei Zwangsräumungen geht es um die Eigentumsfrage, bei den Refugeeprotesten zusätzlich um Bleiberecht und Staatsbürgerschaft. Sowohl das Bündnis Zwangsräumung Verhindern als auch der Protest der Refugees, die seit dem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin vor zwei Jahren den Oranienplatz besetzt haben, wurden durch Einzelschicksale angestoßen und dann weiterentwickelt.

Eine kurze Geschichte der Proteste

Die selbstorganisierte Refugeebewegung gründete sich nach dem Selbstmord des iranischen Geflüchteten Mohammad Rahsepar im Januar 2012. Mit dem Protestmarsch im September und Oktober 2012 kämpften die Geflüchteten gegen die Residenzpflicht, Abschiebungen und Lagerunterbringungen. In Berlin angekommen, besetzten sie den Oranienplatz und bauten dort Zelte auf, um im öffentlichen Raum sichtbar zu werden.

Hinter der Gründung des Bündnisses Zwangsräumung Verhindern steht ebenfalls die Wut gegen gesellschaftlich wenig wahrgenommene Ungerechtigkeit. Erst Nuriye Cengiz, dann Familie Gülbol wehrten sich im Jahr 2012 gegen die drohende Zwangsräumung. 1.000 Menschen blockierten schließlich im Februar 2013 die Räumung der Familie Gülbol, die jedoch durch 800 PolizistInnen durchgesetzt wurde. (Siehe den Artikel auf S. 26) Familie Gülbol hatte zusammen mit UnterstützerInnen ihre Lage öffentlichkeitswirksam politisch analysiert und skandalisiert; das Thema Zwangsräumungen erlangte bundesweite Öffentlichkeit.

Im Dezember 2012 besetzten Refugees die Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg, um für die Forderungen der Bewegung zu kämpfen, selbstorganisiertes Wohnen zu gestalten und der Schikane durch das Personal in Asylbewerberunterkünften zu entkommen. (Siehe den Artikel auf S. 19) Die Geflüchteten wissen aus persönlichen Erfahrungen mit Rechtspopulismus, dass ihnen vorgeworfen wird, der »angestammten« Bevölkerung die Wohnungen und die Arbeitsplätze wegzunehmen. Hausbesetzungen durch Geflüchtete sind somit gelebte Kapitalismuskritik, da sie spekulativen Leerstand thematisieren und der Profitstruktur von Unternehmen, die die Lager betreiben, die Notwendigkeit entziehen.

Sowohl der Oranienplatz mit seinen Zelten als auch die besetzte Schule waren in Berlin wichtige Wohnorte der protestierenden Geflüchteten. Der Berliner Senat betrieb die Räumung dieser Orte. Ein Teil der Refugees willigte in die Räumung des Oranienplatzes ein. Sie kamen für gut drei Monate in provisorische Unterkünfte. Der Oranienplatz wurde im April 2014 gegen den Widerstand eines anderen Teils der Refugees gewaltsam geräumt. Eine Geflüchtete besetzte einen Baum, andere machten einen 22-tägigen Hungerstreik und gewannen den Infopoint und das Plenumszelt auf dem Oranienplatz zurück.

Als auch eine Räumung der besetzten Schule immer wahrscheinlicher wurde, gab es - zwei Wochen vor dem tatsächlichen Räumungsversuch - eine erste gemeinsame Demonstration von Refugee-AktivistInnen und dem Bündnis Zwangsräumung Verhindern, welche die Gemeinsamkeiten der Kämpfe betonte. Bei der Räumung der Schule kam es zu massiven Protesten, AktivistInnen besetzten das Dach. Tausende solidarisierten sich, kamen zu Demonstrationen und blockierten den abgesperrten Bereich.

Der Widerstand der Geflüchteten wurde durch einen Kiez verstärkt, der sich seit vielen Jahren gegen steigende Mieten wehrt. Es ist kein Zufall, dass die Proteste gegen die Zwangsräumung der Familie Gülbol und der Kampf gegen die Räumung der Schule nur einen Häuserblock entfernt voneinander stattfanden. Ende August besetzten Refugees wieder ein Hausdach, dieses Mal das einer provisorischen Unterkunft in der Gürtelstraße in Berlin-Friedrichshain, aus der sie vom Senat herausgeworfen wurden; der Widerstand gegen die Politik der Berliner Landesregierung geht weiter. Auch wenn die Besetzung inzwischen beendet ist - das Dach drückt sehr anschaulich aus, dass die Refugees einerseits Bleibe- und Wohnrecht fordern und ihnen andererseits ein Dach über dem Kopf und ein Leben in Selbstbestimmung verwehrt wird.

Politische Subjekte statt vereinzelte Opfer

Sowohl die Betroffenen im Bündnis Zwangsräumung Verhindern als auch die Refugees schöpfen Kraft aus der Kollektivität und bekommen dadurch Mut, sich gegen die bestehenden Strukturen zu wehren. Im Bündnis Zwangsräumung Verhindern zeigt sich, dass es sich auf die Subjektivität der Menschen auswirkt, wenn wir uns als MieterInnen gemeinsam wehren und dabei solidarische Menschen an unserer Seite haben. Wir geben uns nicht mehr selbst die Schuld, sind nicht mehr vereinzelte »Opfer« böser VermieterInnen, sondern werden zu politischen Subjekten. Wir unterstützen andere MieterInnen in ähnlichen Situationen und blockieren selbst die Wohnungen anderer von Zwangsräumung bedrohter MieterInnen, wenn der oder die GerichtsvollzieherIn kommt. Auch beim Refugeeprotest brechen einzelne Geflüchtete aus dem System aus, verlassen die Lager, brechen die Residenzpflicht und setzen sich für die Belange aller Geflüchteten ein.

Geflüchteten wird gesagt: »Du hättest ja nicht herkommen müssen.« Zwangsgeräumte kennen die Frage: »Warum zahlst du deine Miete auch nicht rechtzeitig?« Aber statt sich dieser bürgerlichen Lesart zu beugen, Einzelfälle zu isolieren und strukturelle Probleme als Selbstverschuldung der Betroffenen zu mystifizieren, stellen diese Protestbewegungen die Frage nach den kapitalistischen und entmenschlichenden Bedingungen.

Der Neoliberalismus fordert die Leistungsfähigkeit der Menschen. »Überflüssige« werden isoliert, pathologisiert, rassistisch markiert und kriminalisiert. Nicht-EU-BürgerInnen werden ausgegrenzt und abgeschoben. »Nicht leistungsfähigen« EU-BürgerInnen drohen Verdrängung aus ihrem Wohnumfeld, Wohnungslosigkeit und Psychiatrisierung. Menschen, die in (potenziellen) Aufwertungsgebieten wohnen, müssen weichen, um den EigentümerInnen höhere Renditen zu ermöglichen. Refugee-AktivistInnen und AktivistInnen gegen Zwangsräumungen sind sich der Tatsache bewusst, dass sie unbequem sind, weil sie durch ihre Aktionsformen und - besonders im Fall der Refugees - ihre kollektive Präsenz den Kapitalismus vorführen.

Perspektiven der Proteste

Im Fall von Zwangsräumungen gelingt es immer wieder, Erfolge zu erzielen. Die Spielräume des Staates für Zugeständnisse bei den Refugeeprotesten scheinen im Vergleich enger, es gibt nur wenige vermittelnde Institutionen. Allerdings gibt es sowohl gegenüber stadtpolitischen Kämpfen als auch gegenüber Refugeeprotesten hohen staatlichen Druck. Der Widerstand gegen staatliche Herrschaftstechniken trifft in beiden Fällen auf breite Repression. Die heutige Protestsituation ist existenziell, konfrontativ und antagonistisch.

Doch die Kämpfenden organisieren sich besser, erkennen Gemeinsamkeiten und finden zusammen. Dies erhöht die Möglichkeit dynamischer Bewegungsphasen wie Anfang 2013 gegen Zwangsräumungen oder im Juli 2014 gegen die Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule. Die Auseinandersetzungen um eine Stadt für alle müssen und werden weitergehen.

Refugee Strike Berlin, Bündnis Zwangsräumung Verhindern und andere rufen am 27. September zu einer Demonstration für Bleiberecht und Wohnraum auf. Infos: asylstrikeberlin.wordpress.com.