Neue Motive, alte Klischees
International Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo wird viel über die islamistischen Täter, aber kaum über Antisemitismus gesprochen
Von Aurélie Audeval
Nach dem Massaker in den Redaktionsräumen der Zeitung Charlie Hebdo und der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt in Paris stellt sich der Eindruck ein, dass zwar alle die Taten verurteilen und die Opfer betrauern, aber die antisemitische Dimension kaum benannt wird. Omnipräsent ist das Bekenntnis »Je suis Charlie«, kaum zu sehen ist »Je suis juif«. Zwar ist auch »Je suis une épicerie casher« (»Ich bin ein koscherer Supermarkt«) als Solidaritätsbekundung zu sehen, aber gleichzeitig werden die jüdischen Opfer entnannt, die Namen der Ermordeten tauchen kaum auf. Yohan Cohen, Philippe Braham, Yoav Hattab und Francois-Michel Saada sind aber als Juden und Jüdinnen von dem Jihadisten Amedy Coulibaly ermordet worden.
Aber nicht überall bleiben Reaktionen aus. Die französische Regierung verurteilte die Tat als antisemitisch. Staatspräsident François Hollande machte in einer Fernsehansprache sehr deutlich, dass es sich um einen »schrecklichen antisemitischen Akt« handelt. Innenminister Bernard Cazeneuve ließ einen Tag nach dem Anschlag die Polizei vor 717 jüdischen Schulen und Synagogen verstärken. 4.700 Polizist_innen sollen eingesetzt werden - unterstützt vom Militär.
Antisemitische Attacken sind in Frankreich jedoch leider nichts Neues. Seit Mitte der 2000er Jahre gibt es eine Welle antisemitischer Angriffe, mitunter mit tödlichem Ausgang. Im Januar 2006 wurde Ilan Halimi entführt und zu Tode gefoltert. Die Täter der »gang des barbares« (Bande von Barbaren), angeführt von Youssouf Fofana, wählten Ilan Halimi aus, weil er »als Jude reich sein soll«.
Im März 2012 wurden Jonathan, Gabriel und Aryeh Sandler sowie Myriam Monsonégo im jüdischen Ozar-Hatorah-Collège in Toulouse von Mohamed Merah erschossen - weil sie jüdisch waren. Auch der Anschlag auf das Jüdische Museum von Belgien, bei dem im Mai 2014 in Brüssel vier Menschen durch Schüsse ermordet wurden, ging auf das Konto eines französischen Staatsbürgers.
Deutlich mehr antisemitische Übergriffe
Schon zuvor stieg laut der Nationalen Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) die Zahl antisemitischer Zwischenfälle in Frankreich an, allein zwischen 2003 bis 2004 um 61 Prozent - die Zahl antisemitischer Übergriffe an Schulen verdreifachte sich. Laut einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte beobachten 88 Prozent der französischen Juden und Jüdinnen eine zunehmende Feindseligkeit. Fast 50 Prozent erwägen eine Auswanderung nach Israel. Das sind mehr als in Ungarn. 2014 sind 6.000 französische Jüdinnen und Juden nach Israel ausgewandert; 2013 waren es noch 3.400. Obwohl der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung weniger als ein Prozent ausmacht, sind Jüdinnen und Juden nach offiziellen Zahlen Ziel von 40 Prozent aller rassistischen Angriffe. (1)
Seit den 2000er Jahren haben sich jedoch die Motive der Angriffe verändert. Der traditionelle, extrem rechte Antisemitismus ist in Frankreich kaum noch Urheber antisemitischer Gewalt. Die meisten rechten Grüppchen haben ihren Judenhass gegen Araberhass und islamfeindlichen Rassismus eingetauscht. Manche, etwa der Komiker Dieudonné M'bala M'bala oder der Essayist Alain Soral, versuchen ihren Antisemitismus durch vorgeschobene propalästinensische Positionierung neu aufzustellen. Die Täter_innen und die Motivation sind jetzt aber andere.
So auch bei den jüngsten Morden in Paris. Die Gewalttaten werden von jungen Männern ausgeübt, die in keinerlei Verbindung mit der französischen extremen Rechten stehen. Sie haben auch nichts mit der Pro-Palästina-Bewegung zu tun. Die Motive ihrer Attacken sind antisemitisch - weil sie glauben, Juden und Jüdinnen seien reich, würden vom französischen Staat bevorzugt oder gehörten irgendeiner geheimen Weltmacht an. Sie haben sich also die klassischen antisemitischen Klischees angeeignet.
So argumentierte etwa Youssouf Fofana von der »gang des barbares«, dass »Juden Geld hätten« und Teil einer geheimen Weltmacht wären: Während Juden Geld hätten, werde er als Schwarzer nur als Sklave wahrgenommen. Die neuen Täter_innen, wie auch Youssouf Fofana, kommen aus sozial benachteiligten Milieus, haben einen postkolonialen Migrationshintergrund und werden meist in irgendeiner Form rassistisch diskriminiert. Ihr Antisemitismus zeigt sich darin, dass sie die soziale, rassistische und wirtschaftliche Unterdrückung, die sie täglich erleben und die gesellschaftlich nicht anerkannt wird, auf Jüdinnen und Juden projizieren.
Antisemitismus wird »nach außen« projiziert
Die rassistische Diskriminierung gegen Schwarze und Araber_innen nimmt selten die Form von unmittelbarer oder physischer Gewalt an. Die Rassismusopfer gehen nur selten juristisch dagegen vor, besonders dann, wenn sie von staatlichen Instanzen wie Schulen oder Polizei rassistisch diskriminiert wurden. Die gesellschaftliche Verleugnung der kolonialen Geschichte Frankreichs führt vor diesem Hintergrund zu einer »Opferkonkurrenz« gegenüber den jüdischen Gemeinden. Der Holocaust ist im Gegensatz zur Kolonialgeschichte in Frankreich offiziell anerkannt.
Das führt wiederum dazu, dass die Reaktionen auf die Anschläge wiederum selbst rassistisch sind und dass der Antisemitismus der französischen Gesellschaft selbst »nach außen« projiziert wird. Der Kampf gegen Antisemitismus, genau wie der für Frauenrechte, wird von konservativen Kräften ausgenutzt, um ihn als Teil der westlichen Zivilisation zu markieren. Anhänger_innen der These vom »Clash of Civilizations« (Huntington) verwenden die Abgrenzung vom Antisemitismus, mit dem man natürlich nichts zu tun hat, um sich als Teil der Zivilisation zu definieren. Es ist eine ungewöhnliche Situation, in der die Opfer des Antisemitismus von Staat und konservativen Kräften einerseits anerkannt und geschützt werden, während gleichzeitig in ihrem Namen die soziale Ausgrenzung beibehalten wird.
Antisemitismus, wie andere Formen von Rassismus auch, ist ein System. Er kommt nicht nur von »unten« und drückt sich nicht nur in Gewalt aus. Nur wenige Minuten in geselliger Runde in einem Café oder einer Bar zeigen schnell, dass Antisemitismus immer präsent ist - egal welcher Herkunft, sozialer Klasse oder welchen Geschlechts jemand ist.
Strukturelle Analysen von Antisemitismus gelten sehr schnell als Form der Rechtfertigung. Sie sollten aber ganz im Gegenteil ein Schlüssel sein, um eine politische Antwort auf Antisemitismus zu geben. Sie sind ein Versuch, den allgemeinen Hass, der sich in Frankreich verbreitet, zu bekämpfen. Antisemitismus ist in Frankreich 2014 eine Realität, die blutige Konsequenzen hat - und in der französischen Linken leider zu wenig thematisiert wird.
Der Kampf gegen Antisemitismus in Frankreich bedeutet auch, einen anderen Umgang mit der Vergangenheit zu finden. Erstens darf der Antisemitismus nicht weiter als externes Phänomen betrachtet werden. Es muss Schluss sein mit einer nationalen Geschichtsschreibung, die die französische Verantwortung leugnet und die Mittäterschaft am Holocaust unter dem Vichy-Regime als »Ausnahme« bezeichnet. Und zweitens muss endlich die französische Kolonialgeschichte offiziell anerkannt werden.
Eine derartige Auseinandersetzung mit der französischen Geschichte könnte dazu beitragen, Muslim_innen nicht mehr einfach als »strukturelle Antisemiten« zu stigmatisieren, und könnte helfen, Islamfeindlichkeit zu bekämpfen. Natürlich kann das nur dann funktionieren, wenn gleichzeitig weiterhin antisemitische Klischees kritisiert und auseinandergenommen werden - und Solidarität mit den Opfern von Antisemitismus gezeigt wird.
Aurélie Audeval lebt meistens in Paris, ist Kiezaktivistin und promoviert über die Geschichte von Vichy.
Anmerkung:
1) »Rapport sur l'antisemitisme« von 2013, antisemitisme.org/rapport-2013.
Was heißt Meinungsfreiheit?
Kann man über die Morde an den Charlie-Hebdo-Redakteur_innen diskutieren, ohne sich in die Gegenüberstellung »westliche Meinungsfreiheit« vs. »Islam« einzureihen? »Charlie Hebdo ging es nicht um Meinungsfreiheit, sondern um die Freiheit zu beleidigen. Und die muss verteidigt werden - gegen die Mörder von Paris, gegen alle Versuche, die Zeitung als Flaggschiff westlicher Werte zu vereinnahmen, aber auch gegen jene, die die Trauer um zwölf Menschen durch Aber-Sätze entwerten.« Das schrieben wir am 8. Januar auf der ak-Facebookseite und verlinkten auf einen Beitrag von Arthur Goldhammer auf Aljazeera America. Goldhammer argumentierte dort, Charlie Hebdo nehme Protestant_innen, Katholik-Innen, Jüd_innen und Muslime gleichermaßen aufs Korn; die Zeitschrift stehe in der anarchischen und vulgären humoristischen Tradition Frankreichs, die Geschmacklosigkeit und Blasphemie geradezu zur Voraussetzung habe. Denn Wurzeln der Satire à la Charlie Hebdo, so Goldhammer, lägen in einer Zeit, als Kritik an den weltlichen Autoritäten zugleich bedeutete, alles Heilige und Sakrale herauszufordern. (Weshalb er auch empfiehlt, die Karikaturen nicht durch Nachdruck ihrerseits zu sakralisieren und zur abstrakten Verkörperung der Idee der Meinungsfreiheit zu machen.) Insofern: Ja, viele Karikaturen in Charlie Hebdo sind obszön, beleidigend und verletzen religiöse Gefühle, und diese Haltung hat ihre Berechtigung. Doch der gesellschaftliche Kontext ändert sich, und damit entstehen neue Fragen. Zum Beispiel: Wo verläuft im Europa des antimuslimischen Rassismus die Grenze zwischen Blasphemie und der Reproduktion antimuslimischer, rassistischer Stereotype? Kann es egal sein, wie eine weiße Redaktion schwarze Menschen darstellt? Oder wie eine mehrheitlich männliche Redaktion über Frauen lacht? An der Auseinandersetzung darum, wem Satire in die Hände spielt und wen sie herabsetzt, kommen wir nicht vorbei. Ebensowenig an der Solidarität mit den Redakteur_innen von Charlie Hebdo.