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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 603 / 17.3.2015

Muslime sind die neuen Katholiken

Himmel & Hölle Religionskritik, Marxismus und die Geschichte des antiklerikalen Kulturkampfs in Deutschland

Von Georg Klauda

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind linke Medien wie Jungle World und Konkret von einer geradezu unüberschaubaren Flut antiislamischer Tiraden geprägt. Was sich für die einen als offene Komplizenschaft der deutschen Linken mit dem westlichen Krisenimperialismus und dem sich formierenden antimuslimischen Rassismus in Deutschland darstellt, wird von den anderen als notwendige Aktualisierung linker Religionskritik gerechtfertigt. Richten sich die Dschihadisten mit ihrem Terror etwa nicht gegen genau die gesellschaftlichen Werte, für die Progressive so viele Jahre gestritten haben? Die Emanzipation der Frau, die sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Blasphemie.

Freilich stellt sich die Frage, warum Religionskritik in Deutschland immer ausgerechnet dann entdeckt wird, wenn es um den Glauben der Anderen geht. Die Millionenproteste französischer Katholiken gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die Demonstrationen der Kirchen in Baden-Württemberg gegen sexuelle Vielfalt im Unterricht und die internationale Missionstätigkeit US-amerikanischer Evangelikaler, die in Uganda erfolgreich für die Todesstrafe für »Homosexualität in schweren Fällen« warben - all das war der deutschen Linken, zumal der islamkritischen, keine nennenswerte Intervention wert.

In Wirklichkeit handelt es sich bei der von ihnen beanspruchten linken Religionskritik um eine »erfundene Tradition« (Hobsbawm). Denn seit Ende des 19. Jahrhunderts war der Antiklerikalismus eine Domäne der Liberalen und Nationalen, an der sich die aufkeimende sozialistische Arbeiterbewegung bewusst nicht beteiligen wollte. Zwar trat das Erfurter Programm der SPD von 1891 für eine strikte Trennung von Staat und Kirche ein; aber damit einhergehend auch für ein Ende der liberalen Unterdrückung der Religion etwa in Gestalt des Jesuitengesetzes und des Kanzelparagraphen, mit dem katholische Geistliche in Deutschland seit den 1870er Jahren kriminalisiert wurden.

»Den Bismarck überbismarcken«

Während dieser Zeit verschärfter Repression gegen den Katholizismus tat sich besonders Friedrich Engels dabei hervor, den lärmenden Antiklerikalismus von Blanquisten und Anarchisten in der Internationalen Arbeiterassoziation zu isolieren. »Der einzige Dienst, den man Gott heutzutage noch tun kann, ist der, den Atheismus zum zwangsmäßigen Glaubensartikel zu erklären und die Bismarckschen Kirchenkulturkampfgesetze durch ein Verbot der Religion überhaupt zu übertrumpfen.« »Den Bismarck zu überbismarcken« wirft er vier Jahre später auch seinem Gegner Eugen Dühring vor; »er dekretiert verschärfte Maigesetze, nicht bloß gegen den Katholizismus, sondern gegen alle Religion überhaupt; er hetzt seine Zukunftsgendarmen auf die Religion und verhilft ihr damit zum Märtyrertum und zu einer verlängerten Lebensfrist.«

Obwohl Marx und Engels nicht gerade Sympathien für die Religion nachgesagt werden können, war für sie die Vorstellung von Aufklärung als obrigkeitsstaatlicher Erziehung vermeintlich unmündiger Massen etwas, das sich mit ihrer Vorstellung von der Emanzipation der Arbeiter als ihrer eigenen Tat schwerlich vereinbaren ließ. Religion galt ihnen als Ideologie, aber sie war darin »Widerspiegelung« realer Widersprüche. So wie sich die Produktionsmittel als Produkte ihrer eigenen Hand zu einer ihnen gegenübertretenden »fremden Macht« verselbständigt hatten, so geschah es ihnen auch mit den Göttern als Geschöpfen ihres eigenen Verstandes. In ihrer Verzweiflung mochten sie glauben, durch Gebete und das Anzünden von Kerzen auf die Schläge des ihnen zugeteilten Schicksals wieder praktischen Einfluss zu erlangen. Wenn der Glaube, in den Worten Heinrich Heines, aber ein »Opium«, d.h. ein Trost spendendes Schmerzmittel war, dann bestand die Lösung nicht in der Wegnahme des Medikaments, sondern in der Beseitigung seines klassengesellschaftlichen Grundes: den sich in religiösen Praktiken ausdrückenden gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrungen. Darum hatten sie 1848 mit dem Linkshegelianismus und seiner lärmenden atheistischen Propaganda gebrochen. Die Arbeiterklasse an konfessionellen und religiösen Linien zu spalten, erschien ihnen als die Dummheit linker Kleinbürger.

Die Liberalen dagegen rechtfertigten mit Verweis auf die geistige Unselbständigkeit religiöser Bevölkerungskreise ihre Parteinahme für das Zensuswahlrecht, das über den Maßstab des Besitzes den ungebildeten »Pöbel« bis auf weiteres vom politischen Prozess ausschloss. Insbesondere der katholische Süden wurde dabei als »innerer Orient« imaginiert, auf den sich jene bürgerliche Zivilisierungsmission richtete, die im Äußeren noch nicht ausgelebt werden konnte. Liberale verstanden sich als »Kulturbringer«, die dem als geschichtslos aufgefassten Anderen zu jenem Fortschritt verhalfen, zu dem er von sich aus nicht in der Lage schien. Die antiklerikale Propaganda war so auch eine indirekte Legitimation ihres eigenen Klassenprivilegs.

Stigmatisierung des Katholizismus

Die Essenzialisierung des Katholizismus zum geschichtsunfähigen Anderen des liberalen Europas war dabei selber im höchsten Grade illusionär. Der antiliberale Furor von Papst Pius IX. verdankte sich nicht einer inneren Resistenz des Katholizismus gegen die Moderne, sondern der territorialen Bedrohung des Kirchenstaats durch das Risorgimento, der liberalen und nationalen Bewegung Italiens und Piemonts. Pius reagierte auf diese Entwicklungen 1864 mit dem »Syllabus errorum«, der die Kirche anhand einer Liste der 80 »wichtigsten Irrtümer unserer Zeit« in eine radikale Frontstellung »mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Kultur« brachte. Auf Kritik aus den eigenen Reihen antwortete Pius mit dem Dogma seiner eigenen Unfehlbarkeit, was zur Abspaltung liberaler Altkatholiken von der aus ihrer Sicht »neuen« römisch-katholischen Kirche führte.

Statt die Ergüsse des Pontifex auf seine reale Machtlosigkeit zurückzuführen und sie daher einfach zu ignorieren, ergingen sich liberale Medien nach der Verkündung des Syllabus in einer zunehmend rabiaten Polemik gegen den katholischen Klerus. Journalistische Schauergeschichten, in denen Nonnen und Mönche abwechselnd als sexualfeindliche Asketen, die junge Frauen wegen Unzucht lebendig einmauerten, und als orgiastische Triebtäter und Vergewaltiger vorstellt wurden, lösten 1869 den »Moabiter Klostersturm« durch ca. 3.000 Berliner_innen aus. Katholische Abgeordnete reagierten auf die zunehmende Stigmatisierung ihres Glaubens sowie die beginnenden Vorstöße preußischer Liberaler zur Zwangsauflösung der Klöster mit der Gründung der Zentrumspartei, die nach der Wahl zum ersten deutschen Reichstag auf Anhieb die zweitstärkste Fraktion bildete.

Der politische Katholizismus war somit ein im Kulturkampf von den Liberalen selbst geschaffener Gegner, während der Papst in Rom mit seinen antimodernistischen Enzykliken ein reiner Papiertiger blieb. Umso stärker blühten in der antiklerikalen Presse die Verschwörungstheorien, welche den traditionell papsttreuen Orden der Jesuiten zum staatsgefährdenden »inneren Reichsfeind« (Bismarck) stilisierten. 1870 versprach das Satiremagazin Kladderadatsch eine Belohnung von 20 Dukaten für ein »probates Mittel gegen die Jesuiten-Schädlinge«. Kanzelparagraph und Ordensverbot galten dabei noch keineswegs als hinreichende Maßnahmen, mit diesem »Reichs-Ungeziefer« fertig zu werden. Ganz offen wurde auch dessen physische Vernichtung herbeigesehnt: »Die Trichinen im Milliardenschwein, / Die Phylloxera in unserem Wein / Und der schwarze Wurm im Reichsäpflein, / Mögen dem +++ empfohlen sein!«

Zum Abflauen des Kulturkampfs, der bis 1878 bereits zur Inhaftierung von 1.800 Geistlichen und, auf der Gegenseite, zu einem Attentat auf Bismarck durch den katholische Handwerker Eduard Kullmann geführt hatte, kam es erst, als mit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Nationalliberalen und ultramontanen Katholiken ein gemeinsamer politischer Gegner erwachsen war. Die Topoi des Kulturkampfs - der Vorwurf gespaltener Loyalität, der transnationalen Verschwörung und der inneren Zersetzung des Reichs - verschwanden dabei nicht einfach, sondern wurden auf Jüd_innen und Sozialist_innen übertragen, während die zuvor auf katholische Gebiete gerichtete liberale Zivilisierungsmission ihr Objekt jetzt in den afrikanischen Kolonien fand.

Zivilisierungsmission des Bürgertums

Das Erstarken eines liberalen Antisemitismus verwundert umso mehr, als dieser bis dahin als Zeichen der besonderen geistigen Rückständigkeit der katholischen Bevölkerung gegolten hatte. Noch im Vorfeld des Moabiter Klostersturms veröffentlichte die Satirezeitung Die Berliner Wespen die Karikatur eines Mönchs, der mit Dolch und Fackel eine Judengasse stürmt. Über den Antijudaismus sollte der Katholizismus mit mittelalterlichen Vorurteilen und Pogromen in Verbindung gebracht werden. Und tatsächlich versuchten Zentrumspolitiker die Position jüdischer Liberaler immer wieder mit Verweis auf ihre Konfession zu diskreditieren. Doch am Ende war es der nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke, der 1879 mit dem Satz »Die Juden sind unser Unglück« dem Antisemitismus zu einem neuen, modernen Ansehen verhalf. Als rückständig, assimilationsunwillig und trotzig einer fremden Denkungsart verhaftet galten nun auf einmal nicht mehr die romtreuen Katholiken, sondern die Juden.

Religionskritik war im Kirchenkampf ein Deckmantel für die Generierung nationaler Aggressionen, die sich schon wenig später gegen ganz andere Objekte richteten. Die Selbstbeschreibung als aufgeklärt und fortschrittlich stattete das Bürgertum dabei mit einer Zivilisierungsmission aus, die es nicht nur erlaubte, Menschen als unmündig zu markieren und sie zu Objekten einer repressiven »Erziehungsgewalt« zu machen. Sie diente vor allem auch dazu, die Subalternen von politischen Prozessen fernzuhalten und so die eigenen Privilegien zu schützen. Nietzsche als der »Philosoph des Zweiten Reichs« (Altman) brachte den ideologischen Übergang vom Kirchenkampf zu den Sozialistengesetzen kongenial zum Ausdruck, indem er das Christentum eines »Sklavenaufstands in der Moral« zieh. Wie der Sozialismus verdanke es sich einem Ressentiment der Schwachen und Minderwertigen, die Ausbeutung, Herrschaft und Gewalt als etwas Schlechtes darzustellen versuchten, wo es doch die Grundfunktion alles Lebendigen sei. In den 1890er Jahren ersetzte der Sozialdarwinismus den Protestantismus endgültig als die wichtigste Legitimationsideologie bürgerlicher Eliten.

Wenn die maßlose Hetze gegen Muslime heute mit Religionskritik gerechtfertigt wird, dann ruft das keine marxistischen Traditionen wach, sondern die schlimmsten Exzesse des deutschen Liberalismus im Umgang mit seinen selbstgeschaffenen »Anderen«. Es ist genau jene Linke, die die Klassenfrage preisgegeben hat, welche sich jetzt ohne Umschweife daran beteiligt, die Folgen sozialer Desintegration durch Hartz IV in einen Ausdruck zivilisierungsbedürftiger Fremdheit, Rückständigkeit und mangelnder Anpassungsbereitschaft umzudeuten. Dafür steht ihr Projekt der »Islamkritik«, das mit dem Bedürfnis nach Kriegslegitimation begann und in einem disziplinären Projekt für die Unterschichten endet. Es ist, mit einem Wort, der alte liberale Wein in neuen Schläuchen.

Georg Klauda ist Soziologe aus Berlin und beschäftigt sich mit Religionsgeschichte, kritischer Theorie, Marxscher Ökonomiekritik sowie der Geschichte der Sexualität.