Einsame Helden vs. Reiter der Apokalypse?
Islamismus Blindstellen bei der Analyse des»Islamischen Staates«und ihre gefährlichen Folgen
Von Andrea Fischer-Tahir und Karin Mlodoch
Die Massaker an den YezidInnen in Sinjar und der Kampf um Kobanê führten in Deutschland zu einem breiten Konsens hinsichtlich militärischer Unterstützung für »die Kurden«, der von der Bundesregierung über DIE LINKE bis zu Antifabündnissen reicht. Angesichts dieser eigentümlichen Allianz stellen wir die Frage, was wir eigentlich sehen, was wir übersehen und wo die Konfliktanalyse zu Irak, Syrien und dem IS-Terror dringend korrigiert werden müssen.
In wissenschaftlichen, journalistischen und politischen Beiträgen zur Erklärung des Phänomens »Islamischer Staat« (IS) tauchen einige Narrative und Argumentationen immer wieder auf, die viel zu oft unhinterfragt übernommen werden.
IS bezeichnet eine Struktur von sunnitischen Extremisten diverser Nationen, die nach einer dauerhaften Etablierung und territorialen Ausweitung strebt und dabei alles Abweichende bekämpft: schiitische, christliche und yezidische ethno-konfessionelle Gruppen ebenso wie konkurrierende Parteiungen, säkuläre Kräfte, berufstätige Frauen oder Homosexuelle.
In den meisten Analysen wird argumentiert, dass das Erstarken des IS ein Produkt der Politik der Regierungen im Irak und in Syrien sei. Seit 2005 regieren in Bagdad arabisch-schiitische Gruppen, die mit kurdischen und kleineren sunnitischen Blöcken teilweise Koalitionen eingehen, teilweise Konflikte gewaltsam austragen. Dabei führte die systematische Ausgrenzung arabisch-sunnitischer Akteure, die einst vom Baath-Regime profitiert hatten, zu lokalen Allianzen zwischen IS, ehemals führenden Mitgliedern des Saddam-Regimes und arabisch-sunnitischen Stämmen, die auf das Einverständnis vieler Menschen treffen, die sich heute benachteiligt fühlen.
In Syrien wiederum führten der anhaltende Krieg des Regimes von Bashar al-Assad gegen Rebellengruppen und Zivilbevölkerung zu einer partiellen Auflösung des Staates und seines Gewaltmonopols und somit zur Entstehung von »Gewaltmärkten« (Georg Elwert), das heißt Strukturen, in denen Waffen frei zirkulieren und Kapital akkumuliert wird durch Entführungen, Raub von Kunstschätzen oder Umleitung von Bodenschätzen. In diesem Umfeld konnte sich der IS zu einer militärisch schlagkräftigen Organisation entwickeln.
Außerdem wird mit der Verantwortung der »Supermächte«, vor allem der USA argumentiert: Diese hätten durch die Einführung des ethnisch-konfessionellen Proporzes von sunnitischen, schiitischen und kurdischen Fraktionen beim Staatsaufbau nach der Militärinvasion 2003 zu einer Ethnisierung regionaler Konflikte und somit zur Stärkung der Dschihadisten beigetragen. Auch für Syrien wird konstatiert, dass die Stärke des IS ein Ergebnis des Versagens der globalen Großmächte und internationalen Organisationen bei der Eindämmung des Konfliktes beziehungsweise der Suche nach einer politischen Lösung ist.
Darüber hinaus nehmen Analysen regional mächtige Akteure ins Visier: die Interessen des Iran und der Türkei, aber auch der autoritären Regime von Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten. Letztere gehörten in der Vergangenheit schließlich zu den Hauptexporteuren salafistischer Ideologie, was sich auch dann nicht vergessen lässt, wenn die Emirate im Kampf um Kobanê PR-wirksam eine Pilotin einsetzen.
Und schließlich wird immer wieder argumentiert, dass der IS eine Reaktion auf Kolonialismus und Imperialismus sei. Dies zeige sich in dessen Versuch, die auf dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 beruhende regionale Ordnung des Mittleren Ostens aufzulösen. Ferner seien es die durch die ökonomische Benachteiligung im globalen System und kulturelle westliche Hegemonie in ihrer Würde erniedrigten arabischen Armen, die dem IS zuströmten.
Daran schließt ein weiteres Narrativ an, nämlich das vom Versagen westlicher Demokratien. Diese hätten es nicht geschafft, muslimische MigrantInnen hinreichend zu integrieren, was zu einem Erstarken des Salafismus geführt habe. In Deutschland wird in diesem Zusammenhang auch gelegentlich ein Vergleich aus einer anderen quasi kolonialen Situation herangezogen, der an rassistischem Essentialismus kaum zu überbieten ist: So sagte der Nahostexperte Guido Steinberg im Juni 2014 gegenüber der Oberländischen Presse: »Wie es in Bonn cool ist, Salafist zu sein, ist es in Jena cool, Nazi zu sein.«
Was wir sehen und was aus dem Blick zu geraten droht
Die Verflechtung von Politik, Medien und Wissenschaft sorgt bekanntermaßen dafür, politische Notwendigkeiten zu definieren und zu popularisieren, um dann politische Praxis zu legitimieren. Die schrecklichen Bilder von verzweifelten ChristInnen und YezidInnen auf der Flucht vor dem IS lieferten der Bundesregierung die Begründung dafür, die irakisch-kurdischen Peshmerga zu VerteidigerInnen abendländischer Werte und religiöser Minderheiten zu erklären, mit dem Beschluss zu Waffenlieferungen einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik einzuläuten und dabei ganz nebenbei die eigenen Wirtschaftsinteressen in der erdölreichen Region zu sichern.
Die Live-Berichte von der »Entscheidungsschlacht« um Kobanê und die von der PYD/PKK verbreiteten Bilder der dort verzweifelt kämpfenden Frauen und Männer boten Teilen einer bisher hinsichtlich des IS sprach- und hilflosen Linken die Möglichkeit zu Identifikation und Handlung; von Solidaritätsdemonstrationen bis zu Geldsammlungen für Waffen. Beides verschmolz zum umspannenden Narrativ des »einsamen Kampfes der Kurden gegen den IS«. Dies und die apokalyptischen Bilder grenzenlos brutaler IS-Kämpfer lassen Forderungen nach militärischen Interventionen des Westens oder der Türkei ebenso gerechtfertigt erscheinen wie Plädoyers, im Kampf gegen den IS das Regime von Damaskus einzubeziehen. Übersehen wird dabei, dass das Assad-Regime - mit dem die PYD seit 2011 eine Art Stillhaltevereinbarung hat - die maßgebliche Ursache für ein Erstarken des IS in Syrien ist und weiterhin syrisch-rebellische Ortschaften und Städte bombardiert. Regimekritische SyrerInnen reagieren verständnislos und verbittert auf die westliche Ungleichgewichtung bei der Wahrnehmung schützenswerter Gruppen.
Durch den Fokus auf Kobanê geraten auch die Fortsetzung des IS-Terrors im Irak und dessen Opfer aus dem Blick. In Mossul geriert sich der IS als Staatsmacht, trennt Mädchen- und Jungenschulen und versklavt Frauen. In der schon seit Januar vom IS kontrollierten Provinz Anbar richtete die Terrormiliz nach lokalen Medienberichten Anfang November an die 500 Männer des arabisch-sunnitischen Albu-Nimr-Stammes hin, nachdem dessen Führung ihre bisherige Neutralität gegenüber dem IS aufgegeben und sich auf die Seite der irakischen Regierung gestellt hatte.
Die vereinfachte Formel KurdInnen versus IS verstellt auch den Blick auf andere nicht-militärische Schauplätze im Kampf gegen die Dschihadisten. Über wichtige politische Prozesse im Irak wie das zähe Ringen um eine solide neue irakische Regierung oder die Verhandlungen mit sunnitischen Stämmen um eine Einbeziehung in die Anti-IS-Front ist in der deutschen Debatte ebensowenig zu erfahren wie über die zahlreichen Appelle und Aktionen zivilgesellschaftlicher Frauen- und Menschenrechtsgruppen im Irak für eine breite internationale Front demokratischer und laizistischer Kräfte gegen den IS.
Die selektive Perspektive des Westens auf die KurdInnen, YezidInnen und ChristInnen erinnert nicht nur an koloniale Praktiken der Protektion und Einbeziehung von Minderheiten in Herrschaftsstrategien. Sie ist auch fahrlässig, denn sie setzt eben die ethnisch-religiöse Spaltungspolitik fort und gibt dem im Zuge des Erstarkens schiitischer Machtzentren in der Region - von Teheran über Bagdad bis Beirut - entstandenen sunnitischen Opfernarrativ, von dem der IS profitiert, neue Nahrung.
Luftschläge werden das IS-Problem nicht lösen
Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich sind wir der Meinung, dass die KurdInnen im Irak und in Syrien nach jahrzehntelanger Unterdrückung einen legitimen Kampf um Eigenständigkeit führen, der nun endlich die lang versagte internationale Aufmerksamkeit erhält. Kritisch sehen wir aber den Versuch vieler Linker, diesen kurdisch-nationalen Kampf als »linkes Projekt« zu interpretieren. Dieser Versuch, den Widerspruch zwischen antikapitalistischer/antiimperialistischer Haltung auf der einen und Zustimmung zu einer westlichen Intervention gegen den IS auf der anderen Seite miteinander zu versöhnen, delegiert die komplexe Frage nach linken Strategien gegen den IS an ein externes »revolutionäres Subjekt«.
Wie viele andere bezweifeln wir, dass Luftschläge gegen den IS und Kleinwaffenlieferungen an die Peshmerga oder moderate syrische Rebellen das IS-Problem lösen werden. Notwendig sind aus unserer Sicht Schritte, die auf Staats(re)konstruktionen im Irak und in Syrien hinauslaufen. Dazu braucht es aber neben einer Vermittlung durch internationale Akteure, die neutraler sind als die bisher genannten, auch den Willen mächtiger Lokalakteure sowie die Integration von unabhängigen zivilgesellschaftlichen AkteurInnen - vor allem solchen, deren Agenda quer zu ethnischen oder konfessionellen Partikularismen steht. Um hier Ansätze für linke Bündnisse zu finden, muss zunächst der enge Fokus auf nationale und ethnokonfessionelle Minderheiten überwunden werden.
Wir plädieren ferner für eine materialistische Konfliktanalyse. Wer im IS einen »antikolonialen Reflex« sieht oder aber Identitätsdefizite als Erklärungsansatz stark macht, vernachlässigt, dass wir es mit einer Bewegung zu tun haben, die vor allem Teilhabe an lokalen, regionalen und globalen Reichtümern und Ressourcen, einschließlich Menschen, beansprucht. Der IS verfolgt in den von ihm kontrollierten Gebieten eine pragmatische Wirtschaftspolitik, treibt Steuern ein, verkauft Grund und Boden und Öl und findet dafür ausreichend AbnehmerInnen. Sich diese Tatsachen zu vergegenwärtigen, nimmt dem IS auch die von den Medien beschworene, Angst machende und lähmende Aura apokalyptischer Reiter.
Dies führt zu einem weiteren Punkt: Wie umgehen mit Sympathien und Unterstützung für den IS in Deutschland? Die Angst vor der Vereinnahmung durch rechte und rassistische Kräfte, die den Islam und »den Muslim an sich« als ein Problem halluzinieren, verhindert bislang ein klares und entschlossenes Auftreten linker Kräfte gegen den IS. Womöglich lässt sich unaufgeregter und mit einem gesunden Hass über extremistische Salafisten reden, wenn in unseren Erklärungen sowohl der ethnisch-selektive Blick als auch das Paradigma der Religion zurücktreten und der IS und seine UnterstützerInnen stattdessen aus einer demokratisch-laizistischen Perspektive als TrägerInnen einer rassistischen, antidemokratischen Ideologie gesehen werden.
Andrea Fischer-Tahir ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps-Universität Marburg mit langjähriger Forschungspraxis in Kurdistan-Irak. Karin Mlodoch ist Psychologin und Mitarbeiterin des Vereins Haukari, der in Kurdistan-Irak Frauen- und Menschenrechtsprojekte fördert.
Eine Langfassung erscheint in der Dezemberausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik. www.blaetter.de