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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 601 / 20.1.2015

Linker Internationalismus in unübersichtlicher Lage

Diskussion Solidarität geht heute anders als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts

Von Albert Sterr

Es ist paradox: Mit der Annäherung zwischen den USA und Kuba sowie den Friedensverhandlungen in Kolumbien zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung zeichnet sich das endgültige Ende zweier Konflikte ab, die in Lateinamerika mehr als alle anderen von Systemkonkurrenz und Kaltem Krieg geprägt wurden. Gleichzeitig zieht die Rojava-Solidarität in der Linken wieder Debatten nach sich, wie sie schon zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes um die nationalen Befreiungsbewegungen des Trikont geführt wurden. (1) Wie die kurdischen Kräfte in Syrien und im Irak heute, so waren die nationalen Befreiungsbewegungen damals bedeutsame Akteure. Auf sie wurden von der internationalen Linken hohe Erwartungen projiziert, während die Systemeliten ihren Erfolg mit militärischer Gewalt und langwierigen Abnutzungskriegen verhinderten.

Die breite und positiv grundierte Aufmerksamkeit für die kurdische Arbeiterpartei PKK sowie ihre Schwesterorganisationen in Syrien und im Irak war noch vor einem halben Jahr undenkbar. Seit der erfolgreichen PKK/YPG-Rettungsaktion für die Yezid_innen und seit der Verteidigung Kobanês vor den anstürmenden IS-Kriegern scheint alles anders. Im Kampf gegen die Gotteskrieger des Islamischen Staates (IS) betrachten die Regierungen führender NATO-Länder die zwei Jahrzehnte lang mit Verboten überzogene Kurdenorganisation zumindest als taktische Verbündete. Dagegen knüpfen Kurd_innen und linke Unterstützer_innen hierzulande mehr oder weniger hochgesteckte Erwartungen an politische und soziale Experimente in den kurdischen Enklaven Syriens. Zu Zeiten der Systemkonkurrenz unterstützten westliche Regierungen und metropolitane Solidaritätsbewegungen die jeweiligen Antagonisten, z.B. in Nicaragua die Contras bzw. die Sandinist_innen. In der aktuellen Ära sich überkreuzender Konfliktlagen im Nahen Osten scheint das nicht mehr zu gelten. Oder doch?

Befreiungsbewegungen und Internationalismus nach 1989

Für die westlichen Regierungen und die NATO war die PKK bis in den Sommer 2014, versehen mit amtlichem EU-Siegel, eine Terrororganisation. Formell gilt dies bis heute, auch und gerade in Deutschland. Das PKK-Verbot aus dem Jahre 1993 ist weiter in Kraft. Ein Teil der Konservativen in der EU sowie in Deutschland hält diese Bewertung weiter für angebracht. Anders als der türkische Ministerpräsident vermeiden sie aber, dies in öffentlichen Stellungnahmen in den Vordergrund zu rücken. Die antikommunistischen Reflexe sind jedoch intakt, und so rechnen sie die PKK aus politisch-ideologischen Gründen weiter dem Lager der »Feinde des freien Westens« zu. Sie setzen die PKK des Jahres 2014 weitgehend gleich mit der marxistisch-leninistischen Organisation der 1980er und 1990er Jahre. Damals wollte die PKK eine nationale und soziale Revolution bewerkstelligen und führte dazu an der Südostflanke der NATO im türkischen Teil Kurdistans einen blutigen Guerillakrieg. Dieser wurde in der Bundesrepublik von einer nennenswerten Kurdistan-Solidaritätsbewegung begleitet. Wegen ihrer Nähe zur PKK, der u.a. Stalinismus, Öcalan-Kult, Sektierertum und Nationalismus vorgeworfen wurde, war diese jedoch in Teilen der Linken umstritten.

Die Wende der PKK nach der Verhaftung ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalan, ihre Bereitschaft zu Friedensverhandlungen mit dem türkischen Staat, der damit verbundene Verzicht auf Guerillaaktionen und der Rückzug ihrer bewaffneten Verbände in den Irak hatten zur Folge, dass Ende der 1990er Jahre die Aufmerksamkeit für den kurdischen Befreiungskampf in der hiesigen Linken stark abnahm. Die politische Neuorientierung der PKK in den 2000er Jahren, inklusive mehrfacher Umbenennungen, wurde nur noch von Spezialist_innen registriert. Breitere Resonanz hatte zuvor das Verdikt libertärer und antinationaler Gruppen gefunden, welche die PKK geradezu als Musterbeispiel für »völkischen Nationalismus« und deshalb für nicht unterstützenwert erklärten. (2) So schrieb die Hamburger Gruppe Demontage: »Der emanzipative Gehalt völkischer Ansätze tendiert gegen Null ... Als Beispiel für ein tendenziell völkisches Modell bietet sich die PKK an.« (3)

Aber nicht nur der Befreiungskampf der Kurd_innen hatte in den 1990er Jahren an Rückhalt verloren; dasselbe galt für die verbliebenen Guerillabewegungen Lateinamerikas. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 mussten sie einsehen, dass für ihr Projekt der revolutionären Machtübernahme am Tag X weltpolitisch die Verbündeten fehlten. So gaben sie das Ziel auf, mittels einer Revolution eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten. In Mittelamerika einigten sie sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auf Verhandlungslösungen mit den Regierungen. In Kolumbien, wo die Gespräche scheiterten, wird es aller Voraussicht nach bis Ende 2015 dauern, weil die Eliten lange zu keinerlei Zugeständnissen bereit waren und auf einen Siegfrieden setzten.

Die Revolutionsbewegungen Mittelamerikas transformierten sich in Reformparteien. Darüber machte sich in der Solidaritätsszene große Enttäuschung breit. Die in den 1980er Jahren bedeutsame Solidaritätsbewegung, die im Rahmen der Spendensammlung »Waffen für El Salvador« 4,7 Millionen DM zusammen bekam und tausende Brigadist_innen nach Nicaragua entsandte, schrumpfte bis auf einen geringen Rest. War in den 1980er Jahren die Begeisterung für die Erfolge der revolutionären Compas himmelhochjauchzend, so fiel in den 1990ern das Stimmungsbarometer nach der reformistischen Wende auf »zu Tode betrübt«.

Begleitet und »theoretisiert« wurde die Neubewertung in Artikeln und Büchern, die ganz grundsätzlich den Abgesang auf das Konzept »nationale Befreiungsbewegung« anstimmten. »National« wurde mit »nationalistisch« gleichgesetzt, das spanische »pueblo« mit dem reaktionär aufgeladenen »Volk« und Guerillakampf mit Militarismus in einen Topf geworfen. Kurzum: Der »Mythos nationaler Befreiung«, so der Untertitel eines Buches, wurde wegen »zentralistischer Organisierung und Staatsfixierung« sowie neuer weltwirtschaftlicher Bedingungen zum untauglichen Ansatz erklärt. (4) Andere gingen noch weiter, wie etwa Pascal Bruckner in seinem in der grün-alternativen Öffentlichkeit breit rezipierten Buch »Das Schluchzen des weißen Mannes« von 1984. Sie verteidigten fortan den Status quo, propagierten die völlige Abwendung vom Trikont und stellten jede internationalistische Praxis unter Generalverdacht.

Die Breitseiten aus dem eigenen Lager blieben nicht folgenlos. So galten nach 1989 weiterhin aktive Befreiungsbewegungen wie jene in Kolumbien oder Kurdistan als politische Auslaufmodelle. Ihr Kampf sowie die erheblichen Opfer, die sie brachten, wurden mit Nichtbeachtung quittiert. Anders als zu Zeiten der Systemkonkurrenz konnten sie in den Metropolen keine relevante Unterstützung mehr mobilisieren. Dies galt für alle Bewegungen, unabhängig von ihrer Verankerung, ihren Erfolgen und ihrer politisch-ideologischen Ausrichtung. »Globale Solidarität wurde immer öfter als karitativer Schmarrn, regressive Kapitalismuskritik oder romantisierende Lobhudelei nationalistischer Befreiungsbewegungen denunziert«, kritisierte ein Teilnehmer der Diskussion um »Internationalistische Praxis nach dem Internationalismus«. (5) Nur der mexikanische Zapatismus bildete zwischenzeitlich eine Ausnahme - weil er sich in Politikstil und Inhalten deutlich von seinen Vorgängern abgrenzte und die EZLN den Kampf um die Staatsmacht gar nicht erst aufnehmen wollte.

Die - oft vermeintlichen - Gewissheiten des Systemkonfliktes mit einer klaren Verortung von Freund und Feind lösten sich auf in eine neue Unübersichtlichkeit mit vielen Unwägbarkeiten. Den Anfang machten die Wahlniederlage der Sandinist_innen (eine erfolgreiche Revolutionsbewegung ließ sich erstmals von rechten Gegenspielern abwählen) und der erste Irakkrieg 1991 mit US-Intervention und den Drohungen Saddam Husseins gegen Israel. Seither haben wir es in vielen Weltregionen mit sich überkreuzenden Krisensituationen, Konflikten und Konfrontationen zu tun, in die vielerlei Akteure unterschiedlichster Art und Orientierung eingreifen. Was richtig und falsch ist, was in eine bessere Zukunft weist und was nicht, lässt sich häufig nicht mehr so einfach ausmachen. (6) Zu dynamisch sind die Ereignisse, zu ambivalent die Akteure, zu gering das eigene analytische Know-how und zu schwach die internationale Vernetzung, um verlässliche Partnerschaften aufzubauen und zu pflegen. Dies gilt vor allem, aber nicht nur für die raschen Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten.

Neue Unübersichtlichkeit

Die jüngsten Erfolge der PKK und ihrer Schwesterorganisationen sind nur möglich, weil es sich dabei um straff geführte, zentralisierte Organisationen mit einer politischen Ideologie der Befreiung handelt. Gegenüber geänderten Rahmenbedingungen erwiesen sie sich als wandlungsfähig. Sie verfügen zudem über langjährige Kampferfahrungen. Hinzu kommt die tiefe Verwurzelung in der kurdischen Bevölkerung. Ohne diese hätte die PKK die drei Jahrzehnte permanenter Verfolgung nicht überstehen können. In dieser Allgemeinheit gilt das Gesagte ebenso für die FARC und die ELN Kolumbiens, die noch zwei Jahrzehnte länger kämpfen als die PKK.

Ausgehend von diesem organisatorischen Rückgrat und unter dem militärischen Schutzschild konnte sich in den Kantonen Rojavas - bzw. den von der Guerilla kontrollierten Zonen Kolumbiens - ein ziviles Leben entfalten, das verschiedene politische und soziale Aspekte des Neubeginns aufweist. Wie ausgeprägt diese sind bzw. sein können, hat mit der selbsttätigen Aktivität vor Ort, dem von den Befreiungsbewegungen gebotenen Rahmen und vor allem aber dem militärischen Druck der Gegner zu tun. Bei allen positiven Aspekten (Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen, Nichtdiskriminierung anderer, aktive Rolle von Frauen, Selbstorganisation von Alltag und Produktion etc.) sollten wir uns immer darüber klar sein, dass es sich um eine Ausnahme- und Notsituation handelt. Es ist nur schwer vorstellbar, dass unter diesen Umständen Modelle entstehen können, die auch dann Bestand haben, wenn die Bedrohungssituation bewältigt ist.

Die »befreiten Zonen« El Salvadors, die »Widerstandsdörfer Guatemalas« oder die Ansätze des poder popular in ELN-beeinflussten Zonen Kolumbiens haben sich in der Nachbetrachtung als Teil einer Überlebensstrategie herausgestellt und nicht als egalitäre bzw. libertäre Keimzellen einer neuen Gesellschaft. Wir sollten die kurdischen Enklaven mit Erwartungen in puncto Gesellschaftsveränderung nicht überfrachten. Bedroht von schrecklichen Gegnern, verdienen diese Enklaven alle nur erdenkliche Solidarität.

Albert Sterr lebt in Nürnberg. Er schreibt seit vielen Jahren über Lateinamerika.

Anmerkungen:

1) Werner Balsen und Karl Rössel: Hoch die Internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte-Welt-Bewegung in der Bundesrepublik. Köln 1984.

2) Mythos nationale Befreiung. Graswurzelrevolution 232, 10/1998.

3) Gruppe Demontage: Postfordistische Guerilla - Vom Mythos nationaler Befreiung. Münster 1998.

4) In ak 397 (Dezember 1996) wurde unter dem Titel »Der Sieg ist nicht mehr gewiss. Die Entwicklung internationalistischer Politik in ak und KB« eine ausführliche und selbstkritische Bilanz vorgelegt.

5) Internationalistische Praxis nach dem Internationalismus. Phase 2 - Nr. 37, Herbst 2010.

6) Einleitung von Theo Bruns in: radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke. Berlin 2003.

ak-Debatte um internationale Solidarität

Der Kampf um Kurdistan hat auch die Debatte über linken Internationalismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Einige Diskussionsbeiträge sind dokumentiert in unserer Broschüre »Kampf um Kurdistan. Der Aufstieg des Islamischen Staates und das Revival des linken Internationalismus«. In ak 600 diskutierten Aktivist_innen über Rojava-Solidarität und Lernprozesse in der Linken. Mit dem vorliegenden Beitrag setzt Albert Sterr die Debatte fort.