Das G-Wort
Deutschland Die Bundesregierung ändert langsam ihre Position zum Genozid an den Armenier_innen - schweigt aber weiter zum Genozid an Herero und Nama
Von Sarah Lempp
Die Debatten rund um den 100. Jahrestag des Genozids an den Armenier_innen boten wieder einmal Anschauungsmaterial zu der Frage, wer wann von Völkermord spricht. Nachdem sich Deutschland bisher immer geweigert hatte, den Genozid an den Armenier_innen im Osmanischen Reich als solchen zu benennen, bezeichnete Bundespräsident Gauck die Massaker nun gleich mehrfach als »Völkermord«.
Der Bundestag verabschiedete einen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, demzufolge das Schicksal der Armenier_innen »beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde [steht], von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist«. Diese Formulierung lässt letztlich offen, ob es sich nun um eine ethnische Säuberung, eine Vertreibung oder einen Völkermord handelte, ist aber zumindest ein kleiner Schritt in Richtung Anerkennung.
Dass Deutschland sich so lange darum gedrückt hat, die Massaker an den Armenier_innen als Genozid zu bezeichnen, hat unter anderem damit zu tun, dass das Deutsche Kaiserreich als damals engster Verbündeter des Osmanischen Reichs in der Mitverantwortung steht. Zudem war und ist die Türkei ein wichtiger Partner für Deutschland - sei es innerhalb der NATO oder bei der gemeinsamen Verwaltung türkischer Migrant_innen in Deutschland. Die BRD hat daher kein Interesse, diese Kooperation durch die Anerkennung des Genozids zu belasten. Dass die Debatte hierzulande nun allmählich doch in diese Richtung geht, hat wohl einfach damit zu tun, dass eine komplette Leugnung angesichts der intensiven Forschungen zu dem Thema zunehmend unmöglich wird.
Auf Welt-Online begründet Matthias Kamann das deutsche Einlenken am 14. April hingegen auch damit, dass das Christentum »eine erinnernde Religion des Schuldbewusstseins« sei. Kein Gemeinwesen könne gedeihen, »wenn Völkermorde nicht offen angesprochen und die Leiden der Opfer nicht thematisiert werden«. Fehler sieht der Kommentator nur bei anderen Ländern: »Wie sehr eine Blockade der Erinnerung an Menschheitsverbrechen Gesellschaften lähmt, zeigt sich in Russland und China, auch in der Türkei, die den Völkermord an den Armeniern leugnet.« Christen wüssten, »dass sie bei der eigenen Schuld anfangen müssen«.
Seltsam nur, dass dann in Bezug auf den Genozid, den das Deutsche Kaiserreich 1904 bis 1908 an den Herero und Nama im heutigen Namibia verübte, dieser Schritt nach wie vor aussteht. (Siehe Kasten) Dabei sehen Historiker_innen darin heute übereinstimmend den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts - eine Tatsache, die auch Papst Franziskus entgangen zu sein scheint, der dieses Attribut jüngst dem Völkermord an den Armenier_innen verlieh.
Insofern dürfte das Zögern Deutschlands, die Türkei an den Pranger zu stellen, auch damit zu tun haben, nicht an eigene Verbrechen erinnert werden zu wollen. Genau dies taten dann aber im Verlauf der Debatte um den Genozid an den Armenier_innen selbst staatstragende Medien wie die Tagesschau. Dort hieß es in einem Kommentar vom 23. April: »Wenn es um deutsche Kolonialvergangenheit geht, verhalten wir uns nicht anders als die Türkei.« Auch die Süddeutsche Zeitung vom 28. April erinnerte an die Ermordung von etwa 90.000 Herero und Nama durch deutsche Truppen und berichtete vom Kampf der Nachkommen von Überlebenden um Entschädigung und Anerkennung des Genozids.
Der dort porträtierte Herero-Nachfahre Israel Kaunatjike kritisierte in einem Deutschlandfunk-Interview, die deutsche Regierung messe mit zweierlei Maß. Mit dem Bündnis »Völkermord verjährt nicht« setzen sich Kaunatjike und viele andere für eine offizielle Anerkennung des kolonialen Genozids durch den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung ein und fordern ideelle und materielle Entschädigung.
»Entschädigungsrelevantes« um jeden Preis vermeiden
Eine Auseinandersetzung mit diesen Forderungen suchten die verschiedenen deutschen Regierungen in der Vergangenheit tunlichst zu vermeiden. Forderungen nach Reparationszahlungen begegneten Vertreter_innen des deutschen Staates gerne mit dem Argument, Deutschland zahle bereits überproportional viel Entwicklungshilfe an Namibia und werde damit seiner Verantwortung als Nachfolgestaat des Deutschen Kaiserreichs ausreichend gerecht.
Lange Zeit wurde zudem von offizieller Seite damit argumentiert, die UN-Völkerrechtskonvention von 1948 könne nicht rückwirkend angewandt werden - den Tatbestand »Völkermord« habe es 1904 schließlich noch nicht gegeben. Dieser absurden Interpretation zufolge wäre nicht zuletzt auch der Holocaust - als Reaktion auf den die UN-Konvention erst geschaffen wurde - nicht als Genozid zu werten.
Unter Rot-Grün kam 2004 zumindest ein wenig Bewegung in die Debatte, als die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) bei einer Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Schlacht am Waterberg erklärte: »Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen Vater unser um Vergebung unserer Schuld.« Auch wenn damit erstmals ein Mitglied einer deutschen Regierung den Genozid einräumte: Aufgrund der christlichen Formel, die Wieczorek-Zeul wählte, war ihre Entschuldigung letztlich juristisch nicht »entschädigungsrelevant«.
Die informationsstelle südliches afrika (issa) kritisierte daher 2006 in einer Erklärung, die Bundesregierung erwecke mit ihrem Verhalten gegenüber den Opfern in Namibia »den fatalen Eindruck, als gebe es für sie zwei Kategorien von Völkermord: einen mit Anspruch auf Wiedergutmachung und einen ohne. Sie setzt sich damit dem Vorwurf aus, dass sie einen Völkermord an Menschen schwarzer Hautfarbe als minder gravierend beurteilt.«
In den folgenden Jahren stellte vor allem die Linksfraktion im Bundestag immer wieder Anträge auf Anerkennung des Genozids, die jedoch regelmäßig abgelehnt wurden. Wie wenig Relevanz die Bundesregierung dem Thema zumisst, wurde bei der Rückgabe von 20 Schädeln an Namibia im September 2011 erneut offensichtlich. Die Gebeine stammten von Herero und Nama, die zwischen 1904 und 1908 durch die »Kaiserliche Schutztruppe« ermordet worden waren. Sie wurden in Deutschland für »rassekundliche« Forschungen missbraucht und lagerten seit Jahrzehnten in der medizinhistorischen Sammlung der Berliner Charité.
Bei der Rückgabe - die von der Charité und nicht von offizieller staatlicher Seite organisiert war - wurde die aus Namibia angereiste Delegation nicht gemäß den üblichen diplomatischen Regeln in Empfang genommen, und Staatsministerin Cornelia Pieper (FDP) verließ die Veranstaltung vorzeitig - ein Tiefpunkt im Umgang Deutschlands mit dem Thema.
Kaum Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte
Aktuell gibt es zwar kleine Anzeichen, dass die Bundesregierung ihre Haltung in der Frage ändern könnte. Zum Beispiel spricht das Auswärtige Amt in einer aktuellen Stellungnahme - anders als unter der Vorgängerregierung - nicht mehr davon, dass die Verbrechen an Herero und Nama »nicht als Völkermord eingestuft werden«. Von Völkermord ist allerdings noch lange nicht die Rede.
Das gering entwickelte Maß an politischem Willen, sich diesem Thema zu stellen, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass hierzulande insgesamt kaum eine Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit stattfindet. Der deutsche Kolonialismus habe schließlich nur 30 Jahre gedauert, so die weit verbreitete Ansicht. Zudem wird er in der Erinnerung und Aufarbeitung vom kürzer zurückliegenden Nationalsozialismus überlagert.
Zivilgesellschaftliche und aktivistische Gruppen arbeiten seit vielen Jahren daran, die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus zu stärken und Aufarbeitung einzufordern. Auch wenn dieser Prozess sehr langwierig ist und immer wieder Rückschläge erleidet, trägt er womöglich ganz allmählich doch auch außerhalb einer kleinen gesellschaftlichen Nische Früchte, wenn mittlerweile immerhin auch Mainstream-Medien über das Thema berichten. Die Debatte um Anerkennung und Wiedergutmachung des Genozids an Herero und Nama kann insofern auch dazu beitragen, die deutsche Kolonialgeschichte als ganze stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Der Genozid an Herero und Nama (1904-1908)
Ausgehend von sehr fragwürdigen Landerwerbungen durch den Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz wurde das heutige Namibia 1884 deutsche Kolonie und hieß fortan (bis 1915) Deutsch-Südwestafrika. Zwischen 1887 und 1912 ließen sich insgesamt etwa 13.000 deutsche Siedler_innen dort nieder und verdrängten die einheimische Bevölkerung, die von der Viehzucht lebte, von ihren Weidegebieten. Die Herero starteten daraufhin am 12. Januar 1904 einen Aufstand unter ihrem Kapitän Samuel Maharero. Die »Schutztruppe« der Kolonie war dem anfangs nicht gewachsen, die Reichsleitung entsandte umgehend Verstärkung. Durch etwa 15.000 Mann unter Generalleutnant Lothar von Trotha wurde der Aufstand bei der Schlacht am Waterberg im August 1904 niedergeschlagen. Die besiegten Herero flohen in die Omaheke-Wüste. Die deutschen Truppen verfolgten sie und besetzten die spärlichen Wasserstellen, woraufhin Tausende Aufständische verdursteten. Mit seinem berüchtigten Vernichtungsbefehl erklärte von Trotha die Herero daraufhin für vogelfrei: »Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.« Auf der Haifischinsel errichteten die Deutschen zudem ihr erstes Konzentrationslager, wo sich die Gefangenen zu Tode arbeiteten oder verhungerten. Auch die Nama, die im Herbst 1904 unter der Führung von Hendrik Witbooi den Deutschen den Krieg erklärt hatten, wurden entweder getötet oder in Lager gebracht. 90.000 Menschen fielen diesem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts zum Opfer; nicht einmal ein Drittel der Herero und nur die Hälfte der Nama überlebten.