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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 602 / 17.2.2015

»Die Stimmen dagegen waren nicht laut genug«

Geschichte Vor 70 Jahren wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit

Von Maike Zimmermann

Morgen, am 27. Januar, ist der Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Wir stehen zwischen den roten Backsteinbauten, Teile einer ehemaligen Kaserne, aufgestockt und ausgebaut zum Lager, von den Häftlingen auf Befehl der SS-Besatzung. Wachtürme, doppelter Stacheldrahtzaun, Schilder mit Totenkopf und der Aufschrift »Halt! Stój!« sind stille Zeugen der Verbrechen, die hier vor 70 Jahren begangen wurden.

Mindestens 1,1 Millionen Jüdinnen und Juden, 140.000 Pol_innen, 20.000 Sinti und Roma sowie mehr als 10.000 sowjetische Kriegsgefangene und mehr als 10.000 Häftlinge anderer Nationalitäten wurden in die drei Lager von Auschwitz deportiert: Auschwitz I als sogenanntes Stammlager, Auschwitz II-Birkenau als größtes Vernichtungslager des nationalsozialistischen Lagersystems und Auschwitz III-Monowitz, auf dem Fabrikgelände der IG-Farbenwerke. Zwischen 1940 und 1945 wurden hier, knapp 60 Kilometer westlich von Krakau, zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen ermordet.

Wir sind auf dem Gelände des ehemaligen Stammlagers. Auf den Dächern liegt Schnee, es ist kalt und diesig. Vor uns geht ein älterer Herr durch das Lagertor mit der Aufschrift »Arbeit macht frei«. Er bleibt stehen, dreht sich um und sagt: »Ich habe eine Aufgabe, denn das ist meine Botschaft an die Welt: dass es nie wieder passiert.«

Damit es nicht wieder passiert, sagt Marcel Tuchmann wenig später, sei es wichtig, dass die Überlebenden berichten - auch hier am Ort des Geschehens. Er steht auf der anderen Seite des Tors. Hart sei das für ihn nicht gewesen, hierher zurückzukehren. »Es sieht für mich eher aus wie ein Bühnenbild als wie eine echte Sache«, sagt er. »Ich meine, die Mauern sind hier, der Stacheldraht ist hier, aber es ist nicht der Ort, der hier war.« Heute lebt und arbeitet der 93-Jährige in Manhattan, New York. Er ist ein bekannter Internist. »Ich überlebte durch einen Zufall.« Geduldig spricht er mit den Journalist_innen, die einen Kreis um ihn bilden.

»Mein Vater sprach perfekt deutsch und traf hier in Auschwitz auf einen deutschen Ingenieur. Er wollte, dass mein Vater für ihn arbeitet. Und dann passierte etwas Außergewöhnliches. Mein Vater sagte: Ich habe eine Bedingung. Können Sie sich das vorstellen? Ein Jude sagt in Auschwitz, ich habe eine Bedingung?« Die Bedingung war, auch seinen Sohn für ihn arbeiten zu lassen, als Mechaniker. »Der Mann zeigte mir eine technische Zeichnung - von einer einfachen Schraube. Er fragte: Was ist das? Ich sagte: Das ist eine Schraube. Er sagte daraufhin: Du hast Recht. Aber wo ist das Brett? Ich sagte, dass ich es nicht sehe. Er erwiderte: Du hast absolut Recht. Du bist ein guter Mechaniker. Das war mein erster Schritt in Richtung Leben.« Dann blickt Marcel Tuchman über den Zaun hinweg in den Himmel und sagt: »Ich erinnere mich, wie ich am Tor von Auschwitz saß, auf den Mond blickte und zu mir sagte: Vielleicht muss ich eines Tages den Mond nicht mehr durch den Stacheldraht sehen. Vielleicht werde ich ihn von dem Gipfel eines Berges aus sehen können. Und es passierte. Ich war glücklich.«

Es sind diese individuellen Tragödien

Es ist der Wechsel zwischen Glück und tiefem Schmerz, der in diesen Tagen an diesem Ort immer wieder zu spüren ist. Glücklich, die Hölle von Auschwitz überlebt zu haben, die Nazis überlebt zu haben, lebendiger Beweis zu sein auch dafür, dass ihr nationalsozialistischer Vernichtungswille nicht vollends erfolgreich war. Stolz erzählt Marcel Tuchman von seinen Kindern, seinem ältesten Sohn, der ihn hierher begleitet hat, von seinen Enkelkindern, die ins College gehen. »Wir sind sehr glücklich, unsere Familienlinie als Überlebende fortzuführen. Der Rest meiner Familie ist umgekommen.« Im vergangenen Jahr ist seine Frau verstorben. Auch sie war eine Überlebende von Auschwitz, beide lernten sich nach Kriegsende in einem Camp für Displaced Persons kennen. In Deutschland. Er berichtet von der Schwester seiner Frau, die mit ihrem kleinen Kind nach Auschwitz gebracht wurde. Als die SS versuchte, ihr das Kind wegzunehmen, blieb sie bei ihm, beide wurden in den Gaskammern ermordet. »Es sind diese individuellen Tragödien, die in gewisser Hinsicht wichtiger sind als die Massentragödie. Denn wenn du sie hörst, bohren sie dir ein Loch in das Herz.«

Auf die Frage, wie man all das hier überleben kann, antwortet er: »Wenn du wirklich überleben willst, überleben, um zu sehen, wie diese Menschen, die all das getan haben, besiegt und zerstört werden, wenn du dieses Verlangen hast, dann gibt dir das den notwendigen Antrieb.« Und er fährt fort: »Wir haben überlebt, weil wir gehofft haben, dass es jenseits dieses Stacheldrahtes Menschen und Institutionen gibt, die wollen, dass wir überleben. Doch als wir nach der Befreiung die Geschichte dieses Krieges gehört haben, mussten wir schmerzhaft enttäuscht feststellen, dass dieser Krieg nicht für uns geführt worden war.« Bei dieser Katastrophe seien die Grundregeln der Zivilisation gebrochen worden, sagt er. »Die Stimmen dagegen waren nicht laut genug oder wurden nicht gehört. Das ist etwas, was wir nie vergessen werden.« Ein paar Meter entfernt steht sein Sohn. »Mein Sohn hat etwas sehr Tiefgründiges gesagt«, erklärt Marcel Tuchman. »Hätte es diese Aufmerksamkeit, die das hier heute bekommt, gegeben, als wir Gefangene waren, hätten viele überlebt.«

Auf der anderen Seite des Zauns steht eine Frau im langen Pelzmantel, lilafarbenem Schal und rotem Stirnband. Es ist Rosie Schindler, neben ihr eingehakt ihr Mann Max. Zwei Männer zupfen an ihr herum, Fotos sollen gemacht werden. Rosie Schindler beschwert sich: »Was macht ihr denn da? Ihr seid so chaotische Jungs ...« Sie richtet ihr Stirnband, sortiert Schal und Mantel. Einer der Männer sagt: »Erst Fotos und dann die Fragen.«

»Es ist ein sehr wichtiger Tag«, sagt die 85-Jährige. »Denn wer weiß, wie viele Menschen das nächste Mal noch hier sein werden?« Sie steht im Schnee vor dem Lagerzaun. Dann dreht sie sich um, legt die Hand mit dem schwarzen Handschuh an den Zaun und sagt: »Ich erinnere mich sehr gut an diesen Ort. Dieser Stacheldraht ist eine fürchterliche Erinnerung für mich.« Damals stand er unter Strom. Diejenigen, die das Leben in Auschwitz nicht mehr ertragen konnten, liefen in den Zaun, waren nach wenigen Augenblicken tot.

Wie viele andere Überlebende geht auch Rosie Schindler in Schulen, um mit den Kindern und Jugendlichen über das Erlebte zu sprechen. Oft hört sie die Frage: Kannst du den Deutschen verzeihen? »Ich sage dann: Wenn jemand in dein Haus kommt und alle erschießt und sie auf dem Boden liegen, würdest du denen, die das getan haben, vergeben? Und jeder antwortet: Nein.« Vor allem kann sie nicht vergessen, was die Nazis ihrer Familie angetan haben.

Hier an diesem Ort, so Rosie Schindler, ist es, als würde es gerade geschehen. »Wir waren im Zug, der Zug stoppte, ein Häftling in einer gestreiften Uniform kam in den Zug und fragte: Wie alt bist du? Ich sagte: Ich bin 14. Er erwiderte: Sag ihnen, dass du 18 bist. Das hat mich gerettet - denn wer 18 Jahre alt ist, kann arbeiten.« Ob sie noch ein weiteres Mal hierher zurück nach Auschwitz kommen wird, weiß Rosie Schindler nicht. »Vielleicht, wenn sie das Gedenken im Sommer machen«, scherzt sie. »Es ist ganz schön doll Winter hier. Wir kommen aus Kalifornien.« Sie zeigt an sich herunter. »Wir hatten keine passende Kleidung, ich musste mir diesen Mantel hier leihen, Hüte, Mützen, alles.« Drüben, in Kalifornien, hat Rosie Schindler dafür gesorgt, dass ihre Kinder und Enkelkinder aufs College gehen. »Ich möchte, dass sie wissen, wie die Welt funktioniert und dass sie unabhängig sind.«

50 Jahre wollte ich nichts mit Deutschen zu tun haben

Ortwechsel, die Bibliothek von Oswiecim. Ein moderner Bau mit viel Glas, hell und freundlich. In einer Reihe von Sesseln sitzen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen nebeneinander, stellen sich vor. Danach besteht die Möglichkeit zu Einzelgesprächen. Kurz darauf sitzen wir mit wenigen anderen in einem kleinen kargen Raum. An einem schlichten Tisch sitzt der 88-jährige Jacek Zieleniewiecz in einem ebenso schlichten grauen Anzug. Nach vorne gebeugt sagt er: »Sie müssen lauter sprechen. Meine Ohren sind auch schon 88 Jahre alt.« Er spricht fließend deutsch. Er aber meint: »Ich spreche jetzt nicht gut deutsch, denn ich habe 50 Jahre lang kein deutsch gesprochen. Nach 50 Jahren kann man sogar seine Muttersprache vergessen.« Früher, in Poznan vor dem Krieg sei das anders gewesen. Seine Eltern sprachen deutsch, der Vater war im Ersten Weltkrieg Soldat in der deutschen Armee. Immer wenn Jacek Zieleniewiecz als kleines Kind etwas nicht verstehen sollte, haben die Eltern deutsch miteinander gesprochen. Schnell war ihm die deutsche Sprache geläufig.

Nach Auschwitz zurückzukehren, ist für Jacek Zieleniewiecz heute nicht mehr schwer. Das war früher anders. »Als ich das erste Mal hier war, in Birkenau, an der Wand vor der Hauptwache, da habe ich auf den Plan von Auschwitz gesehen, und in dem Moment habe ich die deutsche Sprache gehört. Da habe ich nicht gewusst, was ich machen soll. Das war eine Tragödie für mich.« Aber das ist lange her, heute seien es andere Zeiten, findet Jacek Zieleniewiecz. Vor 30 Jahren hat er angefangen, über das Erlebte zu sprechen. Vor 20 Jahren war er das erste Mal in Deutschland. »50 Jahre wollte ich gar nichts mit den Deutschen zu tun haben.« Auch nicht als er 1995 zur Gedenkstätte Eckerwald fuhr, nahe Rottweil in Baden-Württemberg. »Da war unser Lager. Wir wollten nur die Friedhöfe sehen, sonst nichts. Und dann habe ich normale Menschen getroffen - Deutsche und normal, das war bis dahin für mich nicht das selbe.« Heute hat er Freunde und Freundinnen in Deutschland, besucht regelmäßig Schulen. »Wir fahren nach Deutschland ohne Hass und ohne Angst.« Und er fügt hinzu: »Auch in meiner Familie gibt es keinen Hass - das ist mein Sieg. Mein eigener Sieg.« Trotzdem, den Deutschen von damals verzeiht er nicht. Und auch nicht jenen, die heute sagen, der Nationalsozialismus war und ist etwas Gutes.

Auf die Frage, warum er Schülerinnen und Schülern von seiner Geschichte erzählt, antwortet Jacek Zieleniewiecz: »Erzählen kann man etwas Gutes. Von guten Ferien oder dass irgendwo Schnee lag. Das, was wir überlebten, das ist nicht zum Erzählen. Wir wollten alles vergessen.« Aber, fährt er fort, »die Zukunft ist nicht unser. Wie viel haben wir noch zu leben? Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr? Die Zukunft gehört den heutigen Schülerinnen und Schülern.« Ihnen erklärt er die »drei guten Worte mit F«: Frieden, Freiheit und Freundschaft. Denn: »Es gibt keine Freiheit ohne Freundschaft. Freundschaft, das ist das Wichtigste.«

Heute wohnt Jacek Zieleniewiecz in Bydgoszcz, früher waren es sechs ehemalige Häftlinge, die hier gelebt haben. Jetzt ist er der einzige. Auch aus seinem früheren Kommando lebt keiner mehr. Er ist der letzte. Mit Blick auf die Gedenkveranstaltung am folgenden Tag sagt er: »Das ist schon wichtig für mich. Aber das Wichtigste ist, dass ich hier ehemalige Häftlinge treffe. Die, die noch leben, das sind meine Freunde.«

»Wissen Sie«, fährt er fort, »ich hatte einen Freund im Lager. Er war aus Posen, wir waren das ganze Jahr zusammen in Auschwitz.« Beide waren danach einen Monat zusammen in Deutmargen, einem Außenlager des Konzentrationslagers Nazweiler-Stutthof. Dann wurde sein Freund ins Außenlager Bisingen gebracht. »Er war wie ein Bruder für mich. Ich hatte im Lager in Auschwitz viel Glück«, sagt Jacek Zieleniewiecz. »Aber er war ein Pechvogel. Er wurde sehr oft geschlagen. Als ich nach dem Krieg nach Hause kam, habe ich gehört, dass er fünf Tage vor der Befreiung in Dachau gestorben ist. Fünf Tage.« Seine Stimme wird leise. »Tausende sind so gestorben - aber er war mein Freund.« Was hatte Marcel Tuchman gesagt? Es sind die individuellen Tragödien, die dir ein Loch in das Herz bohren.

Das Gespräch ist zu Ende, die Kamera ist aus. Jacek erzählt von seiner Frau, mit der er seit 62 Jahren verheiratet ist. Als er von seinen Kindern, von seinen Enkelkindern und von seinen vier Urenkelkindern erzählt, fangen seine Augen an zu leuchten. »Wenn wir zusammen sind, sind vier Generationen zusammen«, sagt er und fügt hinzu: »Ich habe sowieso Glück. Was für ein Glück, so eine Familie zu haben - zuerst Auschwitz überleben und nachher noch so eine Familie, das ist ein Glück.«

Ach du meine Güte! Mein Leben wurde gedruckt!

Schräg gegenüber, in einem Raum auf der anderen Seite der Bibliothek, sitzt Celina Biniaz auf einem Sessel, die Beine lässig übereinander geschlagen. Eine selbstbewusste Frau, Jahrgang 1931, aufgewachsen in Krakau, heute lebt sie in Kalifornien. Mit ihrem Mädchennamen Celina Karp stand sie als Jüngste von 1.100 Jüdinnen und Juden auf der Liste von Oskar Schindler.

Im Oktober 1939 übernahm Schindler eine stillstehende Emaillefabrik in Zablocie bei Krakau. Ende 1944 bewilligte ihm die SS 800 Männer und 300 Frauen für seine »kriegswichtige Produktion«. Sie wurden aus verschiedenen Lagern gebracht, der Transport der Frauen führte über Auschwitz. Dadurch, dass Schindler sie als Zwangsarbeiter_innen in seiner Fabrik aufnahm, bewahrte er über 1.000 Jüdinnen und Juden vor der Ermordung durch die Nazis.

1982 erschien das Buch von Thomas Keneally. »Als ich die Sonntagsausgabe der New York Times aufschlug, sah ich es groß da stehen: Schindlers Liste. Ich bin aufgesprungen und habe gesagt: Ach du meine Güte! Mein Leben wurde gedruckt!«

Über ihre Erlebnisse gesprochen hat Celina Biniaz aber erst im Zusammenhang mit dem Film von Steven Spielberg, der 1993 in die Kinos kam. »Oskar Schindler hat mir das Leben gerettet«, sagt sie. »Aber Steven Spielberg hat mir eine Stimme gegeben.«

Bis dahin wussten selbst ihre Kinder nichts von ihrer Geschichte, nur, dass sie in Europa gelebt hatte und als Displaced Person in die Vereinigten Staaten kam. »Ich wollte, dass sie eine glückliche Kindheit haben, anders als meine. Ich wollte ihnen keine Schuldgefühle machen.« Denn die, erklärt Celina Biniaz, können entstehen, wenn man jemanden liebt und weiß, was er oder sie Schreckliches durchgemacht hat. »Das wollte ich nie für meine Kinder. Warum auch? Dafür gibt es keinen Grund. Lass sie doch ihr Leben genießen!« Eins war ihr aber immer wichtig: »Dass sie offenherzig sind, allem und jedem gegenüber.«

Ihre Botschaft ist eindeutig. »Hasse nicht. Hass ist extrem zerstörerisch, vor allem für dich selbst. Wenn du hasst, tut es keinem anderen weh - denn sie wissen nicht, dass du sie hasst. Aber es hält dich davon ab, in deinem Leben voranzukommen.« Das bedeutet jedoch nicht, dass man vergessen sollte, was geschehen ist. Und auch nicht die Augen davor zu verschließen, was an anderen Orten in der Welt passiert. »Ich hoffe, wir können den jungen Leuten beibringen, dass man versuchen muss, Genozide zu verhindern.«

Nach dem Krieg war Celina Biniaz mehrmals in Krakau, zuerst im Jahr 1974. Nach Auschwitz kehrte sie bislang nur ein einziges Mal zurück, sie blieb in Krakau und ließ ihre Angehörigen ohne sie fahren. »Sie sollten sich ihre eigene Meinung bilden«, sagt sie. »Und nicht meine Sicht der Dinge übernehmen. Mit ihnen dort sein und sagen: Guck, das ist die Baracke, in der ich war. Das konnte ich nicht.«

»Meine wichtigste Erinnerung an Auschwitz ist: Angst. Absolute Angst. Unglaubliche Angst.« Diese Angst blieb. In den Vereinigten Staaten arbeitete sie als Lehrerin. Und selbst bei dem Direktor der Schule, in der sie unterrichtete, hatte sie dieses Gefühl: »Er ist eine Autorität. Ich hatte keine Probleme mit ihm. Aber trotzdem ist sie da, die Angst vor Autoritäten.«

Das »Todestor« als Kulisse

Zurück in Auschwitz I. Mittlerweile dämmert es, es ist niemand mehr hier. In den Gängen zwischen den Blöcken liegt neuer Schnee, die Wachtürme haben weiße Hauben, am Zaun leuchten in regelmäßigen Abständen die alten Lampen, auch aus einigen der Blöcke scheint Licht. An der Mauer im Hof zwischen Block 10 und Block 11 liegen Blumen und Kränze. Hier, vor der sogenannten Todeswand haben SS-Männer viele Tausend Männer und Frauen, vor allem aus Polen, erschossen.

Am nächsten Morgen wehen drei blau-weiß-gestreifte Fahnen hinter der Mauer. Etwa 80 Menschen gehen durch den Hof zur Todeswand. Viele von ihnen tragen tragen blau-weiß-gestreifte Tücher, Schärpen oder Mützen. Angeführt wird die Gruppe vom polnischen Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski und dem Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau, Piotr Cywinski.

Kurz darauf ist die bedächtige Stimmung vorüber - Journalist_innen umringen die verschiedenen Überlebenden, einige tragen Kinderfotos von sich selbst aus der Zeit im Lager mit sich. »Ich habe überlebt, um der Welt zu erzählen, was wirklich passiert ist«, sagt ein Mann mit amerikanischen Akzent in die Kamera. Auf seinem Cap steht »101st Airborne Division«, die 101. US-Luftlandedivision. Deren erster Einsatz war die Luftlandung in der Normandie im Juni 1944. Nach einiger Zeit machen sich die Überlebenden auf den Weg zurück, raus aus dem Lager. Am Lagertor angekommen, fällt bei vielen von ihnen der Blick wieder auf den Schriftzug »Arbeit macht frei«.

Es beginnt zu schneien, der Wind pfeift durch Oswiecim. Etwa drei Kilometer von Auschwitz I entfernt, liegt das deutlich größere Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz II-Birkenau. Rund 175 Hektar mit über 300 Baracken, zum Teil gemauert, zum Teil aus Holz, in denen im August 1944 100.000 Häftlinge gefangen waren. Auf dem weitläufigen Gelände mit dem Birkenhain befanden sich vier Krematorien mit den Gaskammern, von denen heute nur noch Ruinen zu sehen sind. Hier rollten die Züge aus ganz Europa an, durch das »Todestor«, den großen Backsteinbau vor dem Gelände, durch dessen Mitte die Schienen führten. Hinter dem Tor lag die Rampe, der Ort der Selektionen.

Heute ist das Tor nicht zu sehen. Auf der weiten, schneebedeckten Fläche steht stattdessen ein riesiges weißes Zelt. Es wurde über das Tor gestellt, das nun die Kulisse für die Gedenkveranstaltung ist, ausgeleuchtet wie ein Bühnenbild, auf dem ausgelegten Fußboden sind stilisierte Schienen aufgemalt, sie gehen über in die echten Schienen, beleuchtet unter Plexiglas. Sie führen durch das Tor, in dessen Mitte in einer Schale eine Flamme brennt. Auf der anderen Seite des Tores erstreckt sich das Lager Auschwitz-Birkenau, die Schienen führen weiter in den Schnee. Unwirklich sieht es aus, das Tor, als wäre es nur für den heutigen Anlass hier aufgestellt.

Es ist das erste Mal, dass die Zeremonie nicht draußen stattfindet. Vorne am Rand sitzt Politikprominenz aus fast 50 Staaten, Präsidenten, Könige und Königinnen, Minister und Ministerinnen, Botschafter und Botschafterinnen. Aber die wichtigsten Teilnehmer, sagt Polens Präsident Bronislaw Komorowski in seiner Eröffnungsrede, sind die Überlebenden, die Hüter und Hüterinnen der Erinnerung an Auschwitz. 300 von ihnen sind heute an diesen Ort zurückgekehrt, beim 60. Jahrestag vor zehn Jahren waren es noch 1.500.

Alte und neue Animositäten

Bereits im Vorfeld hatte Piotr Cywinski, der Direktor der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, erklärt: »Am 70. Jahrestag sollen die Überlebenden im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie werden reden, und wir werden ihnen sehr genau zuhören.« (taz vom 23.1.2015) Deswegen erhielten Staatsoberhäupter und Premierminister keine gesonderte Einladung, sondern lediglich eine diplomatische Anfrage, ob sie ebenfalls teilnehmen wollten. Das empörte niemanden, außer einen: Russlands Präsident Wladimir Putin. Und dann sorgte auch noch Polens Außenminister Grzegorz Schetyn im polnischen Rundfunk für Aufsehen: »Denn es waren damals, an diesem Tag im Januar, ukrainische Soldaten, die die Tore öffneten und das Lager befreiten.« (tagesschau.de vom 22.1.2015) Russlands Außenminister Sergej Lawrow nannte es zynisch, mit nationalistischen Gefühlen zu spielen. »Auschwitz wurde von der Roten Armee befreit. Da waren sowohl die Russen als auch die Ukrainer, Tschetschenen, Georgier, Tataren«, sagte er. Tatsächlich waren längst nicht alle Soldaten der Ukrainischen Front auch Ukrainer, die Bezeichnung hatte nichts mit der Nationalität der Rotarmisten zu tun.

Hier wird die Befreiung von Auschwitz instrumentalisiert, um deutlich zu machen, wer auch heute noch die »Guten« sind, und um alte wie neue Animositäten aufleben zu lassen. Das Kopfschütteln bleibt, wenn Präsident Komorowski dann auf der Feier - ganz nebenbei,versteht sich - sagt, dass die 16. Armee der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee das Lager befreit habe und man mit allem Respekt an diese Soldaten denken müsse. Diese Formulierung war sicherlich nicht zufällig gewählt.

Drei Überlebende sprechen an diesem Nachmittag. Halina Birenbaum, Schriftstellerin in Israel, überlebte die Konzentrationslager Majdanek, Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück, bis sie in Neustadt-Glewe befreit wurde. Kazimierz Albin wurde 1940 mit dem ersten Transport nach Auschwitz deportiert, als polnischer politischer Häftling. 1943 brach er aus dem Lager aus, schloss sich der Polnischen Heimatarmee an. Roman Kent lebt in New York und ist seit 2011 Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Seine Stimme zittert, als er sagt: »Wir wollen nicht, dass unsere Vergangenheit zur Zukunft unserer Kinder wird.« (1)

Die Überlebenden sollten im Mittelpunkt stehen

Nach ihren Reden gibt es einen 15-minütigen Film von Steven Spielberg über Auschwitz. Er zeigt unter anderem die Funktionsweise des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Und nimmt die Anwesenden mit auf einen virtuellen Gang durch die Gaskammer. Ob das zu diesem Anlass angemessen ist? Aber auch abgesehen davon muss man hier wohl niemandem mit einem Informationsfilm erklären, was Auschwitz ist.

Alle Überlebenden, die wir in diesen Tagen getroffen haben, betonen, dass es nicht nur wichtig sei, nicht zu vergessen, was geschehen ist, sondern auch, dass man sich mit dem Blick auf die Vergangenheit für eine bessere Zukunft einsetzen müsse, in der es keinen Rassismus und keinen Antisemitismus, keinen Hass und keine Feindschaft gibt. Was das jedoch konkret bedeutet, welche Schlüsse das denn genau sind und welche Konsequenzen das in Bezug auf die Einschätzung der gesellschaftlich-politischen Situation hat, steht auf einem anderen Blatt. Auch das war in diesem Jahr am Gedenktag zu sehen.

Und so hinterlässt dieser Tag gemischte Gefühle. Da sind die Überlebenden, die Zeugen und Zeuginnen der Hölle von Auschwitz. Wer sie sieht, weiß, dass Jacek Zieleniewiecz Recht hat: Sich wiederzutreffen, an diesem Tag, an diesem Ort als Überlebende gemeinsam zu sein, ist von großer Bedeutung. Aber auch die Anerkennung und der Respekt, der ihnen eben auch durch die Anwesenheit hoher Repräsentant_innen zuteilwird, spielt keine unwesentliche Rolle. Das kann man in den Augen einiger von ihnen sehen: Es ist etwas besonderes, wenn der Präsident neben einem steht oder eine prominente Person einem die Hand schüttelt, wenn die Welt auf einen blickt.

Trotzdem gerät man ins Nachdenken darüber, wie das eigentlich geht, dieses Erinnern, was ist die angemessene Form, wie wird mit so einem Tag Politik gemacht? Und darf man eine Gedenkveranstaltung klischeehaft inszeniert finden, unabhängig davon, welche großen emotionalen Momente es in ihr gibt?

Nach den Ansprachen von Halina Birenbaum, Kazimierz Albin und Roman Kent folgen die Reden von Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses und dem Direktor der Gedenkstätte, Piotr Cywinski. Danach treten Geistliche zu verschiedenen Gebeten nach vorne. Als der 89-jährige Auschwitz-Überlebende und Kantor David Wisnia das El male rachamim - ein jüdisches Gebet zum Gedenken an die Toten - vorträgt, gesungen mit kraftvoller Stimme, fällt es vielen schwer, die Fassung zu wahren, Tränen fließen. Dann gehen Halina Birenbaum, Kazimierz Albin und Roman Kent zum Mahnmal am anderen Ende der Schienen. Ihnen folgen die Repräsentant_innen der verschiedenen Nationen. Im Zelt wird es unruhig, nicht alle dürfen schon jetzt zum Mahnmal, sollen sich diesen symbolischen Akt auf einer Leinwand ansehen. Im Anschluss gibt es Medaillen für alle Überlebenden. Aber niemand will sich wieder hinsetzen, alles ist ein bisschen durcheinander. Es scheint Wichtigeres zu geben als ein kleines Stück Metall an einem Band.

Die Nacht ist hereingebrochen, die Kälte der vergangenen Tage wird noch lange brauchen, um wieder aus dem Körper zu verschwinden. Nicht der einzige Nachhall dieser Tage.

Anmerkung:

1) Die Gedenkveranstaltung kann man sich auf der Webseite der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau in kompletter Länge ansehen, auschwitz.org.