Chancen und Brüche in Zeiten der Krise
Diskussion Wie die Welt verändern? Über Sackgassen und Auswege
In Deutschland wird unter Linken seit Gründung der Linkspartei wieder verstärkt über die Eroberung der staatlichen Machtzentren nachgedacht. Neuen Zuspruch erhielt diese Strategie kürzlich durch das Erstarken von SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien. Die neu entflammte »linke Leidenschaft für den Staat« (Joachim Hirsch) ist für uns Grund genug, den Nutzen linker Parteipolitik einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
Von John Mallory und Juan Miranda
Während die Stabilität und Starrheit der Verhältnisse manch linke Aktivist_in in der Vergangenheit zur Verzweiflung trieb, sind seit 2008 die Zeiten relativ stabiler kapitalistischer Entwicklung vorbei. Unsichere Zeiten stehen bevor. Dafür sehen wir drei Gründe.
Erstens. Die Verwertungskrise des Kapitals 2008 war erst der Anfang. Eine sich abzeichnende große Weltwirtschaftskrise wurde aufgeschoben, die Ursachen beseitigen konnte das Krisenmanagement nicht. Massive staatliche Interventionen verschafften Staat und Kapital eine Atempause. Diese Interventionen bestanden im Wesentlichen in der Sozialisierung von Bankenschulden, dem Aufkauf von Staatsanleihen, gezielten Subventionierungsprogrammen für bestimmte Industriezweige und vor allem der Niedrigzinspolitik und dem Aufkauf von Wertpapieren durch die Zentralbanken. All diese Maßnahmen haben unproduktives Kapital im Interesse der jeweiligen Staaten erhalten, die Blasen an den Finanzmärkten weiter aufgebläht und die Umverteilungsdynamik zugunsten der Reichsten verstärkt. Kurz: Mit den Krisenmaßnahmen 2008ff wurde die Grundlage für einen globalen Crash auf höherem Niveau mit noch dramatischeren Folgen gelegt.
Zweitens. Die rasante Entwicklung der Produktivkräfte erzeugt weltweit massenhaft Menschen, die für den Kapitalprozess überflüssig sind. Die Verarmung und Marginalisierung großer Massen der Bevölkerung, verbunden mit dem Verlust des Glaubens an eine nachholende Modernisierung, war die Grundlage der Aufstände im arabischen Raum ab dem Jahr 2011. Dort, wo der Anschluss an die kapitalistischen Zentren einigermaßen zu gelingen scheint, kommt es hingegen vermehrt zu Verteilungskämpfen und Widerstand gegen die Brutalität des kapitalistischen Modernisierungsprozesses - vor allem in China und Indien. Für all diese Menschen erfüllt sich das kapitalistische Glücksversprechen nicht.
Drittens. Der globale Siegeszug des Kapitalismus nach dem Ende der Sowjetunion hat die Welt nicht friedlicher werden lassen, im Gegenteil. Aus der ehemals bipolaren Welt ist eine politisch und ökonomisch multipolare Weltordnung hervorgegangen. Kennzeichnend für diese ist eine global etablierte kapitalistische Konkurrenz der Standorte um Kapital, Märkte und knapper werdende Rohstoffe.
Von der Weltmarktkonkurrenz getrieben, ordnen die Staaten alle gesellschaftlichen Bereiche den Verwertungsanforderungen des Kapitals unter. Mitbestimmung, demokratische Beteiligung und soziale Sicherheit werden dabei tendenziell als Hindernisse betrachtet und geschliffen. Daraus folgen soziale Auseinandersetzungen, aber auch kriegerische Konflikte in einem Ausmaß, wie es die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat.
Chancen: Brüche, Erkenntnis, Widerstand
Das klingt dramatisch, und das ist es auch. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass alle großen Weltmarktkrisen heftige Streikbewegungen und Jahre/Jahrzehnte heftiger sozialer Auseinandersetzungen nach sich gezogen haben. Auch 2008ff entstanden rund um den Globus neue Bewegungen und Aufstände, die sich in Verlaufsform, Zielen und Mitteln ähnelten. Der Krisenprozess vereinheitlicht also die Kämpfe in ihrer Tendenz, das Internet vereinfacht eine gegenseitige Bezugnahme.
Krisen sind Zeiten der Verunsicherung. Mit ihnen geraten nicht nur die Verhältnisse und das Massenbewusstsein in Bewegung. Menschen machen gemeinsame Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen und beteiligen sich an defensiven Kämpfen, die sich ausweiten und radikalisieren können. Etablierte Organisationen und Institutionen - Parteien, Großgewerkschaften usw. - haben keine glaubwürdigen Alternativen anzubieten. Natürlich führt die Krise des Bestehenden weder zwangsläufig noch plötzlich zur Erleuchtung der Massen. Was aber sehr wohl möglich ist, sind kleine Erkenntnisgewinne vieler und damit eine deutliche Verbesserung der Voraussetzungen für eine grundlegende Revolutionierung der Verhältnisse.
In der ersten Welle der Krisenkämpfe seit 2008 kam es in Frankreich, Griechenland, Spanien und Portugal zu einer Vielzahl von Generalstreiks. Die Wirkung blieb aus, die Regierungen blieben hart und führten ihren Sanierungskurs fort. Auf staatlicher Ebene war durch symbolischen Protest, begrenzte Ausschreitungen und Ausstände also kaum etwas zu erreichen. Dessen ungeachtet wurde die kapitalistische Standortpolitik in Folge der Krise intensiviert. In einer zweiten Welle entstanden vor allem in Griechenland und Spanien viele emanzipatorische selbstorganisierte Basisprojekte: Etwa die Bewegung gegen Zwangsräumungen, selbstorganisierte Projekte im Gesundheitsbereich und soziale Zentren.
Zurzeit beginnt eine dritte Welle der Krisenkämpfe. Anlass sind die Versuche, Arbeitsmarktreformen und soziale Kürzungen, wie sie in Großbritannien und Deutschland längst durchgesetzt sind und seit 2010 in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland durchgesetzt werden, auf Staaten wie Italien, Frankreich oder Belgien auszuweiten. Ein Problem für die Bewegungen, die dagegen Widerstand leisten, ist allerdings die relative Ruhe in Frankreich und insbesondere in der BRD. Sie hat auch mit der Schwäche der Linken zu tun. Denn Gründe zu kämpfen gibt es auch im Wirtschaftswunderland genug. Die Arbeitslosigkeit in Südeuropa findet ihre Entsprechung hierzulande in Arbeitsverdichtung, Burnout und einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Outsourcing, Leiharbeit, Werkverträge und Ämterschikane haben den Niedriglohnsektor in Deutschland zwischen 1996 und 2010 von 15 auf 21 Prozent anwachsen lassen. Steigende Mieten führen zur Verdrängung der größer werdenden Teils der armen Bevölkerung aus den Zentren. Gerade die Prekarisierten führten in den letzten Jahren auch in der BRD Kämpfe, eine erfolgreiche Teilnahme Linker und eine antikapitalistische Stoßrichtung gab es allerdings nur selten.
Als die SPD im Bündnis mit den Grünen Anfang der 2000er Jahre endgültig von Welfare auf Workfare umschaltete, löste sie damit einen in der Geschichte der BRD beispiellosen Prekarisierungsschub aus. Die Arbeitsmarktderegulierungen (Leiharbeit etc.), das Prinzip des »Fördern und Fordern«, ALGII, Bezugskürzungen, Überwachungsmaßnahmen, aufgezwungene Schulungsmaßnahmen, Annahmepflicht von »zumutbarer« Arbeit und Ein-Euro-Jobs wurden als das verstanden, was sie waren: Ein großangelegter Angriff auf die Armen - Maßnahmen, um Einkommen und Lebensstand zugunsten des Kapitals senken. Das ließ Betroffene und Bedrohte gleichermaßen aufbegehren.
Die Schwäche der Linken
Alleingelassen, ohne parlamentarische Repräsentation und ohne Unterstützung durch die DGB-Gewerkschaften, gingen 2003/4 zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Unterklassen auf die Straße. Am 30. August 2004 demonstrierten in über 200 Städten mindestens 200.000 Menschen gegen Hartz IV. Zuvor hatten am 1. November 2003 in Berlin etwa 100.000 gegen die Hartz-IV-Gesetze demonstriert. Die Demonstrationen wurden von Betroffenen und gewerkschaftlichen Basisstrukturen an den DGB-Gewerkschaftsspitzen vorbei organisiert. Letztere hatten die Agenda 2010 lediglich als »sozial unausgewogen« bezeichnet.
Die Partei als Dienstleister der Bewegung?
Es gelang der radikalen Linken jedoch nicht diese Chance zu nutzen. Zwar gab es durchaus gute Aktionen und Kampagnen - wie die Kampagne Agenturschluss oder die Überflüssigen - doch fehlten den meisten Linken ein grundlegendes Verständnis der Bewegung, persönliche Kontakte und eine gemeinsame soziale Sprache. Stattdessen hielten sich die meisten Linken raus oder beschränkten sich darauf, von der Seitenlinie zu kommentieren. Die entstandene Repräsentationslücke wurde kurze Zeit später von der Linkspartei geschlossen.
Auf Menschen zugehen, Perspektiven teilen und übernehmen, Koalitionen mit Zusammenhängen aus anderen Milieus eingehen, Szenegewohnheiten in Frage stellen und Widersprüche thematisieren, statt sie zu vermeiden: Das sind Aufgaben, denen sich die radikale Linke stellen muss.
Abkürzung in die Sackgasse
Selbstorganisiert neue Praxen ausprobieren, neue Allianzen schmieden und neue Organisierungsansätze etablieren kann anstrengend sein. Die Forderung nach einer stärkeren Verzahnung von Partei und Bewegung ist unseres Erachtens ein Versuch, diesen langwierig erscheinenden Weg zu umgehen. Sei es SYRIZA in Griechenland, Podemos in Spanien oder die Linkspartei in Deutschland.
Dass die ersten beiden Wellen der Krisenkämpfe die Austeritätspolitiken nicht zu Fall gebracht haben, bringt beispielsweise Mario Neumann von der Interventionistischen Linken dazu, eine »letztlich folgenlose Dauerbewegung der Bewegungen« zu diagnostizieren. (ak 593) Daraus schließt er, dass »kein Weg an einer Aktualisierung und Erweiterung der politischen Strategie auf das weitestgehend unerschlossene Terrain der Hauptquartiere der Macht vorbei« führt. Neumann folgt dabei Eva Völpel und Mario Candeias, die in ihrem Buch »Plätze sichern!« (2014) und in ak 595 dazu aufrufen, ein »komplexes Beziehungs- und Abstimmungsgeflecht zwischen Partei und Bewegung« aufzubauen.
Die Leichtigkeit, mit der derzeit die Parteipolitik als Abkürzung zur Revolution präsentiert wird, überrascht uns. Sprechen doch alle historischen Erfahrungen und alles, was kritische Theorie über den Staat zu sagen hat, dagegen. Was schief gehen muss, wenn sich Linke des Staates bedienen wollen, lässt sich am Beispiel der SPD und der Grünen studieren. Dass die Linkspartei dabei keine Ausnahme ist, hat sie während ihrer Regierungszeiten in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern tatkräftig unter Beweis gestellt.
Parteien sind keine neutralen Gefäße, die sich nach Belieben mit linken Inhalten füllen lassen. Sie sind Apparate zur Integration der »politischen Willensbildung« in den Staat. Der Glaube, dass durch die Beteiligung an Parteipolitik der Staat verändert werden könne, verweist auf ein falsches Verständnis vom Staat. Wer erfolgreich den Staat gestalten will, findet seine Grenzen nicht nur im bürgerlichen Recht, sondern ist zudem direkt und indirekt auf den Erfolg des Kapitalstandorts angewiesen. Direkt, weil ohne gelingende Kapitalakkumulation Steuereinnahmen und damit Gestaltungsspielräume fehlen. Indirekt, weil eine ökonomische Rezession zu Lohnverzicht, Erwerbslosigkeit und Armut führt und spätestens bei der nächsten Wahl die Quittung dafür folgt. Der Staat ist im Kapitalismus als »ideeller Gesamtkapitalist« zwangsläufig Klassenstaat, oder wie Johannes Agnoli es ausdrückt »Staat des Kapitals«.
Die Idee, eine Partei vor den Karren der Emanzipation zu spannen, ist alt. Die Voraussetzungen dafür sind heute aber so schlecht wie nie. Einen strategischen Nutzen aus Parteikonstellationen zu ziehen, müsste unseres Erachtens mindestens drei Bedingungen erfüllen: Erstens: Das Verhältnis zur Partei muss ein instrumentelles sein. Eine Integration in und Verschränkung mit einer Partei würde das unmöglich machen. Zweitens: Die radikale Linke muss über eine eigene Machtbasis verfügen, die es ihr erlaubt, die Partei unter Druck zu setzen. Drittens: Es bedarf einer geeigneten Partei und einer geeigneten historischen Konstellation.
Wenn sich irgendwo in Europa derzeit die Frage überhaupt stellt, wie sich die radikale Linke zu einer linken Partei verhalten soll, dann in Griechenland. Für eine linke Basisbewegung könnte in Griechenland mit der SYRIZA-Regierung tatsächlich ein kurzes Zeitfenster für eine Offensive aufgehen. Wenn es der heterogenen griechischen Linken und den Basisbewegungen gelingen sollte, die Regierungsperiode zu nutzen, um sich neue Räume und Institutionen jenseits staatlicher Kontrolle und kapitalistischer Logik anzueignen, dann könnte sie gestärkt aus der wahrscheinlich kurzen Regierungszeit SYRIZAs hervorgehen. Dieses Szenario setzt natürlich voraus, dass SYRIZA zumindest anfangs darauf verzichtet, hart gegen linke Basisinitiativen vorzugehen.
Ganz anders stellt sich die Situation in der BRD dar. Weder ist die Linkspartei vergleichbar mit ihrer griechischen Partnerin, noch ist die gesellschaftliche Situation oder die Stärke der Linken vergleichbar. Dennoch kann sich die Linkspartei seit ihrer Gründung in regelmäßigen Abständen über Zulauf und Zuspruch aus der außerparlamentarischen Linke freuen. Begründet wird dies in der Regel mit der Schwäche der eigenen Strukturen und der angeblichen Möglichkeit, in der Partei Diskurse und Handeln zu verschieben und konkrete Verbesserungen durchzusetzen. Doch sind die Voraussetzungen für solche Erfolge überhaupt gegeben? Schauen wir uns das anhand der drei Kriterien an:
Erstens. Die notwendige instrumentelle Distanz zur Partei fehlt den Verfechter_innen der Annäherung an die Parteipolitik offensichtlich. Das wird zum Beispiel am Vorschlag Eva Völpels deutlich, Linke sollten sowohl in der Partei als auch außerhalb von ihr wirken. Es bleibt ihr Geheimnis, wie es möglich sein soll, antiparlamentarische und parlamentarische Praxis in einer Person zu vereinen.
Zweitens. Eine eigene Machtbasis der außerparlamentarischen Linken - die es ihr erlaubte auf Augenhöhe mit der Linkspartei zu agieren - fehlt in Deutschland weitgehend. Blockupy oder ähnliche Strukturen sind nicht mit einer M15-Bewegung in Spanien zu vergleichen. Entsprechend war die außerparlamentarische Linke in der Vergangenheit eher Dienstleister für die Linkspartei als umgekehrt.
Drittens. Schließlich ist weder die gesellschaftliche Lage in Deutschland, noch die Linkspartei selbst geeignet für ein solches Vorgehen. Die Linkspartei wird von zwei Fraktionen dominiert: Sozialdemokrat_innen, die sich bis zur Agenda 2010 in der SPD pudelwohl gefühlt haben und denen die Bewahrung der Ordnung schon immer wichtiger war als sozialer Fortschritt; reformorientierten Karrierist_innen in Ostdeutschland. Beide sind nicht gerade dafür bekannt, Staat und Kapital auf den Müllhaufen der Geschichte werfen zu wollen.
Die Bilanz der Linkspartei
Vieles spricht unseres Erachtens dagegen, dass sich die Zusammenarbeit mit der Linkspartei für die radikale Linke gelohnt hat. Abgesehen von der strukturellen Schwächung der außerparlamentarischen Linken, fällt auch die konkrete Politikbilanz der Linkspartei in den letzten zehn Jahren eher negativ aus: Wo die Linkspartei in der Regierung war - Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg - konnte sie keine nennenswerten Verbesserungen durchsetzen. Teilweise trug sie wie in Berlin sogar weitere soziale Kürzungsmaßnahmen mit.
Auch gegenüber außerparlamentarischen Bewegungen verhielt sich die Linkspartei keineswegs immer solidarisch. In Mecklenburg-Vorpommern verschärfte sie vor dem G8-Gipfel 2007 das Polizeigesetz und ermöglichte damit eine noch weitreichendere Repression gegen die Protestierenden. Positiv auf ihrem Konto zu verbuchen sind ihre regelmäßigen kleinen Anfragen in den Parlamenten und dass sie sich, im Gegensatz zu den DGB-Gewerkschaften, an Krisenprotesten beteiligt (»Wir zahlen nicht für eure Krise«, »Blockupy«). Auch konnte sie sich in den Medien als weitere Stimme gegen Sozialabbau etablieren und die SPD damit von links unter Druck setzen.
Ihr grundlegendes Anliegen, die Rücknahme der Hartz-IV-Gesetze, konnte die Linkspartei jedoch nicht einmal in Teilen durchsetzen. Keine gute Bilanz also, wenn man als Maßstab das Versprechen nimmt, das an die Erschließung der Hauptquartiere der Macht als politische Strategie geknüpft wird: Die schnelle Durchsetzung konkreter Verbesserungen.
Dass es der Linkspartei nicht mal in Teilen gelungen ist, neoliberale Politiken zurückzudrängen, ist kein Zufall, sondern Ausdruck der postfordistischen Verfasstheit von Staat und Kapital und der aktuellen Schwäche der Linken.
Was tun?
So stellt sich für die Linke eine alte Frage neu: Was tun? Wir schlagen eine Drei-Ebenen-Strategie vor. Erstens: antikapitalistische Agitation und das prozesshafte Herausarbeiten einer linken gesellschaftlichen Vision. Zweitens: Selbstorganisation und kollektive Organisierung, nicht als Nischenpolitik sondern als Breschen gegen den kapitalistischen Alltag. Drittens: eine offensive Auseinandersetzung mit rechten Krisenakteur_innen und ihren gesellschaftlichen Ursachen.
Erstens. »Sozialismus oder Barbarei« war eine der historischen Losungen der Linken und der Arbeiterklasse. Mit ihr machte Rosa Luxemburg den Scheideweg deutlich, an dem die Menschheit stand. Begriffe wie Weltrevolution, sozialistische Weltrepublik oder Kommunismus versprachen ein besseres Leben. Arbeiterselbstverwaltung stand für ein Ende von Lohnsystem, Erniedrigung, Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung. Diese Begriffe waren sowohl mit Hoffnungen verbunden, als auch mit alltäglichen Kampf-, Solidaritäts- und Organisationserfahrungen. Dadurch wurden sie greifbar und mit Inhalt gefüllt.
Die Erfahrungen des Staatssozialismus haben linke Utopie und ihren Begriffsapparat gewaltig in die Bredouille gebracht. Davon sind antiautoritäre Linke, die dem Staatssozialismus schon immer kritisch gegenüber standen, nicht minder betroffen. Eine künftige linke Vision wird auf diese historischen Begriffe nicht zurückgreifen können.
Dennoch kommt eine emanzipatorische Bewegung ohne utopischen Überschuss nicht aus. Es braucht kollektive Zielvorstellungen und ein Wissen um mögliche Alternativen gesellschaftlicher Organisierung, um Bewegungen Kraft zu geben. Eckpunkte sind für uns soziale Selbstorganisation, Strukturen der Arbeiterselbstverwaltung, die nicht nur über das Ziel gesellschaftlicher Produktion entscheiden, sondern auch darüber, wie produziert wird, sowie die Schaffung von basisdemokratischen Institutionen. Hierüber ist zu diskutieren, breit und jenseits von Szenegrenzen. Zu fragen ist, was hinter linken Phrasen wie Kommunismus, Commons, Anarchie ... steht, stehen könnte und stehen soll. Wenn eine andere Welt möglich ist - wie soll sie aussehen?
Ebenso notwendig ist es, das Bestehende diskursiv und praktisch gnadenlos unter Beschuss zu nehmen. Dafür stehen die Chancen recht gut. Antikapitalistische Agitation findet in den Krisenprozessen leicht konkrete Beispiele. Und der Kapitalismus ist längst nicht mehr in der Lage, ein glaubhaftes Glücksversprechen zu formulieren. Oder wer glaubt heute noch, dass es seinen Kindern mal besser geht?
Wenn eine Vision von Links, die anfangs natürlich viele Leerstellen haben wird, als Richtschnur dienen soll, darf sie keine Seifenblase sein. Es braucht konkrete Handlungsoptionen, die kurzfristig umsetzbar sind und in deren Umsetzung sich Stärke, Organisierungserfahrung und Bewusstsein entwickeln. Wie kann das praktisch aussehen?
Breschen statt Nischen
Zweitens. Wenn wir von Breschen statt Nischen sprechen, sprechen wir davon, Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, über den kapitalistischen Überlebenskampf hinaus an dessen Überwindung zu arbeiten. Strukturen, die die soziale Reproduktion solidarisch organisieren, statt die Einzelnen damit alleine zu lassen. Strukturen, die kollektiven Widerstand ermöglichen und Schutz gegen staatliche Repression bieten. Wer den Staat überwinden will, kommt nicht umhin, eigene Institutionen zu schaffen, die nicht von ihm abhängig sind und sich kapitalistischer Logik so gut es geht widersetzen.
Uns geht es darum, durch Selbstorganisation im Alltag handlungsmächtig zu werden und Kämpfe zu organisieren. Viele verschiedene Formen solcher Breschen sind denkbar: kollektive Betriebe, soziale Zentren, Stadtteilversammlungen und -zentren, Aneignung öffentlicher Räume und Solidaritätsnetzwerke zur sozialen Gegenwehr sind einige Schlagwörter.
Alltägliche Selbstorganisierung über Szenegrenzen hinweg ist so wichtig, weil von der abstrakten Vision einer neuen Gesellschaft alleine niemand leben kann und weil es konkrete Erfolge braucht, um zu einer wirkmächtigen Bewegung heranzuwachsen. Die Zapatist_innen z.B. haben erst das soziale Leben umorganisiert, indem sie basisdemokratische Verwaltungsstrukturen, Bildungseinrichtungen, Kooperativen geschaffen haben, bevor sie die Auseinandersetzung mit dem mexikanischen Staat suchten.
Die Idee ist: Wenn wir Räume, Betriebe, Plätze kollektivieren können, tun wir es. Was wir jenseits kapitalistischer Logik organisieren können, organisieren wir. In der Argentinienkrise gab es zahlreiche Beispiele erfolgreicher Betriebsübernahmen, und auch in Griechenland und Spanien finden sich bereits viele Beispiele erfolgreicher Selbstorganisation. Davon scheint Deutschland momentan weit entfernt. Aber auch hier ist die Stabilität, wie 2008ff deutlich wurde, auf Sand gebaut. Also auf den Crash warten? Nein, wir denken, es bieten sich bereits jetzt zahlreiche Notwendigkeiten und Gelegenheiten, den Angriffen auf unsere Lebensbedingungen durch kollektive Organisierung zu begegnen.
Aus gewerkschaftlichen Organizing-Prozessen lässt sich lernen, dass sich die Erfolgschancen erhöhen, wenn nicht zuerst das spektakulärste Thema angegangen wird, sondern das, das die höchsten Chancen bietet, ein Erfolg zu werden. Der erste Sieg schafft Selbstbewusstsein, bringt mehr Mitstreiter und ist ein gutes Beispiel für den nächsten Schritt.
Sollen diese Prozesse nicht zufällig bleiben, braucht es mittelfristig Institutionen, in denen sie miteinander vermittelt werden und entschieden werden kann, was angegangen wird. Zum Beispiel Nachbarschafts- und Stadtteilversammlungen, in denen diskutiert wird, was umgesetzt werden soll. Räume ohne Konsumzwang, eine Alternative zu den entwürdigenden Tafeln, eine Initiative gegen Ämterschikane, Aktionen gegen hohe Mieten ...
Die Erfahrungen, die sich in diesen Prozessen bilden, können erstens Grundlage für Erfolge in den anstehenden Krisenkämpfen sein. Zweitens, füllen selbstorganisierte basisdemokratische Strukturen eine Utopie von links mit Leben.
Das klingt müßig? Die Alternative dazu wäre, die nächsten 30 Jahre Antifa-Politik zu betreiben und einmal im Jahr in Frankfurt die EZB zu blockieren oder zum 1. Mai die Weltrevolution auszurufen. Ohne Basisorganisierung und konkrete Schritte wird beides erfolglos bleiben.
Reaktionäre Bewegungen: Falsche Alternativen angreifen
Drittens. Der kapitalistische Krisenprozess wirkt für Verelendungs- und Marginalisierungsprozesse wie ein Katalysator. Die offensichtliche Ignoranz der ökonomisch und politisch Herrschenden demgegenüber erzeugt Wut bei den Betroffenen und Angst bei denen, die bisher noch davon verschont sind. Dass Bewegungen, die aus der Wut und Angst über die Verhältnisse entspringen, einen fortschrittlichen Charakter annehmen und dass sie ihn behalten, ist keineswegs vorherbestimmt. Das haben auch die Aufstände im arabischen Raum deutlich gezeigt. Rebellionen und soziale Kämpfe von Links sind eine Folge der Krise, reaktionäre Bewegungen die andere.
Hierzu zählen wir Faschist_innen wie Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) in Griechenland, Rechtspopulist_innen, wie aktuell HoGeSa, PEGIDA und die AfD, aber auch Islamisten, wie die Anhänger_innen des Islamischen Staates. Dabei handelt es sich zwar auf den ersten Blick um höchst unterschiedliche Bewegungen, dennoch verbindet sie mehr, als sie trennt. Gemeinsam ist ihnen der Ansatz, soziale Widersprüche autoritär zu unterdrücken. In ihren Gesellschaftsmodellen hat jeder Einzelne die Rolle zu erfüllen, die das religiöse, nationalistische, rassistische oder sexistische Weltbild vorsieht. Sie alle beziehen ihre aktuelle Stärke aus der krisenbedingten kapitalistischen Desintegration und der Fähigkeit, einfache Antworten darauf zu geben, die an Erfahrungswelten und Alltagsverstand anknüpfen.
Mit der Politik, soziale Widersprüche autoritär zu unterdrücken oder sie rassistisch, religiös, kulturell oder sozialchauvinistisch zu ideologisieren, sind die rechten Bewegungen in der bürgerlichen Gesellschaft keine Außenseiter, sondern mitten drin. Institutioneller Rassismus, Hartz IV oder die aktuelle Politik gegen Refugees sind Schlagworte, die verdeutlichen, dass die bürgerliche Gesellschaft kaum Haltelinien gegen reaktionäre Entwicklungen bietet.
Rechte Krisenakteur_innen und -ideologien konfrontativ anzugehen, ist bitter nötig. Entscheidend ist aber das Wie. Die Antifa-Strategie des Aufklärens, Skandalisierens und Isolierens funktioniert nicht mehr. Wer den Rechten das Wasser abgraben will, muss die nationalistischen, sozialchauvinistischen, rassistischen und sexistischen Ideen angreifen, auf denen ihre Gesellschaftsentwürfe fußen und ihnen eigene Ideen, wie es besser sein könnte, entgegen stellen.
Wollen wir rechten Krisenakteur_innen dauerhaft Räume und Einfluss streitig machen, müssen wir vor allem vor ihnen da sein, bzw. wenn sie auftreten in der Lage sein, ein Angebot von links zu machen. Damit landen wir wieder bei Punkt eins und zwei: Was wir brauchen, ist eine neue linke Vision einer besseren Gesellschaft und den Aufbau selbstorganisierter Basisinitiativen, die diese im Alltag mit Leben füllen und vorantreiben. Alles andere wäre ein Rückzugsgefecht auf verlorenem Posten.
John Mallory ist linker Aktivist und arbeitet für eine große deutsche Gewerkschaft. Juan Miranda ist im Ums-Ganze-Bündnis organisiert.
Eine längere Version dieses Artikels ist Anfang Januar 2015 beim Lower Class Magazine erschienen.