Schluss mit der selektiven Solidarität
International Die einseitige Unterstützung der kurdischen Selbstverwaltung spielt dem Assad-Regime in die Hände
Von Harald Etzbach
Seit Mitte September ist Syrien wieder in den Schlagzeilen. Anlass ist der Vormarsch der dschihadistischen Milizen des sogenannten Islamischen Staates (IS) auf die kurdische Enklave Kobanê (arabisch: Ain al-Arab) im Norden des Landes und die Einkesselung der Stadt Kobanê. Seither und insbesondere nach Beginn der Großoffensive des IS gegen die Stadt Ende September wird über die »Schlacht um Kobanê« täglich berichtet. Wenig später begannen auch die Luftangriffe einer von den USA geführten Koalition gegen Stellungen der Terrormiliz.
Verteidigt wird die Stadt im Wesentlichen von den Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ (den bewaffneten Einheiten der kurdischen Unionspartei PYD), mehreren unabhängigen islamischen Brigaden und Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA). Diese haben mit der YPG/YPJ Mitte September ein gemeinsames »Angriffszentrum« unter dem Namen Burkan al-Firat (Vulkan des Euphrat) zum Kampf gegen den IS gegründet. Seit einiger Zeit kämpfen auf kurdischer Seite auch einige irakische Peshmerga-Einheiten.
Kobanê ist der kleinste der drei mehrheitlich kurdischen Kantone (die anderen beiden sind Efrîn und Cizîrê), die seit Juli 2012 nach dem Abzug der syrischen Regierungstruppen die faktisch autonome Region Rojava bildeten. (1) Die bewaffneten Einheiten der PYD beteiligten sich nicht am syrischen Bürgerkrieg, dafür hielt sich das Regime aus den Entwicklungen in Rojava heraus. Auf diese Weise konnten sich hier unter Führung der PYD relativ unbehelligt Strukturen der Selbstverwaltung entwickeln.
Weniger bekannt ist, dass es solche Formen der Selbstorganisation nicht nur in Rojava gibt. Auch in anderen Teilen des Landes, die von der Herrschaft des Assad-Regimes befreit wurden, haben sich im Laufe der syrischen Revolution Hunderte Lokale Komitees und andere Formen der Selbstverwaltung gebildet. Allerdings hatten diese Strukturen nie die Möglichkeit, sich relativ geschützt zu entwickeln, so wie es im kurdischen Norden der Fall war. Vielmehr standen sie vom ersten Tag ihres Bestehen an unter dem Druck brutaler Angriffe der Regimetruppen und ihrer Verbündeten. Zudem sind in jüngerer Zeit gerade solche Strukturen der Selbstorganisation und ihre AktivistInnen bevorzugte Angriffsziele der IS-Milizen geworden.
Das Schweigen über die syrische Tragödie
Die intensive Berichterstattung über Rojava steht auch insgesamt in einem auffälligen Kontrast zum medialen Stillschweigen gegenüber der Tragödie in den anderen Teilen Syriens. Raqqa im Osten des Landes etwa ist seit Mai letzten Jahres zunehmend unter die Kontrolle der IS-Milizen geraten. Seit August wird die Stadt vollständig vom IS beherrscht. In der Presse gab es ein paar Artikel, als ein Video auftauchte, in dem BewohnerInnen über ihren vom IS-Terror geprägten Alltag berichteten. (2) So gut wie nichts konnte man jedoch vom Widerstand gegen die Islamisten in Raqqa lesen, etwa über die Frauen, die im Sommer letzten Jahres vor den Gefängnissen protestierten und die Freilassung ihrer Männer und Söhne forderten.
Ähnliches gilt für Yarmouk. Das palästinensische Flüchtlingslager am Rande von Damaskus wird seit Dezember 2012 von syrischen Regierungstruppen belagert. Heute leben dort noch 18.000 Menschen; es herrscht Hunger, Krankheiten grassieren, und seit mehreren Monaten gibt es keine Wasserversorgung mehr. Die Sterberate ist dramatisch gestiegen, vor allem unter Kindern und älteren Menschen. Die Beispiele ließen sich beinahe endlos fortsetzen: Al-Waer, ein Stadtteil von Homs, in dem 400.000 Menschen leben (die Hälfte von ihnen Flüchtlinge) und der von Assad-Truppen eingekesselt ist und regelmäßig bombardiert wird; Aleppo, das sowohl vom IS als auch von Regimetruppen belagert wird und wo Fassbomben täglich unvorstellbare Zerstörungen anrichten; der Widerstand in der östlichen Provinz Deir ez-Zor, wo der IS 700 Mitglieder eines lokalen Stammes hingerichtet hat - kaum etwas davon wird öffentlich wahrgenommen. Zynisch könnte man sagen, dass wir es eben mit der üblichen Sensationsgier zu tun haben. Der syrische Konflikt dauert schon zu lange; Sterben, Gewalt und Widerstand sind keine Neuigkeiten mehr.
Beunruhigend ist, dass wir in der politischen Linken mit einer ähnlich selektiven Wahrnehmung und einer deutlich selektiven Solidarität konfrontiert sind. Seit dem Angriff des IS auf Kobanê hat es eine internationale Welle der Solidarität gegeben. Großdemonstrationen, mitgetragen und mitorganisiert von verschiedenen Gruppen der Linken, finden beinahe wöchentlich statt. Wer in einer Großstadt lebt, kann jede Woche Veranstaltungen zu Kobanê und Rojava besuchen. In Deutschland gibt es zwei linke Initiativen, die Geld zur Bewaffnung der kurdischen KämpferInnen sammeln.
Geld und Waffen für Rojava?
Wenn man sich jedoch den ersten entsprechenden Aufruf der Neuen antikapitalistischen Organisation (NaO) und der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (ARAB) ansieht (»Solidarität mit Rojava. Waffen für die YPG/YPJ« vom 4. Oktober), stellt man fest, dass die syrische Revolution überhaupt nicht erwähnt wird. In einem zweiten Aufruf heißt es lediglich: »Inmitten des syrischen Bürgerkrieges verteidigen die KurdInnen einen fortschrittlichen Gesellschaftsentwurf.« Das ist natürlich prinzipiell richtig. Dass in Syrien aber auch jenseits der Grenzen Rojavas Kräfte existieren, die demokratische und fortschrittliche Positionen vertreten (nicht zuletzt die bereits erwähnten Lokalen Komitees), fällt erneut unter den Tisch.
Noch schlechter ist der Aufruf der »Interventionistischen Linken« (»Solidarität mit Rojava. Wer wenn nicht wir? Wann wenn nicht jetzt?«), der es tatsächlich schafft, außer einem in Klammern stehenden Hinweis, dass Rojava in Nordsyrien liegt, Syrien überhaupt nicht zu erwähnen. Was ist der Grund für diese höchst selektive Form internationaler Solidarität? Natürlich spielt insbesondere in Deutschland der hohe Organisationsgrad der KurdInnen eine wichtige Rolle. Die Frage ist jedoch, ob Solidarität tatsächlich in diesem hohen Maße von bereits vorhandenen Strukturen abhängig sein darf. In einer Zeit der Globalisierung der Information und der sozialen Netzwerke sind ganz neue Formen internationaler Solidaritätsarbeit möglich und notwendig - den politischen Willen hierzu vorausgesetzt.
Es stimmt auch nicht, dass es in Syrien außerhalb Rojavas keine AnsprechpartnerInnen gäbe. Eine Organisation wie Adopt a Revolution, die seit Beginn der syrischen Revolution mit lokalen Initiativen und Komitees in Syrien kooperiert, hat es vorgemacht. Aus den Reihen der politischen Linken hat Adopt a Revolution nur wenig Unterstützung erhalten. Oft genug wurde die Initiative angefeindet, und das nicht nur von neostalinistischen Organisationen und Strömungen, die sich mehr oder weniger offen auf der Seite Assads positionierten.
Warum gab es Kampagnen wie die für Rojava nicht bereits vor drei Jahren für die Lokalen Komitees? Offensichtlich ist das »Narrativ« von Rojava etwas, woran die Linke leichter anknüpfen kann. Politische Bewegungen von Menschen im arabischen Raum hingegen stehen in der Linken oftmals von vornherein unter dem Verdacht des Islamismus. Dieser wird dann auch gerne mit dem Islam an sich verwechselt; säkularistisch hingegen wird mit demokratisch und fortschrittlich gleichgesetzt, was der Erfahrung in den arabischen Ländern deutlich widerspricht (man denke an Tunesien unter Ben Ali, die aktuelle Situation in Ägypten oder auch an die Baath-Regime unter Saddam Hussein im Irak und dem Assad-Clan in Syrien).
Projektionsfläche für Revolutionsfantasien
Umgekehrt dient ein soziales Experiment wie das in Rojava als Projektionsfläche für allerlei romantische Revolutionsfantasien. So heißt es etwa im Bericht einer Delegation der Kampagne TATORT Kurdistan vom Mai: »Rojava ist der Versuch einer Basisorganisierung jenseits der kapitalistischen Moderne und westlichem Interventionismus.« Das ist nichts weiter als die alte autonome Illusion von den «befreiten Räumen« mitten in einer feindlichen Umwelt, aufgeblasen auf die Größe einer ganzen Region im Nahen Osten - eine Insel des Guten außerhalb von Zeit und Raum.
Die Ereignisse um Kobanê führen solche Äußerungen ad absurdum. Nicht nur, dass die PYD eine Intensivierung der westlichen Intervention in Form von Luftangriffen fordert (was angesichts der Situation verständlich, aber trotzdem problematisch ist). Der Angriff des IS auf Kobanê hat auch gezeigt, dass der revolutionäre Isolationismus in Rojava seine Grenzen hat. Die Entwicklung des autonomen Rojava wäre ohne die syrische Revolution nicht möglich gewesen, und der Erfolg des Experiments Rojava hängt vom Erfolg der syrischen Revolution insgesamt ab. Die selektive Solidarität der westlichen Linken hingegen reproduziert auf fatale Weise genau jene ethnischen Spaltungen, die die autoritären Regime im Nahen Osten, auch der Assad-Clan, über Jahrzehnte benutzt haben, um ihre Herrschaft zu stabilisieren.
Dabei werden auch die Widersprüche des Experiments Rojava ausgeblendet. So ist PYD mehrfach gegen kurdische AktivstInnen vorgegangen und hat vorhandene Strukturen der Selbstorganisation durch eigene Parteistrukturen ersetzt, was im letzten Jahr in einer Reihe von Städten zu Protesten führte. Der Plan, eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen, stieß ebenfalls auf Widerstand (eine Erfahrung, die bereits die SandinistInnen in Nicaragua Ende der 1980er Jahre machen mussten). Der regierende Volksrat ist tatsächlich eher eine Vorfeldstruktur der PYD, und wirkliche Ansätze einer ökonomischen Neuordnung (etwa bei der Landverteilung) wurden bisher nicht unternommen. Das alles spricht nicht gegen das Experiment von Rojava. Vieles, was hier geschieht, ist eine Reaktion auf eine Notsituation, und der Prozess ist offen. Ernsthafte Solidarität muss diese Dinge jedoch im Auge behalten und kritikfähig bleiben, statt sich in Wunschbildern zu ergehen.
Etwas Positives zum Schluss: Ein wirklicher Fortschritt ist die bereits erwähnte Zusammenarbeit der YPG/YPJ mit Brigaden der FSA in Kobanê. Auch wenn diese Entwicklung der äußeren Bedrohung geschuldet ist, ist zu hoffen, dass die gemeinsame Kampferfahrung beide Seiten einander längerfristig näherbringen wird. Das Oberkommando der YPG hat jedenfalls Ende Oktober eine Erklärung veröffentlicht, in der die Partnerschaft mit den in Kobanê kämpfenden FSA-Einheiten betont wird. Zudem bekennt sich die YPG in dieser Erklärung zur Verantwortung nicht nur für Rojava, sondern für ganz Syrien.
Auch für die westliche Linke ist es an der Zeit, die orientalistische Brille abzulegen und die demokratischen Kräfte überall in Syrien zu unterstützen. Diese verdienen unsere Solidarität genauso wie die KämpferInnen von Rojava.
Harald Etzbach schrieb in ak 596 über den Aufstieg des IS in Irak und Syrien.
Anmerkungen:
1) Dem Truppenabzug war offenbar eine Vereinbarung zwischen dem Regime in Damaskus und der PYD vorausgegangen. Kobanê ist jedoch der einzige Kanton, aus dem sich die Assad-Truppen komplett zurückgezogen haben; im Kanton Cizîrê gibt es noch Militärstützpunkte des Regimes.
2) Entsprechende Informationen verbreitet regelmäßig - meist in arabischer Sprache - die Initiative Raqqa is Being Slaughtered Silently. Siehe www.raqqa-sl.com und www.facebook.com/Raqqa.Sl.