Es geht nicht um Israel
Diskussion Antisemitische Handlungen und Angriffe nehmen zu. Warum schweigt die Linke?
Von Anne Goldenbogen
Das Thema Antisemitismus ist derzeit in aller Munde. Die Jüdinnen und Juden sollen in Europa bleiben, sie gehörten ja schließlich dazu, sagt die politische Elite. Die Jüdinnen und Juden sollen nach Israel kommen, sagt der israelische Ministerpräsident Benjamin Nethanjahu in zionistischer Manier. Jede Menge Akteure melden sich zu Wort, von der Bundesregierung über den Zentralrat der Juden, die muslimischen Verbände, zivilgesellschaftliche Initiativen bis hin zu Wissenschaftler_innen und Journalisten_innen. Nur eine Stimme fehlt weitgehend, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa: die Stimme der politischen Linken.
Rufen wir uns schlaglichtartig die Ereignisse der letzten Jahre in Erinnerung, eine Chronologie würde den Rahmen sprengen:
Am 19. März 2012 werden im französischen Toulouse vier Jüd_innen vor einer jüdischen Schule erschossen, drei von ihnen Schulkinder. Der Anschlag ist Teil einer Serie, die Opfer der anderen beiden Attentate sind Soldaten des französischen Militärs.
Am 24. Mai 2014 stürmt ein Mann in das Jüdische Museum in Brüssel, erschießt drei Menschen und verletzt einen weiteren lebensgefährlich, der später seinen Verletzungen erliegt. Vier Tote - ein israelische Ehepaar, eine französische Praktikantin, ein belgischer Museumsangestellter.
Über den gesamten Sommer 2014 hinweg kommt es überall in Europa zu antisemitischen An- und Übergriffen. In Paris, Berlin, London und weiteren Städten verzeichnen die Behörden einen enormen Anstieg antisemitischer Straftaten. Friedhöfe werden geschändet, Synagogen angegriffen, jüdische Geschäfte beschädigt oder angezündet. Jüdinnen und Juden oder als solche identifizierte Menschen werden bespuckt, angepöbelt und geschlagen, Todesdrohungen werden verschickt, per Sprühdose, Brief oder Mail. Stolpersteine verschwinden. Politischer Hintergrund der Szenerie ist die Bombardierung des Gazastreifens durch Israel.
Am 8. Januar 2015 ermorden zwei Attentäter in Paris zwölf Menschen, als sie das französische Satire-Magazin Charlie Hebdo angreifen. Einen Tag später wird ein koscherer Supermarkt in Paris überfallen. Der Täter tötet vier Männer und nimmt weitere Kund_innen als Geiseln. Die vier Ermordeten sind Juden.
Am 14. Februar 2015 eröffnet ein Mann in Kopenhagen das Feuer auf eine Veranstaltung mit dem Karikaturisten Lars Vilks, erschießt einen Mann und verletzt weitere. Anschließend zieht er zur Synagoge, wo eine Bar-Mitzwa-Feier stattfindet. Der Angriff auf die Synagoge wird vereitelt, der jüdische Wachmann dabei vom Attentäter erschossen.
Antisemitische Einstellungen weiterhin verbreitet ...
Alle Täter hatten zuvor in unterschiedlichen Zusammenhängen Bezug auf den Nahostkonflikt genommen. Alle hatten Hass gegen Israel und Hass gegen Jüd_innen als ein treibendes Motiv angegeben. Alle fühlten sich nach eigener Aussage islamisch-fundamentalistischen Bewegungen nahe, einige hatten bereits in islamistischen Gruppierungen gekämpft.
Die Anschläge haben eine staatsoffizielle große Betroffenheit hervorgerufen. Schweigeminuten wurden abgehalten, Blumen niedergelegt. Aber nirgendwo hat sich die politische Linke in einer Form zu Wort gemeldet, die von ihr zu verlangen wäre. Lediglich in Kopenhagen veranstaltete die lokale Antifa eine Schweigeminute vor der Synagoge.
Ist der Antisemitismus gestiegen? Diese Frage ist so einfach nicht zu beantworten, denn sie impliziert die Frage danach, was überhaupt erhoben werden kann und wird. Noch dazu erschwert das Phänomen selbst seine Messbarkeit. Denn Antisemitismus hat sich, Tabu hin oder her, schon immer seinen Weg gesucht - nach 1945 verstärkt in Form von Codes und Anspielungen. In der Wissenschaft hat sich der Begriff der »Umwegkommunikation« etabliert. Diese ist, wie der sekundäre Antisemitismus, ein sehr deutsches Phänomen. Umwegkommunikation bedeutet, zu wissen oder anzunehmen, dass das, was man eigentlich sagen möchte, zu Abwehrreaktionen oder moralischer Verurteilung führen wird. Daher werden vermeintlich sicherere Kommunikationswege gesucht. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist eine solche Folie, bietet seine komplexe Struktur doch Anschlussmöglichkeiten für Aufladungen und Instrumentalisierungen jeglicher Art.
Die so entstehende Diskrepanz zwischen dem, was explizit gesagt wird und dem, was eigentlich gemeint ist, macht die Diskussion um Antisemitismus oft spekulativ. Und das ist ein Problem. Denn es fördert das Ressentiment und nicht dessen Bekämpfung.
Auf der Einstellungsebene kommen unterschiedliche aktuelle Studien zu der Erkenntnis, dass im Grunde alles ist wie immer. Um die 20 Prozent der Bevölkerung verfügen über antisemitische Denkmuster, und zwar quer durch alle Bevölkerungsschichten. Die Zustimmung zu einzelnen Stereotypen ist teilweise um ein Vielfaches höher. So unterstützen beispielsweise 81 Prozent das Statement: »Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als den Verbrechen an den Juden, die mehr als 60 Jahre zurückliegen.« (1)
... antisemitische Handlungen nehmen zu
Auf der Ebene der Handlungen dagegen ist die eingangs formulierte Frage eindeutig zu beantworten: Ja, der Antisemitismus in Deutschland und Europa tritt deutlicher und gewalttätiger zu Tage. Die Bereitschaft, sich offen antisemitisch zu äußern, steigt. Die Reaktionen in Europa auf den Gazakrieg 2014 zeugen davon, ebenso wie Äußerungen im Rahmen der Montagsmahnwachen, unzählige Briefe und Mails an die Jüdischen Gemeinden sowie ein Blick in Kommentarspalten und auf Facebookseiten.
Deutlich zeigt sich auch hier die traurige Wahrheit, dass, was sagbar ist und unwidersprochen bleibt, früher oder später auch machbar wird. In Frankreich hat sich die Zahl antisemitischer Übergriffe 2014 im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt. In Deutschland wurden im dritten Quartal des vergangenen Jahres 302 antisemitische Straftaten gezählt, doppelt so viele wie im Quartal zuvor. In Großbritannien kam es 2014 mit 1.168 antisemitischen Vorfällen zu einem neuen Rekord.
Im Rahmen einer Online-Erhebung der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) von 2013 wurden rund 5.900 Jüdinnen und Juden in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Lettland, Schweden, Ungarn und Großbritannien zu ihren persönlichen Wahrnehmungen von und Erfahrungen mit Antisemitismus befragt. Insgesamt leben in diesen Ländern rund 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung der EU.
Drei Viertel der Befragten gaben an, dass der Antisemitismus in ihrem Land innerhalb der vergangenen fünf Jahre zugenommen habe. Rund 26 Prozent wurden in den zwölf Monaten vor der Erhebung verbal beleidigt oder belästigt, weil sie Jüd_innen sind. Vier Prozent erlebten körperliche Gewalt oder Androhungen körperlicher Gewalt. Mehr als die Hälfte wurde innerhalb der letzten zwölf Monate vor der Erhebung Zeug_in von Situationen, in denen der Holocaust geleugnet oder relativiert wurde. Die überwiegende Mehrheit hat keine der erlebten Situationen zur Anzeige gebracht.
Nun wird in Deutschland wieder einmal darüber diskutiert, wie das mit dem Antisemitismus nun aussieht, was darunter zu fassen, wer daran schuld sei und wer darüber urteilen dürfe. Für die einen gibt es keinen echten Antisemitismus ohne Nationalsozialismus und Holocaust. Für die anderen beginnt Antisemitismus schon damit, Israel nicht zu mögen. Für die einen sind »die Muslime« die neuen echten Antisemit_innen. Die anderen warnen davor, dass der Antisemitismusvorwurf benutzt werde, um antimuslimische und rassistische Ressentiments zu transportieren. Für die einen sind Jüdinnen und Juden nicht in der Lage, objektiv über Antisemitismus zu urteilen. Für die anderen sind Jüdinnen und Juden die einzigen, die objektiv über Antisemitismus urteilen können.
Statt Solidarität mit Jüd_innen zu üben wird diskutiert
Exemplarisch und höchstaktuell ist hier die Auseinandersetzung um die Studie »Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin« von Michael Kohlstruck und Peter Ullrich wie auch um die Besetzung der Expertenkommission Antisemitismus des Deutschen Bundestages und die Frage nach der Notwendigkeit einer jüdischen Perspektive.
Diese Diskussionen sind nicht neu und in weiten Teilen wenig hilfreich. Insofern hat Peter Ullrich Recht, wenn er in seiner Kolumne im Neuen Deutschland vom 4. März konstatiert, dass Polarisierungen und Diffamierungen statt Differenzierungen die Debatte prägen. Das ist aber eben nicht nur ein theoretisches Problem, es hat ganz praktische Konsequenzen. Und zwar für diejenigen, die als Jüd_innen angefeindet werden.
Was ist so schwer daran, Stellung zu beziehen? Warum scheint es für viele Menschen zu viel verlangt, sich öffentlich klar und deutlich gegen Antisemitismus zu positionieren, ohne den Impuls zu verspüren, ein »Aber« in den Satz einzufügen? Weil viele irgendwo im letzten Hinterstübchen den Gedanken nicht loswerden, die Wut der Angreifer_innen ein wenig verstehen zu können? Dass Israel doch aber tatsächlich Verbrechen begehe, die man angeprangern können müsse, ohne gleich mit der Antisemitismuskeule konfrontiert zu werden? Dass die steigende Islamfeindlichkeit in Deutschland und Europa bei der Bewertung der Situation nicht ausgeblendet werden dürfe?
Alles richtig. Und alles falsch. Warum? Weil es darum an dieser Stelle nicht geht. Es geht nicht um Israel. Es geht nicht um den Nahostkonflikt. Es geht nicht um Islamfeindlichkeit. Es geht darum, dass in Europa Menschen angegriffen und getötet werden, weil sie Jüdinnen und Juden sind. Das ist alles. Das ist Antisemitismus.
Selbstverständlich sind Differenzierungen notwendig - vor allem in der Analyse. Skandalisierungen und Moralisierung helfen nicht weiter - schon gar nicht in der Pädagogik. Unter allen Umständen aber sind politische und gesellschaftliche Zeichen jenseits der staatsoffiziellen Verlautbarungen vonnöten: parteiisch auf der Seite der Betroffenen, deutlich in der Benennung der Ursachen, klar in der Zurückweisung jedweder Instrumentalisierung. Das gilt vor allem auch für die politische Linke. Sie wird sich daran messen lassen müssen, ob sie weiter schweigt oder endlich Position bezieht.
Anne Goldenbogen ist aktiv in der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. In ak 596 schrieb sie über die Eskalation des Antisemitismus im Zuge des Gazakrieges.
Anmerkung:
1) Bertelsmann Stiftung: Deutschland und Israel heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart? www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/deutschland-und-israel-heute