Nigerias Islamischer Staat
International Die Terrororganisation Boko Haram verbreitet Angst und Schrecken und fromme Parolen, ihren Anführern geht es aber vor allem ums kriminelle Geschäft
Von Marc Engelhardt
Die Terroristen kamen in der Nacht zum 15. April 2014 mit Gewehren und Granaten, Lastwagen und einem Bus. Ihr Attentat war gut vorbereitet. In der kleinen Ortschaft Chibok im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias stürmten die Angreifer das örtliche Mädcheninternat - die staatliche Secondary Girls School - und trieben die Schülerinnen der Abschlussklassen zusammen. Fast ein Jahr später fehlt von 243 Mädchen jede Spur, niemand glaubt, dass sie noch gefunden werden. Hinter der Entführung, die es durch den Twitter-Hashtag #bringbackourgirls weltweit in die Nachrichten schaffte, steckt Afrikas derzeit mächtigste Terrorgruppe: Boko Haram.
Wer steckt hinter der Bewegung? Mit vollem Namen heißt sie »Sunnitische Bruderschaft in Ausführung des Heiligen Krieges«. Lange verstand sie sich als Teil des Terrornetzwerks Al-Qaida - bis der mutmaßliche Anführer Abubakar Shekau in einer Audiobotschaft Anfang März 2015 dem sogenannten »Islamischen Staat« (IS) die Treue schwor. Nicht ganz überraschend, denn dessen Strategie hatte Boko Haram schon lange kopiert. Anstatt - wie noch in Chibok - schnelle Überfälle zu verüben und dann zu fliehen, hatte Boko Haram im Herbst 2014 damit begonnen, immer mehr Dörfer und Städte unter ihre Kontrolle zu bringen. Im Februar kontrollierte die Bewegung mit geschätzten 6.000 bis maximal 15.000 Kämpfern eine Region von der Größe Belgiens, in der eine Million Menschen leben. »Unseren Kalifatsstaat« nannte Shekau die Region bereits im September in einer Videobotschaft. Dass Boko-Haram-Videos sich in Machart und Qualität immer mehr denen des IS angenähert haben, war ein weiterer Hinweis darauf, dass Boko Haram sich dem weltweit führenden Terrornetzwerk anschließen würde.
Boko Haram als Akteur der nigerianischen Politik
Boko Haram, die Kurzform, unter der die Gruppe berühmt wurde, bedeutet übersetzt »Westliche Bildung ist Sünde«. Doch tatsächlich steckt hinter Boko Haram keine streng religiöse Sekte, die nur nach dem Gottesstaat strebt, wie Shekau gerne vorspiegelt. Schon kurz nach ihrer Gründung vor mehr als zwölf Jahren wurde die Bewegung Teil des politischen Powerplays, des brutalen Kampfes um die Macht auf allen Ebenen des nigerianischen Staates. »Paten« werden die Strippenzieher_innen genannt, die Wähler_innen schmieren und bezahlte Schlägertrupps engagieren, um von ihnen installierte Kandidat_innen durchzusetzen. In dieser korrupten Halbwelt geht es um Macht und vor allem: um Geld. Hier ist Boko Haram zu seiner Größe herangewachsen, weiß ein nigerianischer Analyst der International Crisis Group. Einen ranghohen Polizisten zitiert er mit dem Satz: »Die Politiker haben die Kontrolle über das Monster verloren, das sie schufen.«
Einer der Schöpfer ist nach allem, was man wissen kann, Ali Modu Sheriff, auch wenn dieser alle Vorwürfe zurückweist. 2003 wollte Sheriff Gouverneur von Borno werden, dem Bundesstaat, in dem auch Chibok liegt. In der Landeshauptstadt Maiduguri schloss Sheriff nach zahlreichen Berichten einen Pakt mit Mohammed Yusuf, der gerade erst eine unter Jugendlichen erfolgreiche islamische Sekte gegründet hatte: Boko Haram.
Boko Haram war beliebt, gerade bei den armen Massen. Anders als die politische Elite galt die Bewegung als integer. Sie bot kostenlosen Unterricht in der Koranschule an und gab jungen Männern Arbeit. Yusuf, so Sheriffs Plan, sollte Sheriffs Kampagne in der Moschee und den Armenvierteln unterstützen. Im Gegenzug sagte Sheriff zu, nach seiner Wahl Geld aus der Staatskasse an die Bewegung umzuleiten. Der Plan ging auf. Sheriff, der ohne Unterstützung von Boko Haram wohl chancenlos gewesen wäre, gewann die Wahl.
Jahrelang flossen Millionenbeträge aus dem Staatssäckel an Boko Haram, bis zu einem blutigen Massaker in Maiduguri im Juli 2009. Danach wollte Sheriff nichts mehr mit der Bewegung zu tun gehabt haben. Seinen Mittelsmann Buji Foi, den er zum Kommissar für religiöse Angelegenheiten gemacht hatte, erklärte er daraufhin zum alleinschuldigen Agenten von Boko Haram und schrieb ihn zur Fahndung aus. Die Polizei erschoss Foi auf einer Farm, bevor belastende Aussagen von ihm aufgenommen werden konnten. Der damalige Boko-Haram-Chef Mohammed Yusuf kam wenige Tage später auf einer Polizeiwache ums Leben. Sheriff regierte danach ungehindert weiter. Boko Haram dagegen wechselte die Seiten und arbeitete zumindest bis 2011 auch für Abgeordnete der PDP, der Regierungspartei von Nigerias Präsident Goodluck Jonathan.
Die Verbindungen zwischen Politiker_innen und Terroristen sind vermutlich niemals abgerissen. Im heftig geführten Wahlkampf 2015 (die Wahlen sind, angeblich wegen Boko Haram, zuletzt auf den 28. März verschoben worden) warfen die beiden großen Parteien sich gegenseitig vor, Boko Haram zu unterstützen, um aus dem Terror im Norden einen Vorteil zu ziehen. Womöglich haben beide Parteien Recht. Daran jedenfalls, dass die Interessen der politischen Elite und die von Boko Haram eng verflochten sind, scheint in Nigeria niemand zu zweifeln.
Boko Haram ist zudem nicht die eine, durchorganisierte Gruppe, als die sie oft dargestellt wird. Von etwa sechs Gruppen, die unabhängig voneinander agieren, gehen Kenner_innen wie der Analyst Andrew Stroehlein aus. Der Name Boko Haram sei zum Deckmantel für kriminelle Aktivitäten aller Art geworden, sagt er. »Alles, was irgendwie mit Gewalt zu tun hat, kann Boko Haram angehängt werden. Die Bewegung ist ein perfektes Alibi für alles.« Auch deshalb entsteht der Eindruck, Boko Haram sei überall und nirgends.
Religiös verbrämte Kriminalität
Dass es der Organisation nicht um religiöse Ziele geht, ist dabei offensichtlich. Boko Haram ist in erster Linie ein kriminelles Netzwerk. Die regierungsfreien Räume im Nordosten Nigerias ermöglichen den Terroristen maximale Handlungsfreiheit für ihre schmutzigen Geschäfte, etwa für Schutzgelderpressung, die nach Meinung von Bukar Umar hinter der Entführung der Schulmädchen aus Chibok steckt. »Vor einem Jahr tauchten zum ersten Mal Boko-Haram-Kämpfer in unserem Dorf auf«, berichtet Umar, der in Kamuyya lebt, einem Dorf nur knapp 50 Kilometer von Chibok entfernt. »Sie waren bewaffnet und haben uns gesagt: Ihr habt zwei Monate, um 250.000 Naira Steuern zu sammeln« - umgerechnet rund 1.100 Euro.
Kamuyya ist ein staubiger Marktflecken, hier leben vor allem Bäuer_innen, kleine Händler_innen, Gelegenheitsarbeiter_innen. Kaum jemand verdient mehr als ein oder zwei Euro am Tag, wenn überhaupt. »Wir haben das deshalb auch nicht so ernst genommen«, gibt Umar zu. »Niemand hat sich wirklich angestrengt, das Geld zu sammeln.« Als die Terroristen zwei Monate später wiederkamen, hatten die Bewohner_innen nicht einmal die Hälfte zusammen. »Daraufhin haben sie ein Blutbad angerichtet.« Zwanzig Menschen starben, als die Terroristen auf dem Markt das Feuer eröffneten, Dutzende wurden verletzt.
Kamuyya ist kein Einzelfall. Überall im Norden Nigerias verlangt Boko Haram Steuern - von Muslim_innen verlangen sie die »Zakat« genannten Almosen für Bedürftige und Sonderabgaben etwa für den »heiligen Krieg«, von Andersgläubigen wie in Kamuyya oder Chibok die »Dschizya« genannte Kopfabgabe, deren Geschichte bis in die Zeit der Feldzüge Mohammeds im fünften Jahrhundert zurückreicht. Im 17. Jahrhundert verschwand die Erhebung der Dschizya; erst seit gut zwanzig Jahren finanziert sie die Operationen etwa der Taliban, des IS und jetzt auch von Boko Haram.
Dass im Fall von Chibok die Dschyzia durch Entführung und Verkauf der Mädchen »beglichen« werden soll, entspricht der Logik der Gruppe, die zudem ein Interesse daran hat, Angst zu säen und damit künftige Steuerzahler_innen gefügig zu machen. »Ich wurde aus meinem Dorf entführt, meine Eltern und Brüder konnten fliehen«, berichtet Jennifer Gyang, nachdem sie bei einer nigerianischen Hilfsorganisation Schutz gefunden hat. Die junge Frau wurde mit fünf anderen Christinnen in einem Versteck nahe der Provinzhauptstadt Maiduguri festgehalten. »Zwei Wochen lang sind wir immer wieder vergewaltigt worden - die Männer haben uns gesagt, dass wir damit unsere Dschizya abzahlen.«
Noch lukrativer als die Schutzgelder sind für Boko Haram Entführungen. Seit mehr als zwei Jahren haben die Terroristen Hunderte verschleppt und gegen Lösegeld wieder freigelassen. Es ist eine Strategie, die Boko Haram von Al-Qaida im Islamischen Maghreb kopiert hat, als beide 2012 gemeinsam im Norden Malis kämpften. Am 19. Februar 2013 entführte Boko Haram erstmals sieben Französ_innen aus einem Nationalpark im grenznahen Kamerun. Nach Verhandlungen zwischen Shekau und der kamerunischen Regierung wurden der Ingenieur und sechs Familienangehörige freigelassen. Das Lösegeld soll drei Millionen Euro betragen haben. Am 1. Juni 2014 entließ Boko Haram drei Geistliche aus ihrer Gewalt, zwei Italiener und eine Kanadierin. Auch für sie soll Lösegeld in Millionenhöhe geflossen sein.
Geschäftsfelder des Terrors
Doch es sind nicht nur ausländische Regierungen, die Lösegelder zahlen. Allein zwischen Februar und Juni 2013 wurden Dutzende Nigerianer_innen verschleppt, unter anderem eine Gruppe von 12 Frauen und Kindern, die in einer Polizeistation Zuflucht gesucht hatten, ein Fabrikmanager, ein Universitätsdozent, ein Zöllner und seine Familie, die Mutter eines Abgeordneten im Regionalparlament von Borno und der Vater der dortigen Frauenbeauftragten. Die Entführten stammen vor allem aus dem Mittelstand, der sich keine Leibwächter leisten, aber dennoch Lösegelder von rund 10.000 Euro aufbringen kann.
»Die Tatsache, dass Boko Haram kontinuierlich neue Leute ausbilden und bezahlen, neue Ausrüstung anschaffen und sonstige Kosten decken kann, beweist, dass die Organisation in der Lage ist, sich nachhaltig zu finanzieren«, glaubt der nigerianische Analyst Nkwachukwu Orji. Zu den Finanzierungsquellen gehören außer Löse- und Schutzgeldern auch Erlöse, die mit betrügerischen Emails erwirtschaftet werden. Auch vom Drogen- und Waffenschmuggel soll Boko Haram profitieren. Allein 2011 wurde die Gruppe zudem für 100 Banküberfälle verantwortlich gemacht; fünf Millionen Euro wurden dabei erbeutet. Banken sind ein perfektes Ziel. Die Überfälle lohnen sich nicht nur, sie lassen sich auch ideologisch begründen, etwa weil sie im Islam verbotene Zinsen zahlen und erheben.
Solche Begründungen sind vor allem den Fußsoldaten wichtig, die bereit sind, ihr Leben für die angeblich hehren Ziele von Boko Haram aufzugeben. »Wer an einem Banküberfall teilgenommen hat, der hat auf seinen Anteil auch noch mal Zakat gezahlt«, sagte Alhadschi Abu Qaqa, ein Finanzmanager von Boko Haram, nach seiner Verhaftung 2012 aus. Vier Fünftel der Beute gehen ihm zufolge direkt an Abubakar Shekau, der davon mehr als die Hälfte an Hinterbliebene, Arme und Bedürftige weiterreichen soll. »Aber es hat sich niemand getraut zu fragen, wie genau das Geld ausgegeben wurde. Wir hatten Todesangst.« Wer für Boko Haram kämpft, wird mit gut 40 Euro im Monat entlohnt. Viel Geld fließt dagegen in Waffenkäufe. Die Verkäufer sind oftmals die angeblichen Todfeinde selbst: Anfang Juni vergangenen Jahres verurteilte ein nigerianisches Militärgericht 15 Soldaten, unter ihnen zehn Generäle, wegen des Verkaufs von Waffen und Informationen an Boko Haram. Wegen der korrupten Soldaten verfügen die Terroristen längst nicht mehr nur über alte Kalaschnikows, sondern über modernstes und schweres Kriegsgerät.
Marc Engelhardt berichtet seit mehr als zehn Jahren aus Afrika. Seine Homepage: www.unreporter.de
Heiliger Krieg, heiliger Profit
In seinem Buch »Heiliger Krieg, heiliger Profit« schreibt Marc Engelhardt über den Terror in zahlreichen afrikanischen Ländern. Seine These: Ideologie und Religion spielen nur eine Nebenrolle, in erster Linie ist der Terror eine neue Form organisierter Kriminalität. Das Buch verbindet eigene Recherchen mit Interviews und Analysen. Marc Engelhardt: Heiliger Krieg, heiliger Profit. Ch. Links Verlag, Berlin 2014. 224 Seiten, 16,90 EUR.