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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 604 / 21.4.2015

Die Wirklichkeit ist kein Genre

Linke & Literatur Es ist kein Zufall, dass man auf richtige Bücher im Falschen kaum mehr aufmerksam gemacht wird

Von Wolfgang Frömberg

Eine Frage zu stellen, ist nie verkehrt. Die herrschenden Zustände infrage zu stellen, sowieso nicht. Dennoch sollte man Vorsicht walten lassen, in das Wehklagen einzelner Autor_innen aus den bürgerlichen Feuilletons einzustimmen, wenn sie jammern, der zeitgenössischen deutschen Literatur mangele es an relevanten Bezügen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das gilt umso mehr, wenn man sich selbst nicht nur auf deutsche oder deutschsprachige Literatur konzentrieren möchte. Wichtig für die Einordnung eines solchen Vorwurfs ist nicht zuletzt der Blick auf die Rezeption internationaler Literatur, die in denselben Feuilletons gepflegt wird. Auch sei die Frage erlaubt, welche Bücher - ob aus Deutschland oder dem Rest der Welt - dort überhaupt wahrgenommen werden.

Um eine richtige Literatur im Falschen zu schreiben, benötigte der im Dritten Reich über London und Prag nach Schweden emigrierte Peter Weiss einst ein ganzes Jahrzehnt. Heraus kamen über tausend Seiten mit dem Titel »Die Ästhetik des Widerstands«. Wenn man an linke Schreibpraxis denkt, kann man dieses Werk kaum unterschlagen. Im Roman, oder Romanessay, rekapituliert Weiss das Schicksal eines namenlosen Helden aus dem Proletariat, für den eine Beschäftigung mit Kunst und Literatur genauso zum Alltag gehörte wie der Kampf im Spanischen Bürgerkrieg und der Aufstand gegen den Nationalsozialismus. Während Weiss sämtliche Charaktere in einer Tradition des Widerstands verortete, schrieb er selbst in dieser Tradition. Die Bände wurden zum Abenteuerroman im Sinne eines intellektuellen Abenteuers. Lässt die Schwere von Peter Weiss' Mammut nun darauf schließen, dass bloß so ein dicker Wälzer und somit lediglich die zähe Beschäftigung mit historischem Material als linke Praxis des Schreibens bezeichnet werden können?

Abhängigkeit vom Geldsack

Weiss handelte unter den besonderen Umständen seiner Zeit: Der nahe Berlin geborene Autor schrieb die ganzen 1970er Jahre hindurch an der »Ästhetik des Widerstands« - beeinflusst vom Klima in der BRD, das vom Verfälschen und Verschweigen der jüngsten Geschichte geprägt war. Währenddessen provozierte eine Gruppe Aufmerksamkeit, indem sie sich als Avantgarde der Revolution inszenierte. Die RAF-Kader hätten Weiss' langwierige Bemühungen mit einem Lenin-Zitat kontern können: »Man kann nicht zugleich in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein. Die Freiheit des bürgerlichen Schriftstellers, Künstlers, Schauspielers ist nur die maskierte (oder sich heuchlerisch maskierende) Abhängigkeit vom Geldsack, von der Bestechung, von der Bezahlung.« Rainer Werner Fassbinder, dessen heftige Schaffensphase ziemlich genau in die Zeitspanne der Entstehung der »Ästhetik des Widerstands« fiel, setzte den Illegalen damals entgegen: »Ich werfe keine Bomben, ich mache Filme.«

Was also ist linke Literatur? RAF-Kassiber? Das Drehbuch eines Fassbinder-Films? Soziologische motivierte, realistische Romane aus dem 19. und 20. Jahrhundert, wie Émile Zolas »Germinal« und Upton Sinclairs »Der Dschungel«? Spekulative Werke der Phantastik, wie Stanislaw Lems »Solaris« oder Philip K. Dicks »Träumen Androiden von elektrischen Schafen«? Ein Songtext von Fela Kuti, sagen wir »Teacher Dont Teach Me No Nonsense«? Ein Slogan von Deichkind, am ehesten vielleicht »Arbeit nervt«? Marx, Engels, Adorno, Brecht? Dada, Cut-Up, Ecriture automatique, Noir-Thriller? Die Organisation eines Autorenkollektivs wie Luther Blissett? Ein Ultra-Banner im Fußballstadion mit der Aufschrift »Fifa = Schweinesystem«? Alles und nichts?

Diese Vorschläge erscheinen so willkürlich wie die Auswahl an Büchern, die täglich veröffentlicht und rezensiert werden. Auf dem Weg zum richtigen Schreiben im Falschen liegt als erste Aufgabe vermutlich die eigene Lektüre der richtigen Texte im falschen Diskurs. Oder anders gesagt: alles andere als die Konzentration auf die dort vorgegebenen Texte. So öde die Behauptung der unpolitischen Gegenwartsliteratur auch ist - da neben vielen weiteren Büchern in den letzten Jahren derart starke Bücher erschienen sind, wie Sarah Diehls »Eskimo Limon 9«, worin die Autorin die Erlebnisse einer jüdischen Familie in der hessischen Provinz der Gegenwart ausmalt; wie Dorothee Elmigers »Schlafgänger«, in dem die für ihr Debüt »Einladung an die Waghalsigen« zur Stimme einer Generation erklärte Schweizerin das eigene Ausgeschlossensein aus einem Text durchexerziert, weil es um Wichtigeres, nämlich die Mauern der Festung Europa und die Identitäten der davon betroffenen Flüchtlinge geht; wie die Novelle »die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle« der schwarzen Aktivistin Sharon Dodua Otoo, in der man mit der Ich-Erzählerin unmittelbar in den Berliner Alltag einer Migrantin eintaucht, die es über Ghana und England nach Deutschland verschlagen hat und die mit Vorurteilen und Abschiebungen aller Art konfrontiert wird, so wahrhaftig ist dieser Früher-war-alles-besser-Feuilleton-Duktus Teil eines echten Problems.

Gegenposition zum Mainstream

Die Sichtbarkeit zeitgenössischer Literatur, die an ihren Ansprüchen eher scheitert als sie herunterzuschrauben, wird durch Verlage und Redaktionen bestimmt. Das bedeutet keinesfalls, dass es nicht mehr Texte geben könnte, die sich als Intervention in den laufenden Betrieb begreifen oder die zumindest Irritationen hervorrufen möchten. Es heißt bloß, dass es kein Zufall ist, dass man nicht auf alle aufmerksam wird. Vielleicht gerät mancher Versuch schlicht zu experimentell, aber auch eine politische Lesart ist nicht gegen Missverständnisse gefeit. Die Sache ist kompliziert: Ein Text ist eben nicht mit den Freundinnen zu verwechseln, die einem ihre Gedanken, Gefühle und Solidarität in ein paar Worten oder mit einer Geste ausdrücken können - ebenso wenig ist er eine Bombe (aber bestenfalls, so paradox es klingen mag, in einer mehr als symbolischen, weil unter die Haut gehenden Weise beides: die Freundin und die Bombe).

Das Internet trifft an der mangelnden Vielfalt keine Schuld. Wofür Peter Weiss zehn Jahre brauchte - eine emanzipatorische Gegenposition zum Mainstream zu formulieren -, kann eine feministische Bloggerin und Buchautorin wie Laurie Penny (»Unsagbare Dinge«) heute in viel kürzerer Zeit erreichen. Das bedeutet weder, dass die Lektüre der »Ästhetik des Widerstands« sinnlos geworden wäre, noch, dass ein Blog unbedingt über Selbstreflexionen privatester Natur hinausweisen muss. Von solchen Tagebüchern gibt es mehr als genug in den digitalen Netzwerken.

Letztlich geht es bei einer linken Schreibpraxis nicht um ein Coming-Out als bürgerliches Genie oder anti-bürgerlicher Star, nicht um ein Dogma der Form oder die Behauptung, dass ein Vertrag über eine Festanstellung beziehungsweise die demonstrative Verzichtserklärung darauf schon linke Literatur wäre. Im Vordergrund steht das Schaffen von Räumen, in denen linke Schreibpraxis, und hoffentlich auch jene, die vom Feuilleton und der Mehrzahl der Verlage nicht gleich als gesellschaftlich relevant erkannt wird, wichtige Diskussionen auslöst und anschiebt. Es wäre eine falsche Praxis im Falschen, sich an den Bedürfnissen der eingesessenen Institutionen zu orientieren - und es ihnen mit Manuskripten recht machen zu wollen, die ins Programm passen. Wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass man sich dieser Zusammenhänge »subversiv« bedient.

Der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher definierte unlängst mit einem Text einen Raum, in dem man zeitgenössische linke Literatur neu lesen und denken sollte. Fisher verfasste die Flugschrift »Kapitalistischer Realismus ohne Alternative«. Darin stellte er die Frage, ob es nach dem Ende des Kalten Krieges noch möglich sei, sich eine Alternative zum Kapitalismus vorzustellen, ohne die Fehler des real existierenden Sozialismus zu wiederholen. Führt dies nicht zwangsläufig dazu, sich die Kunst, die unter den Bedingungen einer bestehenden Alternative zum Kapitalismus entstanden ist, wieder genauer anzuschauen, um eine Ahnung von den sich in einem solchen realen Spannungsfeld ergebenden Möglichkeitswelten zu erhaschen?

Räume der Utopie öffnen

Die Science-Fiction- und Fantasy-Autorin Ursula K. Le Guin verfasste 1974 den Roman »Die Enteigneten«. Er handelt von zwei benachbarten Planeten. Auf dem einen ist die Gesellschaft so organisiert, dass die Wirklichkeit nichts mit Besitz zu tun hat, wie es Hauptfigur Shevek in einem Brief an seine Frau Takver ausdrückt. Shevek ist Wissenschaftler, der bald ein Tabu brechen wird. Er reist zum Nachbarplaneten, wo der Kapitalismus regiert. Sheveks anfängliche Neugier und Hoffnung wandeln sich in Entsetzen, als er den dortigen Alltag erlebt. Schwer vorstellbar, dass Ursula K. Le Guin einen derart schockierenden Blick auf das Leben im Kapitalismus hätte werfen können, wenn es damals keine konkurrierende Gesellschaftsform gegeben hätte.

Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming, das aus dem Quartett Luther Blissett hervor ging, erweckt in dem Roman »54« ein bemerkenswertes Jahr der Zeitgeschichte zum Leben. So turbulent, dass nicht nur die realen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Verhältnisse in Italien deutlich werden, die Autor_innen schicken noch dazu Cary Grant auf Geheimdienstmission in Titos Jugoslawien. Im deutschen Nachwort heißt es, es sei allen fünf Romanen Wu Mings gemein, dass sie »die offizielle Geschichte gegen den Strich bürsten, um gegen das Kontinuum der Herrschaft Räume der Utopie zu öffnen.«

Dies ist eine Möglichkeit, mit der Geschichte umzugehen. Man darf gespannt sein, wie sich kommende und aktuelle Romane, die dem Jetzt über den Umweg des Früher auf der Spur sind, etwa Dietmar Daths Sowjet-Science-Fiction »Venus siegt« oder Frank Witzels 800-Seiten-Werk »Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969«, zum Raum des »Kapitalistischen Realismus« verhalten. Es steht nur fest, dass es unter dessen Bedingungen kaum eine Rolle spielt, welcher Genres die Autor_innen sich bedienen. Der »Realismus« ihrer Literatur wird über Intensität und Dringlichkeit bestimmt, mit denen sie sich zur Wirklichkeit positionieren und wird in der Maßeinheit Wahrhaftigkeit gemessen.

Aber die Gegenwart hält für die Praxis linken Schreibens neben dem Verfassen und dem Lesen spannender Bücher weitere Aufgaben parat: Wie wäre es mit der Gründung eines Verlags, der Herausgabe einer Zeitschrift, dem Bau einer Website oder der Organisation einer Vortragsreihe? Alles schon mal dagewesen? In Christian Geisslers Roman »kamalatta« (1989) beschreibt folgende Losung die Schwelle zwischen militanter Literatur und militaristischer Aktion: »wir sind nur das, was wir gegen sie tun.« Aber wer sind wir, und wer sind sie? Das bleibt eine immer akute Frage, von der sich niemand freimachen kann, ob im falschen Leben oder in der richtigen Literatur. Sie beantwortet sich nicht von selbst.

Wolfgang Frömberg ist Redakteur bei der Zeitschrift für Popkultur intro. Letztes Jahr erschien bei HABLIZEL sein zweiter Roman »Etwas Besseres als die Freiheit«.