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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 602 / 17.2.2015

Mit dem Mandat der Bewegungen?

International Ein Gespräch über SYRIZA, die neue griechische Regierungskoalition und die Folgen für Europa

Von Nike Hisemi, Bernd Kasparek, Yorgos Maniatis und Michael Sankari

Sind die griechischen Protestbewegungen nun an der Regierungsmacht? Und was lässt sich von dort aus durchsetzen? Welche Haltung kann eine europäische Linke zur neuen griechischen Regierung einnehmen? Oder folgt auf die Wahl ein Aufschwung des Nationalismus? Ein Gespräch in Athen am 27. Januar 2015, zwei Tage nach den Wahlen in Griechenland und einen Tag nach der Regierungsbildung zwischen SYRIZA, der Koalition der radikalen Linken, und ANEL, der Partei der Unabhängigen Griechen.

Yorgos Maniatis: Die SYRIZA-Wahl ist ein historischer Moment, nicht nur für Griechenland, sondern für Europa. Mit SYRIZA stellt eine Partei die Regierung, die auch in Bezug auf die europäische Linke etwas Besonderes ist. Damit meine ich, dass sie immer eine enge Verbindung zu den sozialen Bewegungen hatte, aber auch, dass sie keine sozialdemokratische, sondern eine tatsächlich linke Partei ist.

Nike Hisemi: Bei mir hat die »Wahlparty«, die Kundgebung in der Nacht, auf der Tsipras seine erste Rede gehalten hat, großen Eindruck hinterlassen. Leute aus allen Altersgruppen, viele mit Tränen in den Augen oder auch mit einem Ausdruck totaler Erleichterung. Aber keine Euphorie. Den meisten ist klar, dass dieser Wahlsieg unter den Bedingungen der Memoranden stattgefunden hat und dass damit erstmal offen ist, was passieren wird. Diese abwartende, aufgeklärte Haltung hat mich beeindruckt.

Michael Sankari: Für mich spiegelt das auch wider, dass die Bewegungen und Streiks der letzten Jahre ihren Zenit überschritten haben und momentan kaum Bewegung spürbar ist. Die Stimmung wäre bestimmt anders gewesen, wenn der Wahlsieg auf den Höhepunkt von Bewegung gefallen wäre.

Nike: Ich halte SYRIZA schon für eine Entscheidung der Bewegungen - oder zumindest eines Teils davon. Die haben gesagt: Wir können Demonstrationen machen, mit über einer Million Teilnehmern, auch über Tage hinweg, aber die Memoranden haben wir trotzdem nicht gestoppt. Der Weg, der uns jetzt noch offen steht, ist über eine Partei und das Parlament in die Regierung.

Yorgos: Ich sehe den Ausgangspunkt auch in den Bewegungen, genauer in der Bewegung der Platzbesetzungen. Die haben SYRIZA das Mandat gegeben. SYRIZA ist genau in dieser Zeit erschienen und hat für eine alternative linke Politik und die Abschaffung der Memorandumspolitik plädiert. Es war tatsächlich die einzige Möglichkeit. All diese riesigen Mobilisierungen. In einer normalen Zeit hätten die zwei oder drei Regierungen gestürzt.

Nike: Aber SYRIZA hat lange gebraucht, dieses Mandat anzunehmen. Bei den ersten Wahlen 2012 hat SYRIZA erst wenige Wochen vorher gesagt, dass sie auch regieren würde. Vorher hatte sie die Position einer immerwährenden Oppositionspartei von vier Prozent.

Michael: Spannend ist ja nun, was die Regierung erreichen kann. Ich glaube nicht, dass Reformismus im Jahr 2015 funktioniert. Das Beste, was passieren kann, ist, dass die führenden Staaten der EU sagen, so eine Krise wie in Griechenland können wir uns nicht leisten, und eine Eskalation ist uns zu gefährlich. Um das nicht zum Platzen zu bringen, könnte es Zugeständnisse geben. Aber das hat nichts mit Stärke von Bewegung oder von SYRIZA zu tun.

Yorgos: SYRIZA hat nicht den großen Umbruch im Programm, wie ihn etwa PASOK 1981 versprochen, aber nie eingelöst hat. Es geht erstmal »nur« um eine andere Regierungspolitik, um soziale Gerechtigkeit und die Wiederherstellung abgeschaffter Rechte. Nichtsdestotrotz ist es ein radikaler Schritt, denn es geht um das Ende der Austeritätspolitik in Europa. Und hier trägt SYRIZA eine doppelte Last. Einerseits muss sie konkrete Erfolge in der Regierungsarbeit vorweisen, die Kompromisse erfordern. Andererseits ist sie für Europa Symbol für eine neue Linke und muss auch diesem Anspruch gerecht werden.

Bernd Kasparek: In der Frage der Austeritätspolitik sind sich die europäischen Linksparteien einig, aber wie sieht es mit der Position zu Europa aus? Die Rechte lehnt die EU ab, aber eine Haltung von links ist mir nicht richtig klar.

Nike: SYRIZA ist die einzige Linkspartei, die sich klar zu Europa bekennt und gleichzeitig die soziale Frage stellt. Abgesehen von Podemos, die aber anders entstanden ist und gerade nicht aus einer linken Partei hervorgegangen ist.

Michael: Ich sehe das anders. Die EU ist ein imperialistisches Projekt mit inneren Widersprüchen. Es gibt in der EU führende Kräfte, Frankreich und Deutschland, die dieses Projekt in ihrem Sinne nutzen. Bei allen anderen Staaten herrscht entweder Hoffnung, oder es besteht einfach die Notwendigkeit mitzuspielen. Die Haltung von SYRIZA halte ich eher für eine taktische Haltung.

Yorgos: Innerhalb von Syriza gibt es verschiedene Haltungen zur EU und dem Euro. Wichtig ist, dass jetzt die Frage nach den Widersprüchen innerhalb der EU neu gestellt wird. SYRIZA muss diese Widersprüche zuspitzen, gerade aus der Position, Regierung eines hochverschuldeten Staates zu sein. Mit der Verschärfung der Widersprüche wird sich auch die Frage der Handlungsoptionen neu stellen. Deshalb ist die Diskussion über das Verhältnis zwischen Bewegungen, linker Partei und Regierung von so großer Bedeutung. Auch eine linke Regierung kann nicht die Vertretung der Kämpfe sein. Die Bewegungen müssen die Regierung jetzt weiter drängen, ihre Versprechen umzusetzen. Das kommt nicht von alleine.

Nike: Wir müssen auch über die Koalition mit ANEL, der Partei der Unabhängigen Griechen, reden. An der Regierungsbildung gab es viel Kritik, zumindest in Deutschland.

Yorgos: ANEL ist eine nationalistische Partei, eine widersprüchliche Ansammlung von Rechten. Viele Mitglieder kommen aus der Nea Dimokratia, sie vertreten konservative Haltungen und Werte: orthodoxes Christentum, Sicherheit, Familie usw. bis hin zu Verschwörungstheorien. Dennoch: Trotz ihres tief sitzenden Nationalismus distanziert sich ANEL von einem umfassenden Projekt der extremen Rechten und ist nicht mit Chrysi Avgi (XA) vergleichbar.

Michael: Mir ist wichtig, dass wir nicht alles in einen Topf werfen. ANEL kann man nicht mit rechtspopulistischen Parteien in Deutschland oder Nordeuropa vergleichen. Es macht einen riesigen Unterschied, ob eine nationalistische Haltung aus einer Position der Macht eingenommen wird, wie in Deutschland, oder ob so etwas in Griechenland passiert, wo es um eine Wiedererlangung von Souveränität geht.

Bernd: Für mich macht diese Unterscheidung keinen Sinn, denn Nationalismus ist immer das verführerische Spielen mit der Suggestion von Souveränität. Trotzdem kann ich dieser Koalitionsbildung etwas abgewinnen, weil sie den Reinheitsfetisch gegen die Wand fahren lässt. Ein Problem mit Griechenland war doch, dass da ständig verzerrte Bilder gebraucht wurden. In der Krise gab es ein sehr klares Bild darüber, wie die griechische Gesellschaft verfasst sei, und mit dem bevorstehenden Wahlsieg von SYRIZA gab es eine ebenso reine Erzählung über die linke Hoffnung - eine typische internationalistische Projektion. Jetzt müssen wir uns damit auseinandersetzen, was es bedeutet, sich gegen den Neoliberalismus und die Austeritätspolitik zu stellen. Es gibt eine linke und eine rechte Antwort, und wir müssen uns entscheiden.

Yorgos: Auch wenn sich die große Mehrheit der Linken nicht über die Koalition gefreut hat, war hier niemand überrascht, und vor allem hat niemand darauf gedrungen, diese einzige Möglichkeit abzulehnen. Im Wahlkampf war ANEL die einzige Partei, die sich offen für die Unterstützung einer SYRIZA-Regierung ausgesprochen hat. ANEL lehnt die Memoranden ab und will die nationale Souveränität gegenüber der Troika, den »fremden Gläubigern« wie auch den »einheimischen Oligarchen« wieder herstellen. Diese Perspektive, die auch in der Linken Unterstützung findet, muss kritisiert werden, immer wieder. Nationalistische Diskurse verbergen die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse und schließen einen großen Teil der Arbeiterklasse in Griechenland aus. Dennoch müssen wir uns der Frage der Souveränität stellen: Die Verschuldung, und auch die Politik der Troika sind schwerwiegende Bedrohungen der Demokratie.

Nike: Mit ANEL ist offenbar in zwei für SYRIZA entscheidenden Fragen am ehesten eine Verständigung möglich: die Einigung auf das Sozialprogramm von Thessaloniki und die Ablehnung der Memorandumspolitik, die für die Verhandlungen mit der Troika zentral ist. Wenn keine Lösung für diese Frage gefunden wird, wird es keine Lösung für alle anderen Fragen geben. Aber was ist mit Potami?

Yorgos: Potami ist eine klar neoliberale Partei, die den Platz der Sozialdemokratie einnehmen will. In der Frage der Bewältigung der Krise steht sie auf der anderen Seite. Die Kommunistische Partei (KKE) hat sich von Anfang an verweigert. Die Kritik an der Regierungsbildung, vor allem aus Deutschland, ist mir zu abstrakt an Fragen von Reinheit orientiert. Sie ignoriert die Situation hier vor Ort.

Michael: SYRIZA hat nur gut ein Drittel der Stimmen bekommen. Ich bewerte die Koalition auch als Versuch, die restlichen zwei Drittel mitzunehmen und sie nicht in die Totalopposition gehen zu lassen.

Yorgos: Richtig. Die Politik der Memoranden ist ja nicht nur eine spezifische Form der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Es war ein extrem konservatives und autoritäres Regime, ausgestattet mit einem unglaublichen Repressionsapparat und mit einer starken Öffnung nach rechts. Daher auch jetzt die Frage, wie geht man mit dem Polizeiapparat um? Die Führung der XA steht vor Gericht, angeklagt wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Trotzdem sind sie mit sechs Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft geworden. Die Spezialeinheiten der Polizei haben zu 50 Prozent XA gewählt.

Bernd: Mir liegt die Frage am Herzen, was wir tun können. In der Migrations- und Grenzpolitik sehe ich eine Riesenchance, immerhin sind diese Politikfelder fast vollkommen europäisiert. SYRIZA wird es auch hier schwer haben, etwas grundlegend zu ändern. Aber mit einer europäischen Kampagne ließe sich Druck aufbauen. Wenn es hier die Möglichkeit eines Bruchs gibt, müssen wir diesen Bruch in konkreten Punkten vorantreiben. Was passiert, wenn die Regierung die Inhaftierung von Migrantinnen und Migranten und das Sterben in der Ägäis beendet? Wie können wir ein solches Projekt vorantreiben?

Michael: Ich habe da Zweifel. Auch in der europäischen Migrationspolitik geht es um die Aushöhlung von Arbeitsrechten und die Herstellung von Konkurrenz. Damit sind wir schon bei den Kernanliegen der Troika. Die EU wird sich da nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

Nike: Ich sehe schon eine Chance. Gerade in Fragen der Migration kann es nochmal andere Allianzen in Europa geben. Der italienische Ministerpräsident ist auch kein Linker, aber er hat Mare Nostrum ins Leben gerufen. Er lässt das Dublin-System der europäischen Flüchtlingspolitik sabotieren, indem in Italien kaum mehr Fingerabdrücke genommen werden. All das betrifft Griechenland ebenso. Das wären Anknüpfungspunkte für eine europäische linke Bewegung, die es jetzt noch dringender braucht als jemals zuvor.

Yorgos: Ja, die Möglichkeit, die neoliberale Politik in Europa zu beenden, hängt ganz entschieden von den Erfolgen von SYRIZA in Griechenland, von Podemos in Spanien und von den linken Bewegungen in Europa ab. Eine linke Alternative ist wieder denkbar. Es geht wieder um die soziale Frage, sie muss innerhalb der EU immer wieder gestellt werden, bis wir bei einem Europa ankommen, das ganz anders strukturiert ist.

Yorgos Maniatis ist Mitglied von Diktio, dem Netzwerk für soziale und politische Rechte in Griechenland, Nike Hisemi war im Euromayday-Netzwerk aktiv und arbeitet heute für ver.di. Michael Sankari ist Betriebsrat in einem mittelständischen Betrieb in Deutschland und Bernd Kasparek aus München seit Jahren aktiv gegen die europäische Migrations- und Grenzpolitik.