Vom Hoffnungsträger zum kleineren Übel
International Substanzielle Veränderungen sind von SYRIZA nicht zu erwarten
Von Heike Schrader
Für die einen ist er ein Schreckgespenst, für die anderen ein Hoffnungsträger. Von seinen Anhänger_innen wird Alexis Tsipras schon mal als »griechischer Chaves« bezeichnet oder mit Salvador Allende verglichen, vor dessen Schicksal es den voraussichtlich nächsten griechischen Ministerpräsidenten zu bewahren gelte. Für seine Gegner_innen dagegen ist er ein »charmanter Brandstifter« (Spiegel online, 29.12.14) oder eine Art »griechischer Bodo Ramelow«. (Frankfurter Rundschau, 3.1.15) Die Krone für Verleumdung gebührt dabei wieder einmal der Bildzeitung, die am Silvestertag in klarer Anspielung auf die antisemitische Hetzschrift »Protokolle der Weisen von Zion« Europa vor den »Hetz-Protokollen des linken Griechen« zittern sah.
Fakt ist, dass die Wähler_innen in Griechenland am 25. Januar 2015 nur zwei Alternativen haben: entweder die bisherige Politik zu bestätigen und Samaras erneut zum Ministerpräsidenten zu machen oder aber es mit einer Linksregierung unter Alexis Tsipras zu versuchen. Denn keine andere der zahlreichen antretenden Parteien hat auch nur den Hauch einer Chance, als Siegerin aus den Wahlen hervorzugehen.
Hoffnung auf Verbesserungen für Millionen
Für die über 1,5 Millionen Arbeitslosen oder die mehr als drei Millionen aus allen sozialen Netzen, inklusive des Zugangs zum Gesundheitswesen Herausgefallenen wäre jede noch so kleine Verbesserung, die eine Linksregierung in Griechenland umsetzen könnte, eine Erleichterung im täglichen Überlebenskampf. Das gilt ebenso für die von der - gekürzten - Rente der Oma überlebenden Familien wie für die Hunderttausenden, denen Strom und Wasser wegen unbezahlter Rechnungen abgedreht wurden oder der Verlust des letzten Refugiums in Form einer eigenen Wohnung droht, weil man den Bankkredit oder die Immobiliensondersteuer nicht bezahlen kann.
Bewegungen und Linke dagegen sehen der Aussicht auf eine SYRIZA-Regierung mit mehr als nur gemischten Gefühlen entgegen. Denn das in den Bewegungen verankerte Linksbündnis, das im Sommer 2012 mit einem durchaus radikal zu nennenden Programm nur knapp gescheitert war, gibt es nicht mehr. Aus ihm wurde eine straff hierarchisch und zentralistisch organisierte Partei, deren Programm bestenfalls noch gut linkssozialdemokratisch genannt werden kann.
Nur ein Jahr nach den Wahlen wurde, auf dem Parteitag im Juli 2013, dieser Prozess mit dem Beschluss abgeschlossen, alle bisher in SYRIZA organisierten Parteien und Organisationen hätten sich »in angemessener Zeit« aufzulösen und deren Mitglieder in der nun als Einheitspartei konzipierten SYRIZA zu organisieren. Zwar haben ihn bis heute einige wenige Organisationen nicht umgesetzt, es schwebt jedoch als Damoklesschwert über ihnen, dass bei Abweichen von der Linie ein Rausschmiss aus der Linkspartei die Folge sein könnte. Die Rolle der innerparteilichen linken Opposition fällt seitdem fast ausschließlich der als Fraktion organisierten Linken Plattform und deren bekanntestem Sprecher Panagiotis Lafazanis zu.
In der Folge kam es immer wieder zu Alleingängen der SYRIZA-Führungsriege. So wurden beispielsweise die Kandidat_innen für die Europawahlen im Mai 2014 ohne Absprache mit den regionalen Parteistrukturen bestimmt. Unterdessen begab sich Parteichef Tsipras, ebenfalls oftmals ohne Konsultation der Parteigremien, auf Tournee. Zum Beispiel nach Lateinamerika, allerdings nicht etwa nach Venezuela oder Kuba, sondern überall dahin, wo ihn möglichst hochrangige Vertreter_innen des Staates empfingen. Oder zu zahlreichen Veranstaltungen von Spitzenkräften der Wirtschaft, wie beispielsweise im vergangenen Dezember in London oder bereits davor in New York.
Tsipras hielt Reden auf diversen Wirtschaftsforen, traf sich mit den einheimischen Unternehmerverbänden und mit Vertreter_innen der Troika in Brüssel und Berlin. Kurz gesagt, er unternahm alles, um das Bild vom Enfant terrible zu korrigieren und sich als verlässlicher Staatsmann zu präsentieren, dessen Regierung die internationale Vertretung des Kapitals gelassen entgegensehen könne.
Abgerundet wurde dieses Bild durch Besuche bei diversen Kirchenvertretern. Dabei konnte man der Audienz eines atheistischen linken Politikers beim wahrscheinlich fortschrittlichsten Papst seit Jahrhunderten auch angesichts der Verteufelung desselben durch die griechisch-orthodoxe Kirche noch etwa abgewinnen. Allerdings dürfte nicht nur Feministinnen der Besuch von Tsipras beim reaktionären und skandalverstrickten Oberhaupt der für Frauen verbotenen Mönchsrepublik Athos (Agion Oros) übel aufgestoßen sein.
SYRIZA hat programmatisch abgespeckt
Doch die Basis der Partei dient mehr und mehr nur noch als Kulisse für die grandiosen Medienauftritte des Parteivorsitzenden: Ein von Samstagabend bis Sonntagnachmittag angesetzter Zwischenparteitag am ersten Januarwochenende, auf dem das Wahlprogramm verabschiedet werden sollte, wurde bereits Samstag um Mitternacht, nur vier Stunden nach der pünktlich zur Hauptnachrichtensendezeit gehaltenen Rede von Tsipras, beendet. Zahlreiche Delegierte mussten wieder nach Hause fahren, ohne ihre Vorschläge eingebracht haben zu können. Eine Abweichung von dem in Thessaloniki vorgestellten Programm war offensichtlich nicht vorgesehen.
Gleichzeitig wurde bei SYRIZA programmatisch abgespeckt. Im Programm von 2012 wurde als erste Amtshandlung einer SYRIZA-Regierung die Annullierung der Gläubigermemoranden und aller Gesetze zu ihrer Umsetzung angekündigt. Das derzeit gültige, im vergangenen September in Thessaloniki vorgestellte »Programm für den nationalen Wiederaufbau« spricht nur noch von der Rücknahme einzelner Maßnahmen und der Neuverhandlung der griechischen Staatsschulden. Übernommen wurden nur die Zielsetzung der Streichung eines Großteils der Schulden und die Rückzahlung des Rests abhängig vom Wirtschaftswachstum des Landes.
Ganze im Programm von 2012 enthaltene Themenkomplexe kommen im neuen Programm von Thessaloniki nicht mehr vor. Dazu gehört die Ankündigung der Auflösung der Bereitschaftspolizei und des Verbots des Einsatzes von chemischen Kampfstoffen wie Tränengas gegen Demonstratant_innen. Kein Wort mehr über eine weitreichende Gleichstellung von im Land lebenden Migrant_innen mit griechischen Staatsbürger_innen oder die Ausstellung von Reisedokumenten für all diejenigen, die nicht hierbleiben wollen. Keine Rede mehr von der Abschaffung aller Steuerprivilegien für Reeder und die orthodoxe Kirche. Auch die 2012 niedergeschriebene Verpflichtung, keine Entscheidung ohne Mitsprache der Betroffenen zu treffen, fehlt im derzeitigen Programm.
Potenzielle Verbündete oder Gegner?
Viele Linke argumentieren angesichts dieses offensichtlichen Rückschrittes, die Bewegung müsse ihrerseits Druck ausüben, damit SYRIZA diese Punkte wieder aufgreife und auch wirklich umsetze. Beispielhaft dafür steht das »Netzwerk für politische und soziale Rechte«. Die jüngste Ausgabe ihrer Zeitschrift enthält ein achtseitiges Dossier mit den Erwartungen der Linken an eine SYRIZA-Regierung, das viele dieser Punkte anspricht. Dabei macht sich die Linke jedoch in weiten Teilen Illusionen, was die Haltung der SYRIZA-Führungsriege zur Bewegung angeht: Trotz anderer Äußerungen besäße die Bewegung lediglich keine Priorität für die einseitig auf die etablierten Institutionen fixierte SYRIZA-Führung. Nur dem anarchistischen Spektrum ist klar, dass SYRIZA in einer Bewegung, die sich nicht den eigenen Zielen unterordnen lässt, keine potenzielle Verbündete, sondern eine Gegnerin sehen wird.
Für die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) dagegen war SYRIZA von Anfang an nichts anderes als eine andere Art der Systemverwaltung im Interesse des Kapitals. Das ist nicht verwunderlich, geißelt die Partei doch beispielsweise den in Venezuela eingeschlagenen Weg eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts als gefährliche Abweichung oder sieht in den diversen Bewegungen der Empörten nur Marionetten des Kapitals. Mit ihrer rigorosen Verweigerung auch nur einer Tolerierung einer Linksregierung ist die KKE dabei nicht ganz unschuldig am vollzogenen Rechtsruck von SYRIZA. Dem KKE-Modell einer als Diktatur des Proletariats bezeichneten Diktatur des eigenen Zentralkomitees in einem nach Art der DDR organisierten Staat hingegen mangelt es an Anziehungskraft. Die Massen lassen sich jedenfalls nicht revolutionären Taten hinreißen.
Ohne gehörigen Druck von den Bewegungen wird eine SYRIZA-Regierung wahrscheinlich nicht mehr als einige kleine materielle Verbesserungen für die von der Austeritätspolitik drangsalierte Bevölkerung zu bieten haben. Ihr Scheitern birgt darüber hinaus die Gefahr, dass die Rechte stärker und reaktionärer denn je an die Regierung zurückkehren könnte. Das angebliche Schreckgespenst hat für das Kapital längst jeden Schrecken verloren, aus der einstigen Hoffnungsträgerin ist wieder einmal das kleinere Übel geworden. Die entscheidende Kraft für substanzielle Veränderungen aber bleiben nach wie vor die Bewegungen. Auf der Straße, in den Stadtvierteln und Betrieben, nicht in den Parlamenten.
Heike Schrader ist freie Journalistin und lebt in Athen.