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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 597 / 16.9.2014

Einheitsfront gegen den Islamischen Staat

International Im Irak konstituiert sich eine multiethnische Regierung auf Probe

Von Karin Mlodoch

Seit Wochen reduziert sich die deutsche politische und mediale Debatte um Strategien gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) auf die Frage der Waffenlieferungen an die Peshmerga-Armee der Kurdischen Regionalregierung im Irak. Dabei werden mit apokalyptischen Bildern des Islamischen Staates archaische Ängste vor dem Untergang des Abendlandes geschürt, um den außenpolitischen »Tabubruch« deutscher Waffenlieferungen in Konfliktgebiete zu legitimieren. Die emotional aufgeladene Debatte verschleiert den Blick auf handfeste deutsche Wirtschafts-, insbesondere Ölinteressen in der kurdischen Region, sie ignoriert die vielen anderen Schauplätze des Konfliktes in Syrien und Irak und setzt damit eben die ethnisch-religiöse Spaltungspolitik fort, die ein wichtiger Hintergrund für das Erstarken der IS-Milizen ist.

Das komplexe Geflecht von Konfliktlinien und Akteuren lässt sich in Khanaqin im Germian-Gebiet im Südosten der kurdisch verwalteten Region beobachten. Hier grenzt das kurdische Gebiet an die arabisch-sunnitisch dominierten Provinzen Baquba, Salahaddin und Anbar. In Anbar haben IS-Kämpfer schon im Januar 2014 die Kontrolle übernommen. Im Juni nahmen sie weitere Gebiete ein, darunter Teile der Städte Jalawla und Saadiya in unmittelbarer Nähe von Khanaqin.

Khanaqin selbst ist eine multiethnische Stadt von ca. 200.000 EinwohnerInnen mit einer großen kurdisch-schiitischen Gemeinde und turkmenischen und arabischen Bevölkerungsgruppen. Sie gehört zu den umstrittenen Gebieten, auf die sowohl die irakische Regierung als auch die Kurdische Regionalregierung Anspruch erheben, wird aber zurzeit kurdisch kontrolliert.

Seit Juni 2014 kämpfen hier kurdisch-irakische Peshmerga, inzwischen verstärkt durch KämpferInnen der türkisch-kurdischen PKK und der syrisch-kurdischen YPG, gegen die Vorstöße des IS. Die irakische Armee fliegt seit Wochen täglich Luftangriffe. Die USA haben sich bislang mit Verweis auf den starken Einfluss des Iran in der unmittelbar an der iranischen Grenze gelegenen Region mit Luftangriffen zurückgehalten. Auch schiitische Milizen sind in der Region präsent. Sie waren im Juni 2014 vom damaligen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki im Kampf gegen den IS zu Hilfe gerufen worden; diese paramilitärischen Truppen verschmelzen in ihren militärischen Operationen mit der irakischen Armee und verbreiten Angst und Schrecken vor allem unter der sunnitischen Bevölkerung.

In dieser Gemengelage fliehen Zehntausende Familien aus den Provinzen Baquba, Salahaddin und Anbar in Panik in kurdisch verwaltetes Gebiet: KurdInnen, TurkmenInnen ebenso wie AraberInnen schiitischen und sunnitischen Glaubens. Allein in Khanaqin sind zurzeit 70.000 Flüchtlinge registriert. Sie fliehen vor dem Terror des IS, vor irakischen Luftangriffen, vor Racheakten der schiitischen Milizen oder aus Angst vor Zwangsrekrutierung ihrer Söhne durch eine der Kampfparteien.

In Khanaqin ist die Angst groß, dass mit den Flüchtlingen IS-Kämpfer oder deren Familien in die Stadt kommen könnten. Tatsächlich haben viele Familien die vom IS besetzten Gebiete erst verlassen, als die irakische Armee zum Gegenschlag ausholte. Nun müssen sie strenge Kontrollen kurdischer Sicherheitskräfte durchlaufen; Frauen und Kinder, die ohne männliche Begleitung ankommen, müssen den Verbleib der Männer dokumentieren. Während Flüchtlinge, für die Freunde oder Verwandte bürgen, in der Stadt Unterkunft finden, werden mehr als 10.000 vor allem arabisch-sunnitische Flüchtlinge in Zeltlagern am Stadtrand untergebracht. UN- und internationale Organisationen, Stadtverwaltung und die örtliche Bevölkerung leisten Hilfe zu ihrer Versorgung.

Große Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge

Wie in der gesamten kurdischen Region ist auch hier die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung enorm - und keineswegs selbstverständlich. Insbesondere gegenüber den arabisch-sunnitischen Flüchtlingen gibt es ein tiefsitzendes Misstrauen. Jahrzehntelang bildete die arabisch-sunnitische Bevölkerung das Rückgrat für die Gewaltherrschaft des Baath-Regimes; auch nach 2003 haben sich sunnitisch-arabische Kräfte an keinem Punkt für die Aufarbeitung der Vergangenheit engagiert, sondern sind nahtlos in die Opferrolle geschlüpft, die ihnen heute als Argument für die Unterstützung radikaler sunnitischer Kräfte wie dem IS dient.

In Khanaqin und der Germian-Region gibt es hingegen kaum eine Familie, die unter Saddam Hussein nicht von Zwangsdeportation betroffen war oder Angehörige verloren hat. Umso beeindruckender ist ihre jetzige Solidarität mit allen Flüchtlingsgruppen. »Als Saddam Hussein uns nach Ramadi zwangsumgesiedelt hat, waren es arabisch-sunnitische Nachbarn, die uns geholfen haben, zu überleben. Heute geben wir diese Geste zurück«, sagt ein kurdischer Mitarbeiter einer lokalen NGO im Camp Bahary Taza. Im nahegelegenen Rizgari organisieren Frauen, die bei den Anfal-Operationen der irakischen Armee 1988 Männer, Söhne und Brüder verloren haben, Nachbarschaftshilfe für Schutz suchende Frauen aus Baquba. Inmitten des Gewirrs aus Konfliktlinien und Akteuren finden sich hier großartige Zeichen gesamtirakischer Solidarität gegen die Brutalität des Islamischen Staates.

Auf der politischen Bühne kommt eine solche gesamtirakische Allianz hingegen nur schwer in Gang. Am 8. September 2014 - einen Monat nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Al-Maliki - verkündete sein Nachfolger Haider al-Abadi die Bildung einer neuen irakischen Regierung. Vorausgegangen waren Wochen zähen Ringens zwischen schiitischen, sunnitischen und kurdischen Fraktionen in der Irakischen Nationalversammlung.

Mit tödlichen Anschlägen wie dem Attentat auf eine sunnitische Moschee in Dyala am 22. August 2014 hatten schiitische Milizen versucht, auch weiterhin eine Beteiligung sunnitischer Kräfte zu verhindern. Sunnitische Politiker liefen Sturm gegen die von al-Abadi geplante Benennung des Chefs der schiitischen Badr-Milizen al-Ameri zum Innenminister.

Vor dem Hintergrund der intensiven Debatte um staatliche Unabhängigkeit im kurdischen Autonomiegebiet und mit dem Rückenwind der aktuellen internationalen Unterstützung war die kurdische Fraktion mit einem Katalog substantieller Bedingungen in die Verhandlungen gegangen. Neben der Forderung nach starken Ministerien wie dem Außen- oder dem Ölministerium ging es vor allem um den Status der umstrittenen Gebiete wie Khanaqin und der Erdölstadt Kirkuk sowie um das Recht auf eigenständige Förderung und Verkauf des Erdöls in ihrem Gebiet - langjährige Zankäpfel zwischen der Kurdischen Regionalregierung und der Regierung in Bagdad.

Noch am Morgen des 8. September verließen die kurdischen Delegierten geschlossen den Verhandlungstisch. Erst auf Druck von US- und UN-Vertretern und nach einer schnellen Nachzahlung der seit Monaten ausstehenden kurdischen Anteile an den irakischen Staatseinnahmen stimmten sie dem neuen Kabinett zu - allerdings nur für »drei Monate auf Probe«.

Strategiewechsel der US-Regierung

In al-Abadis Regierungserklärung wird die Besetzung der schwergewichtigen Innen- und Verteidigungsressorts ebenso »verschoben« wie die Entscheidung um die kurdische Ölförderung und den Status der umstrittenen Gebiete. Der Einheitscharakter der Regierung wird durch die Benennung des Kurden Hosyhar Zebari und des Sunniten Saleh al-Mutlaq als stellvertretende Ministerpräsidenten unterstrichen. Das Finanzministerium geht an die Kurden. Mit Faris Yusuf Jajo hat das Kabinett einen christlichen Wissenschaftsminister, Kandidat der Kommunistischen Partei. Öl- und Außenministerium werden mit den Schiiten Adel Abdul-Mehdi und Ibrahim al-Jaafari besetzt. Nur eine Frau sitzt mit am Regierungstisch.

Die Benennung der »Einheitsregierung auf Probe« machte den Weg frei für einen Strategiewechsel der US-Regierung. Präsident Obama kündigte weitere Luftangriffe gegen IS-Stellungen im Irak und nun auch in Syrien und Militärhilfe für »moderate« Gegner des IS an. Er reagiert damit auf die anhaltende Kritik an seiner Laissez-faire-Politik gegenüber Syrien und den Vorwurf der ethnisch-selektiven Brille bei der Unterstützung von IS-Opfern und -Gegnern.

Der Strategiewechsel bringt die deutsche Bundesregierung mit ihrem Credo der »humanitären Waffenhilfe zum Schutz ethnisch-religiöser Minderheiten« in eine Zwickmühle. Aber er stellt auch eine linke kritische Öffentlichkeit vor die Herausforderung, eine Position gegen den IS zu finden, die über ein bloßes Wiederholen der Formel »politische Lösung statt Waffen« hinausgeht. Eine solche Position sollte neben der Stärkung der kurdischen Autonomie auch die Unterstützung aller demokratischen, laizistischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte in Kurdistan, Irak und Syrien einschließen, die dem IS ihre Vision einer multiethnischen demokratischen Gesellschaft entgegensetzen.

Parallel zu den irakischen Regierungsverhandlungen haben zivilgesellschaftliche Netzwerke kurdischer und irakischer Organisationen wie die Iraqi Civil Society Solidarity Inititiative oder das Iraqi Women Network (1) in Demonstrationen und Petitionen ihre Forderungen artikuliert. Dabei geht es nicht nur um eine starke Allianz gegen den IS, den Schutz ethnisch-religiöser Minderheiten und umfassende humanitäre Hilfen für die Hunderttausende von Binnenflüchtlingen. Es geht auch um die Stärkung demokratischer, laizistischer Kräfte und Frauen in der neuen Regierung und - eine zentrale Forderung der Zivilgesellschaft - die Entwaffnung und Auflösung aller schiitischen und sunnitischen Milizen. Das ist eine wichtige Voraussetzung um dem IS den Boden zu entziehen und eine Wiederbelebung des gesamtirakischen politischen Prozesses zu ermöglichen.

Karin Mlodoch ist Gründungsmitglied des Vereins HAUKARI e.V. In ak 596 berichtete sie aus Sulaimania, Kurdistan-Irak.

Anmerkung:

1) Mehr zu den Aktivitäten und Forderungen dieser Netzwerke unter www.iraqicivilsociety.org.