Aufstieg der Milizen
International Das iranische Regime baut seinen Einfluss im Irak aus - auf Kosten der sunnitischen Bevölkerung
Von David Kirsch
Als das Morden von sunnitischen wie schiitischen Milizen im Irak 2006 seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde Nuri al-Maliki mit der Bildung einer Regierung beauftragt. In ihm hoffte der Westen, einen pragmatischeren Politiker gefunden zu haben, der weniger empfänglich für iranische Einflüsse wäre. Doch diese Hoffnung sollte sich schnell als falsch herausstellen.
Kaum hatten die letzten Truppen der US-Armee den Irak verlassen, führte der bis August 2014 amtierende Ministerpräsident Maliki eine großangelegte Razzia gegen sunnitische Würdenträger_innen durch, ließ Tausende verhaften und modellierte die Verwaltungsbehörden in ein ihm loyales Regime um. Nach monatelangen friedlichen Demonstrationen in sunnitisch geprägten Teilen des Irak löste die irakische Armee im April 2013 ein Protestcamp in Hawija nahe Kirkuk auf und schlug die anschließenden Proteste blutig nieder - Schätzungen gehen von bis zu 300 Todesopfern aus. Nicht zuletzt deshalb konnte der 2007 temporär besiegte, aber nun wiedererstarkte Islamische Staat im Irak (ISI) durch ausländische Finanzierung aufrüsten und sich schließlich als wirkungsvollstes sunnitisches Bollwerk gegen das Maliki-Regime etablieren.
Als der »Islamische Staat« (IS) im Sommer 2014 die zweitgrößte irakische Stadt Mossul einnahm, trat die Spaltung der irakischen Bevölkerung erneut deutlich zu Tage. Die Nachrichten waren geprägt von Berichten über demoralisierte irakische Generäle, die vor dem IS geflohen waren, und über sunnitische Stämme, die nicht bereit waren, für eine Armee zu kämpfen, welche sie nicht repräsentierte. Andererseits konnte man auch von applaudierenden sunnitischen Bewohner_innen Mossuls lesen, die im Einmarsch des IS vor allem eine Befreiung von der schiitischen Herrschaft sahen. (1) Und angesehene Stimmen aus dem sunnitischen Klerus weigerten sich, eine innersunnitische Opposition gegen den IS zu organisieren, weil dies allein den schiitischen »Schlächtern« zu Gute käme. (2)
So stand das Maliki-Regime vor dem Problem, zwar über eine zahlenmäßig starke Armee zu verfügen, jedoch kaum noch über Loyalität innerhalb der Bataillone. An das Projekt der Einheitsregierung glaubte niemand mehr so recht.
Noch im Dezember 2012 schien ein weiterer schiitisch dominierter Staat, das baathistische syrische Assadregime, kurz vor dem Fall zu stehen. Zu diesem Zeitpunkt hatten syrische Rebellengruppen die Stadt Aleppo und östliche Vorstädte von Damaskus bereits erobert, das Ende Assads schien nur noch eine Frage der Zeit. Anfang 2013 stationierte das iranische Regime deshalb Tausende Einsatzkräfte der schiitisch-libanesischen Terrormiliz Hisbollah in Syrien. Sie sollte neben anderen schiitischen Milizen und den übrig gebliebenen Einheiten der regulären syrischen Armee eine Schlüsselrolle in der Aufstandsbekämpfung spielen.
Im Irak ging das iranische Regime auf gleiche Weise vor. Seit Sommer 2014 rekrutieren über 40 schiitische Milizen Einsatzkräfte, die kurz zuvor noch Teil der irakischen Armee waren. Diese Milizen werden nicht nur zur Bekämpfung des IS eingesetzt, sondern auch in den »befreiten Gebieten« zurückgelassen, um Aufgaben zu übernehmen, die einst die irakische Armee innehatte. An der Spitze der Koordination steht - im Irak wie in Syrien - Qassim Suleimani, Kommandant der iranischen Al-Quds-Brigaden, der schon 2006 eine Schlüsselrolle dabei spielte, den Irak enger an den Iran zu binden.
Hadi Al-Amiri, Kopf der Badr-Brigaden, der mächtigsten schiitischen Miliz im Irak, brachte die Rolle des iranischen Regimes für den Irak auf den Punkt: »Ohne den Iran wäre Bagdad gefallen«, zitiert ihn die Washington Post. »Der Iran hat uns ausgerüstet. Sie haben uns Waffen, Munition und militärisches Erfahrung zur Verfügung gestellt.«
Was Bewohner_innen sunnitischer Provinzen, deren Dörfer vom IS erobert wurden, nach Rückeroberung durch die schiitischen Milizen zu befürchten haben, zeigt das Beispiel der Stadt Jurf al-Sakhar. Ende Oktober letzten Jahres konnten schiitische Milizen in Kooperation mit den irakischen Sicherheitsbehörden dort den IS zurückdrängen - ihr erster großer Erfolg. Doch mit den Einheiten des »Islamischen Staates« wurden auch die sunnitischen Bewohner_innen vertrieben. Bis zu 70.000 von ihnen lebten in der ehemals mehrheitlich sunnitischen Stadt. Der letzte sunnitische Abgeordnete des Stadtrates wurde kurze Zeit nach der Rückeroberung mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Gleichzeitig verfügte der nun schiitisch besetzte Stadtrat, dass die ehemaligen sunnitischen Bewohner_innen für zehn Monate oder länger nicht in ihre Stadt zurückkehren dürften. Maysoon al-Damluji, Politiker einer säkular-sunnitischen Partei, bezichtigt das iranische Regime und seine Agent_innen daher der Vorbereitung einer »ethnischen Säuberung«. Jurf-al-Sakhar wurde nach der (Rück-)Eroberung in Jurf al-Nasr umgetauft: Aus dem »Ufer der Steine« wurde das »Ufer des Sieges«.
Die schiitischen Milizen sind längst zur dominanten Kraft innerhalb des Irak geworden. Erst im Juni 2014 wurden 255 Gefangene, unter ihnen Dutzende Kinder, ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Ein Amnesty-International-Bericht legt die Zusammenarbeit mit irakischen Sicherheitsbehörden offen und stellt fest, dass das Massaker in offiziellen Regierungsgebäuden stattfand. (3)
Die Milizen, die ideologische und personelle Verbindungen nach Teheran haben, sind nicht nur zu einer realen Bedrohung für den sunnitischen Teil des Irak geworden, sie stellen auch ein großes Hindernis für Obamas Ziel einer Einheitsregierung dar. Das iranische Regime hat seine beiden alliierten Regime Irak und Syrien am Leben erhalten und so den eigenen Einfluss ausgebaut, auch den ideologischen. So verbreiten die schiitischen Milizen eifrig die antisemitische Lüge, der IS sei eine Kreation »der Amerikaner und der Juden«.
David Kirsch lebt in Wien und schreibt regelmäßig über den Nahen Osten und asylrechtliche Themen, unter anderem auf seinem Blog exsuperabilis.blogspot.com.
Anmerkungen:
1) www.latimes.com/world/middleeast/la-fg-iraq-arabs-20141020-story.html
2) »Warum sollten wir ISIS bekämpfen? Damit die Iranische Revolutionsgarde die Macht im Irak übernehmen kann? ... Wir haben gegen die Regierung protestiert. Wenn die Regierung will, dass die Iraker zusammenstehen, dann sollte sie Gerechtigkeit üben. Gerechtigkeit ist die Basis des Regierens.« So der sunnitische Großmufti im Irak, Rafi' Taha Al-Rifa'i al-Ani, in einem Interview mit dem ägyptischen Fernsehsender Sada Al-Balad, das am 4. Dezember ausgestrahlt wurde (www.youtube.com/watch?v=dV-IpEfIEpk).
3) www.amnesty.org/en/news/iraq-testimonies-point-dozens-revenge-killings-sunni-detainees-2014-06-27