Aufgeblättert
Bolívars Erben
Nachdem Lateinamerika in den 1970er und 1980er Jahren fast vollständig unter neoliberaler Knute stand, kam es ab Ende des 20. Jahrhunderts in mehreren Ländern zu einer Linkswende, in die auch viele europäische Linke große Hoffnungen setzten. Bald entbrannten die Diskussionen darüber, ob es sich bei den neuen Linksregierungen nun um einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« oder doch um einen »andinen« oder »kommunitären Kapitalismus« handele. Jenseits solcher Binaritäten untersucht Dieter Boris die von den verschiedenen Linksregierungen eingeleiteten Transformationsprozesse, deren sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen sowie ihr Verhältnis zu den sozialen Bewegungen. Schwerpunkte bilden dabei Venezuela, Ecuador, Bolivien, Brasilien und Argentinien. Den Medien als besonders wichtigem Terrain im Kampf um Hegemonie widmet Boris ein eigenes Kapitel. Die Frage, ob die Linksregierungen im Vergleich zu ihren Vorgängern für eine neue Entwicklung oder doch eher für Kontinuität stehen, beantwortet er vorsichtig optimistisch: Zwar könne nicht von einem »kontinentalen Linksruck« oder gar einer »(vor)revolutionären Abkehr vom Neoliberalismus« gesprochen werden, wohl aber von »einer authentischen post-neoliberalen Reform«. Teilweise scheint der Autor mit seinen Einschätzungen sehr nah am offiziellen Regierungsdiskurs zu sein. Entsprechend bleiben etwa ökologische Fallstricke des lateinamerikanischen Entwicklungswegs weitgehend außen vor.
Sarah Lempp
Dieter Boris: Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika. PapyRossa Verlag, Köln 2014. 202 Seiten, 14,90 EUR.
»Lebensschützer«
Im Sommer 2014 zogen Anhänger_innen der sogenannten »Lebensschutz«-Bewegung durch Berlin. Ihr »Marsch für das Leben« wurde gestört von Feministinnen und anderen Linken. Jetzt gibt es ein Buch über diese Ein-Punkt-Bewegung, die ein generelles Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen fordert. Evangelikale Organisationen nehmen innerhalb der »Lebensschutz«-Bewegung eine herausragende Rolle« ein. Die »Lebensschützer« geben sich gleichermaßen als seriöse und professionelle Lobbyisten und als bibelfeste Fundamentalisten. Eine liberalisierte Sexualmoral lehnen sie ebenso ab wie schwule und lesbische Lebensentwürfe. Stattdessen skizzieren sie einen streng christlichen Gesellschaftsentwurf. In dem nur 98 Seiten starken Buch wird auf Begrifflichkeiten, Parolen und Argumente der »Lebensschützer« eingegangen, die bereits bei der »Pille danach« von einer »Abtreibung light« sprechen. Es gibt ein Kapitel zur Geschichte der »Lebenschutz«-Bewegung und eine Analyse zu ihrer Kulturkritik. Abschließend werden Organisationen und Publikationen vorgestellt, darunter auch die Wochenzeitung Junge Freiheit, das »Sprachrohr der Bewegung«. Die einschlägigen Vereine, Stiftungen oder Verbände sind zumeist »gut verzahnt in breitere politische Netzwerke von christlichen Gruppen, von Parteien und Organisationen der Neuen Rechten«, schreiben die Autoren. Als Einführung ist das Buch mit seinen vielen Verweisen und Erläuterungen empfehlenswert.
Florian Osuch
Eike Sanders, Ulli Jentsch, Felix Hansen: Deutschland treibt sich ab. Organisierter »Lebensschutz«, Christlicher Fundamentalismus, Antifeminismus. Unrast Verlag, Münster 2014. 98 Seiten, 7,80 EUR.
Michel Houellebecq
Vorab: Mit Michel Houellebecq bin ich noch nie so richtig warm geworden - was vielleicht kein Wunder ist bei dem eiskalten Nihilismus, der sein Werk umweht wie der Trockeneis-Dunst den Bofrost-Lieferanten (allein die Sexszenen in »Elementarteilchen« - brr!). Das ändert aber nichts daran, dass Houellebecq ein großer Schriftsteller ist: ein kühler Diagnostiker seiner Zeit, der, um Schiller zu zitieren, eine literarische »Leichenöffnung des Lasters« betreibt. Darauf muss man sich einlassen. Wenn der (gar nicht mal so skandalöse) »Skandalroman« »Unterwerfung« also keine Begeisterungsstürme bei mir auslöst, dann weder aufgrund persönlicher Animositäten noch aufgrund des provokanten Themas (»Islamisierung« Frankreichs), sondern schlicht wegen poetischer Schwächen: »Unterwerfung« fängt spannend an, dümpelt ab der Mitte nur noch vor sich hin und endet enttäuschend. Dass relevante Informationen durch Dialoge nachgeliefert werden, ist schnell als Taschenspieletrick entlarvt. In konzeptioneller Hinsicht macht das freilich Sinn, denn Ich-Erzähler François ist eine zutiefst passive Person; ein desillusionierter Akademiker, der im neuen Patriarchat dem horror vacui entflieht. Genau das macht Houellebecqs jüngsten Roman eigentlich brisant. Über islamophobe Schreckensszenarien hinaus ist »Unterwerfung« nämlich vor allem eine Abrechnung mit den Allmachtsfantasien »weißer Männer« und ein Abgesang auf die in Frankreich so wichtige Figur des Intellektuellen.
Stephanie Bremerich
Michel Houellebecq: Unterwerfung. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. DuMont, Köln 2015. 272 Seiten. 22,99 EUR.
KZ Sonnenburg
Das KZ und Zuchthaus Sonnenburg, im heutigen westpolnischen Slonsk gelegen, war lange Zeit vergessen. In den ersten Jahren der NS-Herrschaft war der Ort als »Folterhölle Sonnenburg« weltbekannt. Im April 1933 wurden die ersten Häftlinge in das Lager verschleppt, überwiegend Berliner Kommunist_innen. Auch die drei bekannten linken Intellektuellen Carl von Ossietzky, Erich Mühsam und Hans Litten wurden in Sonnenburg gefoltert. Über den Empfang der Gefangenen schrieb der kommunistische Widerstandskämpfer Klaas Meyer: »Es wurde mit allerhand Mordwerkzeugen geschlagen, mir lief das Blut schon durch das Gesicht. (...) Die ganze Bevölkerung war vertreten, wir wären Reichstagsbrandstifter. Eltern und Kinder schlugen nach uns und wir wurden angespuckt«. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Nazigegner_innen aus ganz Europa nach Sonnenburg verschleppt. Die Sterberate war hoch. Daniel Quaiser geht in seinen Aufsatz auf das Massaker ein, bei dem in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 insgesamt 819 Gefangene von der Gestapo erschossen wurden, kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee. Kamil Majrchrzak berichtet über die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in Polen. In der BRD hingegen wurden die für das Massaker verantwortlichen SS-Männer Heinz Richter und Wilhelm Nickel 1971 vom Kieler Landgericht freigesprochen. Mittlerweile hat die polnische Justiz die Ermittlungen wieder aufgenommen. Ein Grund mehr, sich an die Geschichte Sonnenburgs und seiner Opfer zu erinnern.
Peter Nowak
Hans Coppi und Kamil Majchrzak (Hg.): Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg. Metropol Verlag, Berlin 2015. 240 Seiten, 19 EUR.