Selbstradikalisierung in Internetforen
International Die Antifaschistin Heidi Beirich über extreme Rechte in den USA, 20 Jahre nach dem Bombenanschlag von Oklahoma City
Interview: Max Böhnel
Heidi Beirich arbeitet seit 1999 im regierungsunabhängigen Southern Poverty Law Center, mit Sitz im US-Bundesstaat Alabama. Die auf Spenden angewiesene Organisation begann 1971 als Rechtsanwaltsbüro für Opfer von Rassismus. Sie wurde zur wichtigsten Antifaorganisation in den USA. Beirich ist Herausgeberin des vierteljährlich erscheinenden Intelligence Report über die Organisierungsbemühungen und -taktiken rechtsextremer und anderer »hate groups«. Die Publikation gilt als fundierteste Quelle über die Szene und gehört in Sachen Rechtsextremismus zur Pflichtlektüre von Behörden, Journalist_innen, Sozialwissenschaftler_innen und Antifaaktivist_innen.
Was ist 20 Jahre nach dem Oklahoma-Attentat mit 168 Todesopfern und Hunderten von Schwerverletzten über die Motivation des Täters Timothy McVeigh bekannt?
Heidi Beirich: Er sah die Washingtoner Bundesregierung und ihre Institutionen als tödlichen Feind des amerikanischen Volks an. In Interviews, die er nach seiner Festnahme in der Untersuchungshaft gab, nannte er die Ereignisse in Waco als Auslöser für seine Tat. In Waco gab es einen militärischen Angriff von FBI-Beamten auf ein Gelände von religiösen Extremisten, den Branch Davidians. Sie hatten Kinder missbraucht und Waffen gebunkert. Bei dem Angriff wurden viele Menschen getötet, nachdem die Behörden das Gelände in einen langen und hässlichen Belagerungszustand versetzt hatten. McVeigh sah das sprichwörtlich als Angriff der Regierung auf die amerikanische Bevölkerung und als Ermordung von amerikanischen Zivilisten durch die Bundespolizei an.
Nicht nur Waco, auch Ruby Ridge ein Jahr davor wurde von vielen, nicht nur Rechten, mit Empörung aufgenommen. In Ruby Ridge lebte zurückgezogen die Weaver-Familie. Sie waren Anhänger der rassistischen Christian-Identity-Bewegung. Juden sind danach die Verkörperung des Bösen und Satans. Die Weavers waren außerdem sogenannte Survivalisten und Selbstversorger. Sie horteten Lebensmittel und verschanzten sich mit Waffen. Das Familienoberhaupt Randy Weaver wurde wegen eines Waffenvergehens gesucht, und als die Polizei ihn festnehmen wollte, kam es zu einer Schießerei. Das Ganze endete mit einem toten Kind, der toten Mutter, dem toten Hund und einem toten Polizisten. Randy Weaver wurde verletzt.
Aber die Empörung allein reicht nicht zur minutiösen, monatelangen Vorbereitung auf ein massives Terrorattentat aus, oder?
Schon vor Ruby Rige und Waco hatte sich McVeigh immer weiter nach rechts bewegt. Wir wissen, dass er nach seiner Rückkehr aus dem Irakkrieg eine kurze Zeit lang Mitglied einer Ku-Klux-Klan-Gruppierung war. Er trug eins ihrer T-Shirts mit der Aufschrift »White Power«. Eine Zeitlang hielt er sich auch bei den Milizen im nördlichen Bundesstaat Michigan auf, die ja ebenfalls extrem gegen jede bundesstaatliche Institution sind. Nach Ruby Ridge und Waco erhielten sie großen Zulauf und hielten Feld- und Schießübungen ab. McVeigh war kurzzeitig Teil dieser Szene. Man sah ihn außerdem auf zahlreichen Gun Shows. Damals konnte man Waffen ja quasi unkontrolliert kaufen. Letztendlich schmolz McVeigh alle möglichen rechten Ansichten aus diesen Gruppen zu einer Ideologie zusammen: den Hass auf die bundesstaatlichen Institutionen und ihre Macht, die militärische Denkweise der Milizenbewegung und Teile des rassistischen, weißen Vorherrschaftsdenkens. Er behauptete vor seiner Hinrichtung zwar, er sei kein Rassist. Aber als er nur zwei Stunden nach dem Attentat durch einen Zufall festgenommen wurde, entdeckte die Polizei die »Turner Diaries« in seinem Fluchtfahrzeug. Das ist ein apokalyptischer, weißer Rassistenroman, der für US-Neonazis Pflichtlektüre ist.
Wie wichtig für die Motivsuche McVeighs war seine Sozialisation in der US-Army?
2009 veröffentlichte das DHS, also das Department of Homeland Security einen Bericht mit der Warnung, dass heimgekehrte Kriegsveteranen Rekrutierungsmaterial für »hate groups« seien. Tatsächlich hatte McVeigh seinen Hass auf die Regierung schon entwickelt, während er im Irak diente. Natürlich war er außerdem im Militär mit Waffen und Sprengstoff vertraut geworden. Ich würde behaupten, dass es in den USA eine explosive Mischung von Leuten gibt, die vom Militär und vom Krieg desillusioniert sind und rechtsextrem-verschwörerische Vorstellungen entwickeln. Sie hören dann den Rattenfängern gerne zu. Immer wieder werden Neonazis oder der Ku-Klux-Klan dabei erwischt, wenn sie auf Truppenstützpunkten rekrutieren.
Welche Konsequenzen wurden aus den Warnungen im DHS gezogen?
Die Republikaner im Kongress sorgten für die Neutralisierung des Berichts. Er zog keine Konsequenzen nach sich. Nach 9/11 ging wa ausschließlich um islamischen Terrorismus, McVeigh und Oklahoma waren fast vergessen. 2009 war Obamas erstes Amtsjahr. Das DHS hatte damals eine Abteilung mit der ausschließlichen Aufgabe, dem nicht-islamischen rechten Extremismus nachzugehen. In dem Bericht wurde vor Neonazis, der Milizbewegung, und Abtreibungsgegnern gewarnt. Kriegsrückkehrer wurden als rechtsextremistisches Rekrutierungspotential mit erwähnt. Aber die rechte Presse und die Republikaner, die jetzt Opposition waren, interpretierten den Bericht wütend als Beleidigung guter amerikanischer Patrioten und des heldenhaften Militärs. Die Obama-Regierung ziele mit dem Report in Wirklichkeit auf die Republikaner und die braven Konservativen allgemein ab, schrien sie. Kurzum: der Entrüstungssturm war so groß und das Rückgrat der Regierung so schwach, dass das DHS den Bericht wieder zurücknahm. Nicht nur das: die gesamte DHS-Abteilung Rechtsextremismus wurde geschlossen.
Bedeutet das Carte Blanche für potenzielle McVeighs von heute?
Ein »Carte-Blanche«-Problem haben wir in manchen Landstrichen auf Bezirks- und lokaler Ebene, wo die regierungsfeindlichen Milizen, die »souveränen Bürger«, die bewaffneten Rancher usw. den Ton angeben. Die bezirklichen Ordnungshüter kommen oft aus demselben Milieu. Und vor allem erkennen die »souvereign citizens« jegliche Behörde, die dem Bezirk übergeordnet ist, nicht an. Da sind es die Sheriffs, also die Bezirkspolizei, die auf dem rechten Auge blind sind. Auch auf politischer Ebene ganz oben haben wir ein Problem. Bei einer Washingtoner Extremismuskonferenz im letzten Jahr erwähnte Obama in seiner Rede zwar den jüngsten Neonazianschlag in Overland Park im Bundesstaat Kansas, dem drei Menschen zum Opfer fielen. Aber »Countering Violent Extremism« meint heute in den USA fast ausschließlich Druck auf die islamischen Gemeinden, Verdächtiges sofort zu melden. Zurecht fragen die islamischen Verbände dann zurück: Wenn wir so viel Arbeit aufwenden müssen, um in unseren Reihen nach Extremisten zu suchen, was tut ihr als Regierung denn, um in der rechten Opposition und bei den Rechtsextremen auszumisten? Die Antwort der Regierung ist Schweigen.
Wie groß ist die rechtsextreme gewaltbereite Szene in den USA heute?
Wie vor 20 Jahren gibt es zwei ideologische Strömungen, die sich in der Praxis manchmal überschneiden oder ineinander übergehen. Zum einen die meist bewaffneten radikalen Gegner von Bundesbehörden und zum anderen die weißen Rassistengruppen und Neonazis. Beide sind seit Ende des letzten Jahrzehnts angewachsen, als Reaktion auf die ethnischen Veränderungen in den USA - der mehrheitlich weiße Bevölkerungsanteil in den USA sinkt, auf die Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten Barack Obama und auf die Wirtschaftskrise. Die Zahl der Organisationen extremistischer Regierungsgegner verzehnfachte sich, seit Obama Präsident ist, auf 1.360. Neonazistische Gruppen gab es Ende der 1990er Jahre etwa 400. Die Zahl stieg auf 602. Vor zwei Jahren waren es noch fast doppelt so viele. Seitdem gehen diese sehr beunruhigenden Zahlen wieder leicht zurück.
Als McVeigh zuschlug, war das Internet kaum verbreitet. Wie hat sich die Online-Verfügbarkeit auf das Anwachsen der Szene ausgewirkt?
Zu beobachten ist ganz klar ein Trend weg von der traditionellen Organisierung mit Mitgliedschaft und Verbandstreffen hin zum Internet. Es ist ein Segen für »hate groups« und Anti-Regierungsgruppen. Die erste Hate-Webseite Stormfront ging am 27. März 1995 online, vor 20 Jahren. Heute hat Stormfront allein 300.000 registrierte User, 220.000 davon in den USA. Weshalb den Aryan Nations oder der National Alliance beitreten, wenn man mit dem Keyboard zuhause innerhalb von ein paar Sekunden mitteilen kann, wie sehr man die Juden hasst, und dafür sofort Reaktionen von seinen Gesinnungskumpanen bekommt? Der Austausch ist darüber hinaus auch sozialer Art - man unterhält sich dabei auch übers Gärtnern. Anders Breivik, der norwegische Attentäter, war ein aktiver Stormfront-User. Die große Mehrzahl der Radikalisierungen heute sind Selbstradikalisierungen über das Internet. Die User suchen nach Ideologie, lesen Material, interagieren mit anderen online, werden immer wütender und schlagen dann los. Seit Obamas Amtsübernahme 2009 wurden etwa 100 Menschen von Tätern umgebracht, die auf Webseiten wie Stormfront aktiv waren. Das waren nicht alles ideologisch motivierte Morde, aber die meisten. In den letzten fünf Jahren war eine große Mehrzahl rechtsextremistischer Gewalttäter in solchen Onlineforen aktiv.
Max Böhnel lebt seit 1998 in New York und ist freier Journalist für Radiosender und Printmedien.
Oklahoma City Bombing
Der Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in der Hauptstadt Oklahoma City am 19. April 1995 war einer der schwersten Terroranschläge in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Bei der Detonation eines mit Sprengstoff beladenen Lastwagens kamen 168 Menschen ums Leben. Das achtstöckige Gebäude war Sitz mehrerer Regierungsbehörden. Auch ein Kindergarten befand sich im ersten Stock. Der Sprengsatz auf einem Van detonierte um 9:02 Uhr vor dem Gebäude, beschädigte über 300 der umliegenden Gebäude und verletzte über 800 Menschen. Als Täter wurden der 26-jähriger Veteran aus dem Zweiten Golfkrieg Timothy McVeigh und Terry Nichols festgenommen. Die offizielle Version vom Täterduo McVeigh, der 2001 hingerichtet wurde, und seinem Helfer Terry Nichols, der lebenslang im Knast einsitzt, ist auch laut Heidi Beirich nicht glaubhaft. Es gab mindestens zwei weitere Mitwisser, die gegen McVeigh als Kronzeugen aussagten, dafür Strafmilderung erhielten und unter einem Zeugenschutzprogramm leben. Spuren führten auch zu einem Deutschen namens Andreas Strassmeir. Der lebte in einer rassistischen Sektengemeide namens Elohim City, wo sich auch McVeigh aufhielt, und hatte wenige Tage vor dem Anschlag Telefonkontakt mit ihm. Der schweigsame Strassmeir verließ mit Neonazi-Hilfe die USA und lebt unbehelligt in Berlin als Zinnfigurenhändler.