Bedeutung über Griechenland hinaus
Diskussion Am 25. Januar wird sich entscheiden, ob die Machbarkeit von Geschichte mehr ist als ein linkes Gerücht
Von Mario Neumann und Margarita Tsomou
Wer hätte das vor wenigen Jahren gedacht: Die Wahl zu einem nationalen Parlament ist Schauplatz eines politischen Antagonismus. Ein Urnengang kann den zwischenzeitlich still gestellten Konflikt um das deutsch-europäische Krisenkommando wieder verschärfen. Eine Wahl ist diesmal nicht zuerst eine Chance der Herrschaft zur Eingemeindung außerparlamentarischer Bewegungen, sondern deren Gelegenheit, aus einem politischen Ritual ein soziales Referendum zu machen.
Am 25. Januar 2015 schauen wir alle nach Griechenland. Nicht, weil wir glauben, dass dort ab dem 26. Januar Milch und Honig fließen. Sondern weil hier der gesellschaftliche Widerstand gegen die Kaste des europäischen Krisenregimes antritt und einen Sieg erringen kann - und das trotz der Abgeschlossenheit des postdemokratischen Parlamentarismus, der solche Siege auf seinem ureigenen Terrain schon längst nicht mehr eingeplant hat. Dieser möglich gewordene Umbruch wäre nicht nur der Sieg einer linken Partei. Er wäre ebenso ein Sieg nach fünf Jahren erbitterter Kämpfe der griechischen Bevölkerung.
Für uns ist diese Wahl daher keine gewöhnliche. Uns interessiert vor allem das, was sie zu diesem Ungewöhnlichen macht. Zu nennen wäre da - erneut und trotzdem zuallererst -, dass der zu erwartende Regierungswechsel Ergebnis einer gesellschaftlichen Mobilisierung ist, die die über Jahrzehnte währende Kontinuität des politischen Establishments - zum ersten Mal in der jüngsten griechischen Geschichte - unterbrochen hat.
Ergebnis gesellschaftlicher Mobilisierung
Die Bedeutung von SYRIZA ist nur erklärbar in diesem Rückgriff auf den Mai 2011, als weite Teile der griechischen Bevölkerung mit den Platzbesetzungen ein Ereignis schufen, an dem in der Folge eine neue Politik des Gemeinsamen anknüpfte. Diese hat mit dem Aufbau von Solidaritätsinitiativen, Nachbarschaftsstrukturen und politischen Organisationen tiefe Spuren im gesellschaftlichen Alltag hinterlassen. Fast alle diese Akteure gruppieren sich heute auf die ein oder andere Weise um SYRIZA, ohne dabei Parteivolk zu sein.
Trotz aller Proteste und Alltagskämpfe ist die Troika-Regierung aber weiter im Amt. Trotz allem gehen die sozialen Angriffe weiter. Aus der Perspektive der Bevölkerung ist die nun aufgeworfene Machtfrage daher überfällig. Dass sie sich gerade in Form einer Wahl stellt, liegt dabei einfach daran, dass es derzeit an einer realitätsgerechten strategischen Alternative dazu mangelt. SYRIZA steht so als Wahlpartei für einen unumgänglichen nächsten Schritt. Wir könnten uns das anders wünschen. Es ist jetzt aber so. Und es ist leicht zu verstehen, warum es so gekommen ist.
Wer Samaras abwählt, wählt auch Merkel ab
Die europäische Dimension der Wahl ist dabei offensichtlich. Erstens: Wer Samaras abwählt, wählt auch Merkel ab und konfrontiert das Berliner Kommando mit einem alternativen gesellschaftspolitischen Pfad. Zweitens: Wenn sich in Griechenland eine Mehrheit der Behauptung einer global geltenden Alternativlosigkeit verweigert, ist dies ein ernsthaftes Problem für ein Politikmodell, dessen ganze Existenz auf eben dieser Behauptung beruht. Und kommt es in Athen tatsächlich zu einer von SYRIZA gestellten Regierung, wird drittens die Machbarkeit von Geschichte wieder mehr als ein linkes Gerücht sein.
Läuft das gewählte SYRIZA-Personal dann nicht zum Establishment über und kommt es wirklich zu einer Regierung des Protests, dann hätte die linke Anrufung einer Alternative in ganz Europa einen realitätstüchtigen und machtvollen Platzhalter.
Der Verlauf einer solchen Regierung lässt sich nicht durch eine Wesensschau von SYRIZA vorhersagen. Sie wird durch die Spielräume entschieden werden, die die europäischen und griechischen Auseinandersetzungen eröffnen. Um das gesellschaftliche Klima hierfür zu bereiten, sind wir alle und insbesondere wir in Deutschland zu unserem Beitrag aufgefordert - auf der Straße, bei Blockupy.
Niemand hat die Einsicht in die Grenzen parlamentarischer Politik vergessen. Es geht um das, was gerade trotz dieser Grenzen möglich geworden ist. Niemand muss die griechische Linke schulmeisterlich über die Erfahrungen linker Regierungsprojekte aufklären. Sie steht gerade nicht zuerst vor der Frage, wie linke Utopien Wirklichkeit werden können, sondern wie eine humanitäre Katastrophe bearbeitet werden kann - wie man den abgeklemmten Strom umsonst wieder anschließen und eine Gesundheitsversorgung aller garantieren kann.
Doch um genau dieses »Wenige« zu tun, müssen die Bastionen der Herrschenden gestürmt und die Grenzen dessen, was als »realistisch« gilt, überwunden werden. Darin ist das »Wenige« aktuell vielleicht das Wesentliche, das den Unterschied ausmacht und den Bruch symbolisiert. In der Gleichgültigkeit für diese Feinheiten blamiert sich die pseudoradikale deutsche Leier der Reformismuskritik, die immer nur die kompromisslose Treue zu einem Projekt beschwört, das in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Alles ist offen, erst recht am Montag danach: Wie muss eine Partei aussehen, deren Kraft sich auf soziale Kämpfe stützt? Kann es eine Regierungsmacht geben, die die Commons unterstützt, ohne sie zu instrumentalisieren? Wie sieht eine neue Form von Regierung aus, die die Staatsapparate in die Gesellschaft öffnet? Und: Wie könnte eigentlich ein dann notwendiger zweiter Aufbruch der Bewegungen aussehen?
Wir sollten nicht zu viel erwarten und der Hoffnung trotzdem eine Chance geben. Was passieren wird, weiß niemand. Und das ist vielleicht ein ernst zu nehmendes Indiz: für ein mögliches Erwachen von Geschichte.
Mario Neumann und Margarita Tsomou leben in Berlin und sind im Moment vor allem mit Griechenland-Solidarität beschäftigt.