Titelseite ak
Linksnet.de
ak bei Diaspora *
ak bei facebook
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 600 / 16.12.2014

Zwischen den Zeilen lesen

Diskussion In »Lire le Capital« fragte sich Louis Althusser, was Marx im »Kapital« eigentlich macht - nach 50 Jahren erscheint endlich eine vollständige Neuübersetzung

Interview: Ingo Stützle

»Louis Althusser ist der große Abwesende der gegenwärtigen linken Theorie«, stellte Slavoj Zizek einmal fest. Dem sollen die auf fast zehn Bände angelegten »Gesammelten Schriften« etwas entgegensetzen. Seit 2010 sind einige Bände erschienen. Das vor 50 Jahren veröffentlichte Opus magnum Althussers und seiner Schüler blieb in Deutschland bis heute die verdiente Rezeption weitgehend verwehrt. Nun liegt auch »Das Kapital lesen« in einer Neuübersetzung von Frieder Otto Wolf und Eva Pfaffenberger als vollständige und ergänzte Ausgabe vor. ak sprach mit dem Herausgeber Frieder Otto Wolf.

Teile von »Das Kapital lesen« waren bereits ins Deutsche übersetzt; nach dem Zerwürfnis der Autoren erschien in Deutschland zudem Rancières Beitrag in einem eigenständigen Band bei Merve 1972 - wieso eine Neuübersetzung? Wieso alle Beiträge in einem Band versammeln?

Frieder Otto Wolf: Ich denke, »Das Kapital lesen« ist ein klassisches Werk - weil es nicht nur Kapitallektüre betreibt, sondern zugleich danach fragt, was die Voraussetzungen dafür gewesen sind, dass Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie ein wissenschaftlicher Durchbruch gelungen ist. Das wird in der - um die Beiträge von Establet, Macherey und Rancière gekürzten - zweiten Auflage sehr viel schwerer nachvollziehbar, da damit gerade diejenigen Beiträge wegfielen, die einen kritischen Beitrag direkt zur Kapitallektüre geleistet haben. Eine Neuübersetzung war nötig, damit es auf Deutsch wirklich verstanden werden kann. Außerdem liegt inzwischen einiges an zusätzlichen Erkenntnissen über diesen Text als ein »work in progress« vor, die ich in die neue Ausgabe habe einarbeiten können, sodass der Schein eines willkürlich verfahrenden Dogmatismus sich bei der Lektüre auflöst.

Ist Althusser das Zentrum der Arbeitsgruppe gewesen? Selbst gut informierte Kapitalleser kennen kaum alle Co-Autoren...

Das Buch ist aus einem Seminar hervorgegangen, das Althusser vom Ende Januar bis Anfang April 1965 an der Elitehochschule École Normale Supérieure gehalten hat. Er hatte es mit Studierenden gemeinsam vorbereitet. Vor allem aber Studierende des 5. Studienjahres, namentlich Étienne Balibar, Yves Duroux und Jacques Rancière. Später nahmen auch Robert Linhart und Pierre Macherey an der kollektiven Vorbereitung teil. Die 10 Seminarsitzungen wurden nach der Eröffnung durch Althusser von Maurice Godelier, Rancière, Macherey, dann wieder von Rancière, von Althusser selbst und schließlich von Balibar bestritten. Anschließend organisierte Althusser die Herausgabe des Bandes - ohne den Beitrag von Godelier und mit einem zusätzlichen Beitrag von Roger Establet, der das Seminar aus der Ferne verfolgt hatte. Althusser verfasste im Juni seinen Einleitungsbeitrag.

In deinem Vorwort schreibst du, die von Marx überarbeitete Roy-Übersetzung des »Kapital« ins Französische habe einen »eigenständigen Wert als Darstellung der marxschen Theorie«. Bezieht sich also deine Übersetzung auf ein marxsches »Kapital«, das die deutschen Leser gar nicht kennen?

In einigen Punkten schon: Beispielsweise Althussers wichtige These vom »Terrainwechsel«, den Marx von der »Deutschen Ideologie« zum »Kapital« vollzogen habe, findet nur in der Fassung von Roy ihre philologische Grundlage. Insgesamt ist die Roy-Übersetzung nicht nur popularisierend, sondern teilweise auch deutlicher von hegelianisierenden Floskeln befreit, die sich im deutschen Text stärker in den Vordergrund drängen. Engels hat sie bei seiner Endfassung des »Kapital« nicht wirklich berücksichtigt und genau diese lesen wir meist in Form der MEW 23.

Ohne damit dafür zu plädieren, die Roy-Fassung als eine definitive Fassung zu begreifen, kann es nur hilfreich sein, sie in die Kapitallektüre als eine eigenständige Fassung neben anderen einzubeziehen. Das ist in Deutschland nicht üblich, sollte es aber werden - nachdem doch jetzt in der historisch-kritischen MEGA² der gesamte Bereich der marxschen Texte zum »Kapital« vorliegt. Die Analysen von Althusser und seinen Mitarbeitern gehen allerdings über diese enge Grundlage durchaus hinaus - und beziehen auch die MEW immer mit ein. Vor allem werfen sie immer wieder die Frage auf, was die zentralen Voraussetzungen für den wissenschaftlichen Durchbruch gewesen sind, den Marx mit seiner Kritik der politischen Ökonomie für den gesamten Bereich der Wissenschaften von Geschichte und Gesellschaft vollzogen hat.

Deine Übersetzung und deine Hinweise zeigen, dass du das geschriebene Wort sehr ernst nimmst, also eine klare Referenz für die theoretische Diskussion hast, nämlich den Text. Gleichzeitig ist ja einer der innovativsten Beiträge Althussers die Entwicklung der sogenannten symptomalen Lektüre, also das Lesen zwischen den Zeilen, eine neue Form des diskurs-theoretischen Lektüreverfahrens, das sich gerade dafür interessiert, was nicht zu lesen ist - wie passt das zusammen?

Das passt doch sehr gut: Auch das Zwischen-den-Zeilen-lesen ist doch eine Arbeit an Texten - und keineswegs ein freies Projizieren! Gerade eine Lektüre, die dem auf die Spur kommen will, was unter der Oberfläche der Texte liegt, muss es mit den Texten sehr genau nehmen. Auch wenn sie dann mehr tut, als bloß diese Texte zu »verstehen«.

Wie und warum kann die Reflexion über die marxsche Theorie in »Das Kapital lesen« zu Resonanzboden der damals herrschende ML-Marxismus und die Sowjetunion gehörte, heute produktiv sein? Wieso weißt die Auseinandersetzung »nach vorne« und nicht »nach hinten«, führt keine geschlagene Schlacht? Oder anders gefragt: Warum hat das Buch mehr als historische Bedeutung?

Althussers radikale Neulektüre des »Kapital« hat dazu beigetragen, dass wir heute diesen ML-Marxismus - also den theoretischen Stalinismus, der auch als »Leninismus« firmiert hat - theoretisch triftig kritisieren können. Und das ist keine Schlacht von gestern, sondern immer noch eine Auseinandersetzung "nach vorne": Nämlich sowohl die wissenschaftliche Radikalität der marxschen Theorie als solche wieder frei zu legen, als auch die politische Zuspitzung zu erneuern, deren eine Praxis der Befreiung bedarf. Dieses Werk bietet nichts weniger als einen ersten Anlauf zu genau denjenigen Fragen, die wir heute stellen müssen, um den wissenschaftlichen Durchbruch von Marx für eine radikale Politik der Befreiung wieder nutzbar zu machen - jenseits der Kurzschlüsse, in die gleichsam im ersten Anlauf sowohl Engels als auch Lenin verfallen sind, aber auch ohne darüber zu vergessen, was diese zentralen Figuren einer solchen Politik im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert bereits an Problemen aufgeworfen hatten. Oder konkreter: Die in diesem Werk praktizierte Form der philosophischen Hinterfragung trägt dazu bei, sowohl die Perspektive antikapitalistischer Kämpfe konkreter und d.h. eben auch in ihrer spezifischen Begrenztheit zu begreifen, als auch deren Zusammenhang mit anderen Befreiungskämpfen zumindest erahnen zu können.

Althusser kokettiert nicht nur mit Lenin, sondern hat auch lobende Worte für Mao und Stalin übrig. Wie soll uns da Althusser vor »Kurzschlüssen« bewahren?

Ich denke, dass da zu unterscheiden ist: Althusser hat da nicht nur taktiert, sondern strategisch argumentiert. Er vertritt keinen Leninismus, sondern sieht die historische Bedeutung Lenins und in manchen Punkten auch dessen philosophische Sensibilität - ohne dessen philosophische Unbildung und Ungeschicklichkeit zu übersehen oder zu beschönigen. Althusser lobt bei Stalin und Mao einzelne Positionen, die sich in der Tat vertreten lassen. Es geht ihm ja auch um eine Intervention in die damalige kommunistische Weltbewegung - und dabei vor allem auch darum, den Stalinismus nicht nur oberflächlich und wirkungslos zu kritisieren, sondern dessen Wurzeln freizulegen und ihn damit nachhaltig zu überwinden.

Und ein zentrales Element dieser Strategie war es eben, den wissenschaftlichen Durchbruch von Marx als solchen zu begreifen und ihn von allen »parteilichen« Funktionalisierungen und nachträglichen politischen und philosophischen Fesselungen zu befreien. Dass das nicht alles sein kann, war Althusser und seiner Gruppe durchaus klar - daran setzt Althussers spätere Selbstkritik am »Szientismus« und »Theoretizismus« immer wieder an - ohne aber deswegen die Kritik an jeder parteiischen Verbiegung von wirklicher Wissenschaft fallen zu lassen.

In der Neuübersetzung sind die Texte zum Begriff der Kritik, zur Frage der Darstellung und zur Plankonzeption der Kritik der politischen Ökonomie versammelt, also Fragestellungen, die man in Deutschland vor allem mit der sogenannten neuen Marx-Lektüre im Anschluss an u.a. Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt verbindet, eine eher an Hegel angelehnten Tradition. Die Althusser-Schule steht hingegen für eine radikale Hegelianismus-Kritik. Wäre mit einer früheren Rezeption oder Übersetzung ein produktiver Dialog zwischen den Strömungen möglich gewesen? Müssen wir jetzt das Kapital erneut neu lesen?

Der Sache nach ja! Und es steht sowieso an, nachdem die MEGA²-Abteilung zum »Kapital« vollständig publiziert ist. Dass da ein produktiver Dialog auch schon möglich war, zeigen etwa die Arbeiten von Michael Heinrich, der aus der Kapitallesebewegung heraus Althusser rezipiert hat - mit durchaus eindrucksvollen und wegweisenden Ergebnissen, die inzwischen auch international Anerkennung finden.

Fast zeitgleich zu »Das Kapital lesen« erschien im LAIKA-Verlag Rancières Abrechnung mit Althusser von 1975. Ist das nur Zufall? Ist ein produktiver Dialog trotzdem möglich, obwohl Jahrzehnte spätere zwei Texte aufeinander »losgelassen« werden?

Ich denke, wir können diese alten Streitigkeiten durchaus heute mit Gewinn wieder lesen. Da werden blinde Flecken beider Seiten erkennbar und vor allem das gemeinsame ungelöste Problem, wie die wissenschaftliche Erkenntnis von Herrschaftsstrukturen in eine wirklich befreiende politische Praxis umgesetzt werden kann. Sie haben dieses Problem nicht lösen können - und sich dies mit einigen guten Argumenten wechselseitig vorgeworfen. Aber dadurch haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass wir heute dieses Problem in aller nötigen Schärfe und Tiefe stellen können und auch mehr darüber sagen können, was die Tätigkeit des Philosophierens zu seiner Lösung beitragen kann.

Die sogenannte Althusser-Schule tritt als »alternative Orthodoxie« auf. Was alternativ ist, hast du bereits skizziert. Was ist daran orthodox und was sollte daran kritisiert werden? Ist an der Konzeption des Klassenkampfs in der Theorie noch festzuhalten?

Es ging dabei um einen - wie wir heute wohl klarer sehen können - weitgehend imaginären Kampf um die kommunistische Weltbewegung: Und zwar spezifisch darum, der herrschenden Ideologie des »Leninismus« bzw. »Marxismus-Leninismus« - also des theoretischen Stalinismus - eine alternative theoretische Grundlage entgegenzusetzen. Eine, die zum einen auf wirklicher, nicht zurechtgebogener Wissenschaft beruhte; zum anderen auf dem, was Althusser später als die spannungsreiche, aber doch nicht hintergehbare »Freiheit eines Kommunisten« bezeichnet hat, durch die kommunistische Politik zu einer Politik der Befreiung hätte werden können. Ich denke, diese Aufgabe hat sich heute keineswegs erledigt - auch wenn wir inzwischen zum einen gelernt haben, auch etwas kritisch zu untersuchen, was Politik ist, was politische Organisierung bedeuten und wie eine befreiende Politik überhaupt möglich gemacht werden kann - und durchaus auch sehen, dass es nicht »nur« um die Überwindung der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise geht, sondern auch um die Überwindung anderer Herrschaftsstrukturen, etwa im Feld der Geschlechterverhältnisse oder auch im Feld transnationaler, imperialer Abhängigkeit.

Frieder Otto Wolf lehrt Philosophie an der FU Berlin und gibt die »Gesammelten Schriften« Althussers neu heraus.

Das Kapital lesen

erschien 1965. Nach einem Zerwürfnis zwischen Althusser und Rancière erschienen die Beiträge nur noch getrennt - so wie die ersten deutschen Teilübersetzungen. 1996 wurde »Das Kapital lesen« in Frankreich mit der ursprünglichen Textreihenfolge vollständig neu aufgelegt. Der Neuübersetzung im Verlag Wetfälisches Dampfboot liegt diese Ausgabe zugrunde und umfasst die Beiträge von Louis Althusser (Vom »Kapital« zur Philosophie von Marx; Das Objekt des »Kapital«), Jacques Rancière (Der Begriff der Kritik), Pierre Macherey (Zum Darstellungsprozess im »Kapital«), Étienne Balibar (Die Grundbegriffe des historischen Materialismus) und Roger Establet (Vorstellung des Aufbauplans des »Kapital«).