Ein Tag im Mai
Deutschland Zusammenbruch? Befreiung? Oder beides? Das Kriegsende 1945 und die Wendungen bundesdeutscher Feiertagsrhetorik
Von Jens Renner
Auf kaum etwas ist der politische Mainstream in Deutschland so stolz wie auf die deutsche Erinnerungspolitik: »Wir stellen uns unserer Vergangenheit! Das sollen uns die anderen erstmal nachmachen!« Zweierlei wird bei diesem aggressiven Selbstlob außer Acht gelassen: Zum einen setzt das staatsoffizielle Gedenken Täter und Opfer gleich - siehe die Formel von der Trauer um »alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«. Zum anderen hat es Jahrzehnte gedauert, bis der 8. Mai 1945 zumindest auch als Tag der Befreiung anerkannt war.
Erst 1985, 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, gab es aus diesem Anlass eine Feierstunde im Deutschen Bundestag. Zehn Jahre zuvor, im Mai 1975, war dergleichen noch von allen drei Parlamentsfraktionen - CDU/CSU, SPD und FDP - einhellig abgelehnt worden. Der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl bezeichnete den 8. Mai seinerzeit als »Tag der Scham, Trauer und Besinnung«, und Bundespräsident Walter Scheel (FDP) erklärte kategorisch: »Nein, wir Deutschen haben heute keinen Anlass zu feiern«. Das war auch die offizielle Linie der sozialliberalen Regierung unter Helmut Schmidt (SPD). In einem Schreiben des Auswärtigen Amts an alle bundesdeutschen konsularischen und diplomatischen Vertretungen hieß es: »Es besteht kein Anlass, am 30. Jahrestag der Kapitulation von der bisherigen Übung abzuweichen, die darin bestand, an Totenehrungen und religiösen Feiern teilzunehmen, Siegesfeiern aus diesem Anlass jedoch fernzubleiben.«
Trauer um alle Toten
Erst 1985 kam ein neuer Ton in die staatsoffizielle Erinnerungspolitik, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) seine berühmte Rede hielt. Er benannte nicht nur die Opfer Nazi-Deutschlands, sondern auch den antifaschistischen Widerstand, Partisan_innen und Kommunist_innen inbegriffen. Das war neu und brachte etliche alte Kämpfer zum Schäumen. Zugleich prägte Weizsäcker aber auch die gleichmacherische Formel, die dann zum Leitmotiv deutscher Erinnerungspolitik wurde: »Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.« So wurden auch Täter - Soldaten der Wehrmacht - mit ihren Opfern in einem Atemzug genannt. Für Krieg und Völkermord verantwortlich waren nur wenige, behauptete Weizsäcker: »Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.« (ausführlicher siehe ak 602)
Immerhin: Weizsäcker hatte den Mut, sich mit den eigenen Leuten anzulegen. Und mit dem medialen Mainstream: Noch Ende April hatte Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein verzweifelt gefragt: »Um Himmels willen - wer könnte ein Interesse haben, den 8. Mai 1945 zu begehen?« Die Antwort gab er selbst: »Sowjetrussen« und Israelis. Innerhalb von CDU und CSU wurde gemutmaßt, Kohl habe sich die Gedenkfeier im Bundestag »vom Osten aufzwingen« lassen.
Mit Weizsäckers Rede gerieten die härtesten Revanchist_innen in die Defensive. Auch der rechte Gegenangriff ein Jahr später war nicht erfolgreich. Der Historikerstreit um die Singularität der Shoah, 1986 von Ernst Nolte begonnen, endet mit einem Punktsieg der Liberalen. Beendet wurde der Streit im Oktober 1988 mit einem Machtwort des Bundespräsidenten: »Auschwitz bleibt singulär. Diese Wahrheit ist unumstößlich. Und sie wird nicht vergessen.«
Weitgehend vergessen ist allerdings, dass 1985 auch ganz andere erinnerungspolitische Akzente gesetzt wurden. Am 5. Mai 1985 trafen sich Kanzler Kohl und US-Präsident Reagan zur Totenehrung auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg (Eifel); dort sind neben Wehrmachtssoldaten auch Angehörige der Waffen-SS beigesetzt. Kritik wurde parteiübergreifend abgewehrt. Totenehrung sei nun mal »ein Teil der Kultur des Abendlandes«, sagte der Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger. Sein sozialdemokratischer Amtskollege Hans-Jochen Vogel erklärte: »Die Erinnerung an die Missbrauchten ist ein Bestandteil unserer Geschichte. Die SPD begrüßt es, dass gefallener Soldaten gedacht wird.« So sahen es auch 72 Prozent der Bundesbürger_innen; nur 20 Prozent waren gegen die Bitburger Trauer- und Versöhnungsshow.
Der Führungsanspruch der Berliner Republik
Mit der deutschen Einheit, dem neuen Selbstbewusstsein der »Berliner Republik« änderte sich auch die deutsche Gedenkpolitik, allerdings eher schleichend als abrupt. Das Jahr 1995 bot die Gelegenheit, das - für viele in Europa beängstigend - vergrößerte Deutschland als geschichtsbewusst und friedfertig zu präsentieren. Zum sprichwörtlichen »Gedenkmarathon« 50 Jahre nach Kriegsende gehörten auch diverse nicht-staatliche Veranstaltungen. Deren wichtigste war ohne Zweifel die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« des Hamburger Instituts für Sozialforschung, mit der die fortbestehende Lüge von der »sauberen« Wehrmacht erschüttert werden konnte.
Repräsentativ für das staatsoffizielle Gedenken waren aber die Interventionen des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Bundespräsidenten Roman Herzog (beide CDU). In seiner Erklärung zum 8. Mai 1995, überschrieben »Frieden und Freiheit für morgen sichern«, bezeichnete Kohl das Kriegsende 1945 »als Chance zum Neubeginn« für »uns Deutsche«. Was davor war? Eine schlimme Leidensgeschichte - auch für die Täter. So nannte Kohl zwar die »Millionen ermordeter Juden und der ermordeten Sinti und Roma« an erster Stelle, setzte seine Opferliste aber sogleich fort mit den »unschuldigen Männern, Frauen und Kindern aus anderen Völkern wie aus unserem eigenen Volk«, den »Millionen Soldaten aus vielen Nationen«, den Kriegsgefangenen und Versehrten, den Vertriebenen, den Witwen und Waisen. Woraus für ihn folgte: »Keiner hat das Recht festzulegen, was Menschen an diesem Tag in ihren Erinnerungen zu denken haben.« Der 8. Mai biete »Raum für vielerlei Empfindungen«.
Anders als Kohl, der die verschiedenen Opfergruppen hintereinander aufzählte, machte Bundespräsident Herzog in seiner Rede auf dem Berliner Festakt am 8. Mai 1995 einen Unterschied: Er begann zwar mit der Beschreibung des »Trümmerfelds Europa« und mit den Millionen Toten »aus allen europäischen Völkern, auch aus dem deutschen«. Im selben Satz aber hob er die »anderen Millionen« hervor, die Opfer bewusst geplanter Vernichtung geworden waren: »vor allem Juden, Roma und Sinti, Polen und Russen, Tschechen und Slowaken«.
Nach dieser Pflichtübung in Selbstkritik und Nachdenklichkeit kam Herzog zu seinem eigentlichen Thema: der deutschen Mission in Europa und der Welt. Die »Insel des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands« vergrößern - das war seine Vision deutscher Großmachtpolitik. Was er damit meinte, hatte er schon einige Wochen zuvor ausgeführt. In seiner Rede zum 40jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik plädierte Herzog für eine »selbstbewusste« deutsche Außenpolitik: »Das Ende des Trittbrettfahrens ist erreicht.« Auch Deutschland müsse bereit sein, »militärische Macht einzusetzen«, und das nicht nur aus humanitären Erwägungen, sondern auch wegen der »deutschen Interessen«, die Herzog präzise definierte: »Deutsche Interessen, das sind zunächst unsere unmittelbaren nationalen Interessen wie Sicherheit und Bewahrung von Wohlstand. Ganz besonders verlangt es die Wahrhaftigkeit zuzugeben, dass wir auch deshalb für weltweite Freiheit des Handels eintreten, weil das in unserem Interesse liegt.« Und zur Sicherung dieser Interessen solle gelten: »Vorbeugung ist (...) besser als Schadensbegrenzung«, »risikoscheues Nichthandeln« dagegen auf Dauer »risikoreicher als risikobereites Handeln.«
Nennenswerte Proteste rief das nicht hervor. Anders ein (möglicherweise wohlkalkulierter) Fehltritt Helmut Kohls, der auf der Rückreise aus Moskau deutsche Ansprüche formulierte: »Wir sind Nummer eins in Europa; die Führungsrolle ist da, nicht weil wir sie suchen - sie ist einfach da«. Das verursachte Irritationen im befreundeten Ausland, aber auch bei der SPD, die hier eine »Instinktlosigkeit sondergleichen« beklagte.
Zehn Jahre später, nach der deutschen Beteiligung an den Kriegen in Jugoslawien und Afghanistan, war Herzogs Thema abgearbeitet. Sein Nach-Nachfolger Horst Köhler konnte sich anderen Dingen zuwenden - der deutschen »Begabung zur Freiheit«. So lautet der Titel seiner Festrede zum 8. Mai 2005. Die ersten drei von zehn Druckseiten sind der Zeit bis zum Kriegsende gewidmet, der Rest dem folgenden Aufbruch und der zunächst west-, dann gesamtdeutschen Erfolgsgeschichte, die »Mut für die Zukunft« mache. Einige wenige Satzfragmente genügen, um die aus Köhlers Rede triefende Selbstzufriedenheit kenntlich zu machen:
Mal was Neues: die deutsche »Begabung zur Freiheit«
Die Deutschen gelangten »durch eigene Initiative zu Leistung und Wohlstand«; »Klugheit und Führungsstärke« Adenauers aber auch »aufrichtige Selbstprüfung« und das »Bemühen um Versöhnung« machten aus Deutschland wieder »eine geachtete Kulturnation«; die Bundeswehr hilft »weltweit, den Frieden zu sichern und die Menschenrechte durchzusetzen«; so haben wir »guten Grund, stolz auf unser Land zu sein«; zwar gab es in unserer »stabilen Demokratie« auch Streit: »um die soziale Marktwirtschaft und um die Wiederbewaffnung, um den Beitritt zur NATO und um die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften, um die neue Ostpolitik und um die Nachrüstung. Im Rückblick zeigt sich: Alle diese Entscheidungen waren richtig.«
Anders in der DDR. Dort lief Köhler zufolge so ziemlich alles falsch. Allerdings: »das Streben nach Freiheit blieb lebendig«, und so wurde denn mit der »friedlichen Revolution von 1989« alles gut, mit Hilfe Gorbatschows und des Westens, aber auch weil »wir Deutsche den Weg zu unserer freien und demokratischen Gesellschaft aus eigener Begabung zur Freiheit gegangen sind.«
Köhlers Rede von 2005, eine Sammlung wiederverwendbarer Textbausteine, könnte Gauck in diesem Jahr noch einmal halten. Dazu wird es nicht kommen, zumindest nicht am 8. Mai. Dann wird bei der Feierstunde des Bundestages erstmals ein Historiker sprechen: der Sozialdemokrat Heinrich August Winkler, Verfasser dickleibiger Werke zur neueren deutschen Geschichte. Diese Entscheidung wurde »ausgehandelt im Machtdreieck zwischen Bundestag, Kanzleramt und Bundespräsidialamt«, weiß die Süddeutsche Zeitung zu berichten. Und zitiert den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU): »Deutschland müsse jetzt das Erinnern vorleben« - den anderen, die, wie insbesondere China oder Russland, Geschichte instrumentalisieren und »mit der Tagespolitik vermischen«. Was Deutschland natürlich niemals tun würde ...