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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 602 / 17.2.2015

Zu viel Lob für Richard von Weizsäcker

Deutschland In seiner Rede zum 8. Mai 1985 sprach er nicht nur von Befreiung, sondern stellte auch Täter und Opfer auf eine Stufe

Von der ak-Redaktion

Nach dem Tod des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker sind die uneingeschränkt positiven Nachrufe nicht mehr zu zählen. Auch in der linken Presse wird der Verstorbene gepriesen. So schreibt Tom Strohschneider, Chefredakteur von neues deutschland, unter der Überschrift »Der Mann, der die Rede hielt«: »Er war es, der - zwar nicht als erster, aber als erster in dieser Position - vom Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sprach, jedenfalls im Westen.« (nd, 2. Februar 2015)

Das stimmt - und ist doch nur die halbe Wahrheit. Denn »die Rede« - Weizsäckers Ansprache zum 8. Mai 1985 - enthielt noch eine zweite, alles andere als fortschrittliche Tendenz. Wir dokumentieren Ausschnitte aus einem Artikel in ak 495 (Mai 2005):

Weizsäcker setzt Maßstäbe

Die neuere, zunächst west-, dann gesamtdeutsche Erinnerungskultur begann am 8. Mai 1985 mit Richard von Weizsäckers Rede beim Festakt im Bonner Bundestag. Bis heute gilt diese Rede als bahnbrechend. Was sie damals für viele seiner christdemokratischen ParteifreundInnen und andere gute Deutsche nur schwer erträglich machte, war vor allem die vom bundesdeutschen Staatsoberhaupt gewählte Reihenfolge bei der Aufzählung der Opfer und die Ehrung des Widerstandes. Darin einbezogen waren nicht nur deutsche KommunistInnen, sondern auch der bewaffnete Widerstand in den von der Wehrmacht besetzten Ländern; in den Kriegserzählungen der deutschen Frontkämpfer galten die PartisanInnen bis dahin als Ausbund von Heimtücke und Brutalität. Weizsäcker sagte:

»Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben. Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind. Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mussten. Wir gedenken der erschossenen Geiseln. Wir gedenken des Widerstandes in allen besetzten Staaten. Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstands der Kommunisten.«

Aber dieser Passage ging nicht nur die gleichmacherische - und inzwischen klassisch gewordene - Formulierung voraus: »Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.« Es werden auch Täter - Soldaten der Wehrmacht - mit ihren Opfern in einem Atemzug genannt. Für Krieg und Völkermord verantwortlich waren nur wenige, behauptete Weizsäcker: »Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.«

Ja, wer konnte das ahnen, was sich nun »herausstellen sollte«! Ganz so naiv würde es wohl heute kein deutscher Staatsmann mehr formulieren, die Kernaussage aber, die Deutschen seien verführt und missbraucht worden, ist in das offizielle Geschichtsbild eingegangen. Das gleiche gilt für weitere Schlüsselsätze der Rede: »Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.« - »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.« - »Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle« - legitim seien auch die Gefühle der deutschen Vertriebenen, denen »schweres Unrecht« widerfahren sei und die dennoch nur Gutes wollten: »Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus« - ein skandalöser Pauschal-Freispruch für eine Gruppe, in deren bis heute gültiger »Charta« die eigenen Leute als die »vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen« bezeichnet werden.

Weizsäcker hätschelte aber nicht nur die aggressiven VolkstumskämpferInnen in den Vertriebenenverbänden, er tröstete auch die von maßlosen Verbrechen beschwerte deutsche Volksseele: »Gewiss, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte. Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger.« Allerdings hätten »allzu viele« versucht, »nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah«, und »beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.«

Weizsäckers wohldosierte Mischung bestimmt bis heute die staatsoffiziellen Reden über deutsche Schuld und deutsches Leid: Anerkannt werden die deutsche Kriegsschuld und die Singularität der Shoah; gleichzeitig wird die Masse der Deutschen als unschuldig dargestellt, werden ihre höchst einseitigen Erinnerungen an das eigene Leiden in den Rang legitimer, ja notwendiger Trauerarbeit gehoben.

Der hier dokumentierte Text ist ein Auszug aus dem Artikel »Opfer, Täter Staatsmänner. Das Gedenkjahr 2005 - eine vergleichende Bilanz« in ak 495 vom 20. Mai 2005.