Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 606 / 16.6.2015

Alle Kinder stehen still ...

Wirtschaft & Soziales Über die Gründe für die hohe Beteiligung und niedrigen Erwartungen der streikenden Kita-Beschäftigten

Streiks in Deutschland

Es wird gestreikt! Erst bei der Bahn, dann in den Kitas, jetzt bei der Post - sogar die ak-Auslieferung steht in Frage! Das gab es lang nicht mehr. Was hat sich verändert im Land der Streikmuffel? Erleben wir das Comeback des Klassenkampfs? Der Frage gehen wir auf den nächsten Seiten nach: Wir fragen Nutzer_innen, Beschäftigte und gewerkschaftliche Vertrauensleute nach ihren Eindrücken von den Streiks und ihren Bedingungen. In den nächsten Nummern wollen wir die Bestandsaufnahme fortsetzen, aber auch die Diskussion darüber, wie ein politischer Umgang von links mit den Streiks aussehen kann.

Von Peter Birke

Kerime unterstützt den Streik. Das war nicht die ganze Zeit so, am Anfang war sie ziemlich skeptisch: »Mit roten Fahnen wedeln, das ist sowieso nicht mein Ding.« Kerime ist Erzieherin in der Kita meines vierjährigen Sohnes, und jetzt stehen wir gerade nebeneinander. Es ist kurz nach neun Uhr morgens, Bahnhof Altona, die Streikdemo der Kolleg_innen aus dem Sozial- und Erziehungsdienst am Montag, den 1. Juni 2015. Mein Sohn Gideon sitzt auf meiner Schulter und macht mindestens genauso viel Krach wie die Umstehenden. Nachdem eine Kita-Kollegin unter dem Jubel der Anwesenden ihre Rede beendet hat, liest die in Hamburg zuständige ver.di-Sekretärin aus Briefen vor, die sie von Eltern bekommen hat. Das Kind würde unter dem Streik leiden, behauptet der Briefschreiber, die Streikenden seien unverantwortlich, und Schluss jetzt. Kerime und Gideon pfeifen und buhen. Speziell für Gideon trifft das mit dem Leiden wohl nicht zu, denke ich, zumindest gerade hat er eigentlich ziemlich viel Spaß. Vielleicht sogar ein bisschen arg viel, nicht gut für meine Ohren. Aber irgendwann ist der Lärm ja vorbei. Und als wir uns nach den Reden von Kerime mit der Erklärung verabschieden, jetzt ins Schwimmbad zu gehen, sagt sie: »Da kommt doch sowieso nichts bei raus.«

Ich dachte schon, sie meint das Schwimmbad, aber auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass sie eigentlich nur den Streik meinen konnte. Aber wie kann das sein - sie hat doch am lautesten geklatscht, gepfiffen und skandiert? Und sagt das nur Kerime oder sagen das alle? Mir fällt auf, dass die Demos der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst am Ende des Streiks wirklich sehr kämpferisch und eindrucksvoll waren, ganz anders als noch während des Warnstreiks im April. In den 20 Tagen des unbefristeten Streiks kam es zu einer ganz erstaunlichen Mobilisierung von Beschäftigten, die vorher wie Kerime eher skeptisch waren. Das gilt laut Erzählungen von ver.di-Sekretär_innen und Aktivist_innen, mit denen ich in dieser Zeit sprechen konnte, auch für Städte jenseits der Streikzentren und selbst für ländliche Gebiete, in denen vorher noch nie ein Kita-Streik stattgefunden hatte. Wieso dann also der Widerspruch zwischen hoher Beteiligung und niedrigen Erwartungen?

Nächste Runde nach der Sommerpause?

Was die niedrigen Erwartungen betrifft, so bieten die Auskünfte, die wir im Zusammenhang mit einem Lehrforschungsprojekt an der Uni Göttingen von Erzieherinnen aus kommunalen Kitas vor Ort im vergangenen Winter bekommen haben, gleich mehrere Ansätze für eine Erklärung. Erstens sind die Erfahrungen des Streiks von 2009 noch präsent, so etwa die eher unbefriedigenden Entgeltverbesserung nach 13 Wochen des Streiks oder die faktisch wenig wirksamen Vereinbarungen zum Gesundheitsschutz. Zweitens liegt die Priorität vieler Befragter eindeutig auf einer Verbesserung des Personalstandes - eine Frage, die in der Tarifrunde allerdings nicht verhandelbar ist. Und drittens wird die Forderung nach einer verbesserten Eingruppierung zwar auch von unorganisierten Kolleg_innen unterstützt, sie gilt aber vor allem als Metapher für die fehlende Anerkennung, die die Erzieher_nnen für ihre Arbeit bekommen, sowohl seitens der Arbeitgeber als auch von Seiten der Eltern. Der vierte Grund mag das Verhalten der kommunalen Arbeitgeber sein, die, abgesehen von abenteuerlichen Behauptungen über angebliche Entgelterhöhungen im Sozial- und Erziehungsdienst der vergangenen Jahre, stets betont haben, dass sie den Streik verstehen, aber die Kassen leer sind. Und die entsprechend für fast alle betroffenen Berufsgruppen (mit einer gewissen Ausnahme bei den Kita-Leitungen) bis dato de facto ein Null-Angebot vorgelegt haben.

Es soll hier nicht behauptet werden, dass unsere Forschungsresultate aus ein- bis zweistündigen Gesprächen mit 18 Erzieherinnen repräsentativ sind. Aber sie helfen vielleicht, eine Liste von Fragen aufzuschreiben, die der aktuell in der Schlichtung befindliche sogenannte Kita-Streik auf den Tisch gebracht hat. Das erscheint auch deshalb sinnvoll, weil der Arbeitskampf eventuell schon nach der Sommerpause, in jedem Fall aber auf Dauer, weitergehen wird.

Streiks im sozialen Dienstleistungsbereich sind zwar noch immer etwas Besonderes, aber schon seit langem nichts mehr völlig Neues. In Deutschland wurden Einrichtungen der frühkindlichen Bildung bereits 2009 bestreikt - soziale Kämpfe finden in diesem Bereich aber schon seit Mitte der 2000er Jahre überall in Europa (Schottland, Österreich, Dänemark oder Finnland) sowie im Rahmen der Krisenproteste etwa in Spanien statt. Das bedeutet, dass die Kolleg_innen aus diesen Bereichen mittlerweile reichhaltige Erfahrungen mit der Zeit »nach dem Kampf« haben. Sie wissen zum Beispiel, dass die Arbeitgeber tatsächlich dazu neigen, bessere Löhne mit Personalkürzungen oder Arbeitsverschärfungen zu kompensieren. Und sie wissen auch, dass solidarisches Handeln im Streik und solidarisches Handeln im Alltag zwei unterschiedliche Terrains sind - wobei das erste, hat man erstmal angefangen, relativ gut begehbar und das zweite sich eventuell als umso glatter erweist.

Wir brauchen solidarische Strukturen

Rutschig wird es vor allem dort, wo es um die (selbst in linken Medien eigentlich wenig reflektierten) Perspektiven von Nutzer_innen sozialer Dienstleistungen auf Streiks in diesen Bereichen geht. Dass die Eltern in der oben erwähnten Hamburger Demo eine so miese Figur zugeschrieben bekamen, ist kein Zufall. Denn das Verhältnis zwischen Eltern und Kita-Beschäftigten ist ja schon im Alltag nicht spannungsfrei - die überall zu konstatierende Zunahme an Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte wird nicht zuletzt durch die Eltern transportiert. Sichtbar gleiche Interessen zwischen Eltern und Erzieher_innen gibt es eher bei der Forderung nach einer Verkleinerung der exorbitanten Gruppengrößen als in der Lohnfrage. Außerdem sitzen die klammen Kommunen Streiks sicherlich nicht ungern aus - das spart die Löhne, die Gewerkschaften zahlen das Streikgeld, die Eltern müssen (eigentlich) aber trotzdem pünktlich bei der Arbeit oder auf dem Amt sein.

Anzumerken ist endlich, dass gerade in kommunalen Kitas der Anteil an armen, prekär beschäftigten oder alleinerziehenden Eltern oft höher ist als bei freien Trägern. Es ist sicher richtig, dass die auf solche Nachrichten gierige Presse die relativ kleinen Elterndemos in verschiedenen deutschen Großstädten, die in erster Linie ein Ende des Streiks forderten, stark aufgebauscht und medial überrepräsentiert hat, während von Solidemonstrationen, an denen sich mindestens ebenso viele Eltern beteiligt haben, zumindest auf Bundesebene fast überhaupt nicht berichtet wurde. Trotzdem gibt es ein Problem.

Streiks in den Kitas, bei der Post, bei der Bahn zeigen, wie wichtig eine gesellschaftliche und politische Perspektive in Arbeitskämpfen geworden ist. Aber sie zeigen auch, dass selbst die gut gemeinten und sicherlich notwendigen linken Solidemos wohl kaum ausreichen, um die neuen Herausforderungen wirklich bewältigen zu können. Vor allem muss verstanden werden, was die Perspektive von Nutzer_innen in Streiks als Ressource von Macht im Arbeitskampf bedeutet. Wie kann verhindert werden, dass sich Nutzer_innen gerade bei den typischen lang anhaltenden weil nicht sofort erfolgreichen Streikbewegungen der laufenden Periode einer lang anhaltenden staatlichen Austeritätspolitik entsolidarisieren?

Eine noch so gute Kampagne beantwortet diese Frage nicht. Vielmehr müssen im Alltag - hier beispielsweise - der Kitas solidarische Strukturen entstehen, die einen Arbeitskampf tragen können und gleichzeitig die Betreuungssituation der Eltern auf eine kollektive Grundlage stellen. Erst auf dieser Grundlage würde es möglich, auch die Arbeitgeber, Schulen, Fabriken, Universitäten damit zu konfrontieren, dass es ein Betreuungsproblem gibt. Solche Strukturen können nicht erst während einer unberechenbar langen, akuten Streikphase entstehen - dann ist es in der Regel zu spät. Deshalb sollten wir jetzt schon an den Spätsommer denken und fragen, wo dann unser Alltagsstreik stattfinden wird und was wir tun müssen, um ihn nicht individuell zu überstehen, sondern in einem solidarischen Netzwerk.

Peter Birke lebt in Hamburg und ist beim Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen angestellt.

Stand der Dinge im Kita-Streik

Fast vier Wochen haben Beschäftigte der Sozial- und Erziehungsdienste (nicht nur der Kitas!) gestreikt, am 10. Juni begann die Schlichtung, die bis zum 22. Juni läuft. Während der Schlichtung gilt Friedenspflicht, es darf nicht gestreikt werden. Die kommunalen Arbeitgeber haben die Schlichtung angerufen, ohne auf die Forderungen der Beschäftigten einzugehen, ihr Präsident Thomas Böhle nannte sie noch am selben Tag »unverhältnismäßig«. Schlichter sind der ehemalige sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU, berufen für die Arbeitgeber) und Herbert Schmalstieg (SPD), Ex-Oberbürgermeister Hannovers und Ex-Städtetagspräsident (also eigentlich auch Arbeitgeberlager). In ver.di gibt es Kritik an der Schlichtung, zum Beispiel vom Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di (www.netzwerk-verdi.de). Die Kritiker_innen fürchten, die Arbeitgeber könnten sich mit dem Streik in die Sommerpause retten, danach beginnt die Eingewöhnungsphase (schwer zu bestreiken). Sie warnen: Wenn erstmal zwei Wochen Streikpause ist, wird es schwierig, wieder in Schwung zu kommen. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass der Streik nach der Schlichtung wieder anläuft. Die öffentliche Stimmung war zunächst recht wohlgesonnen. Nach und nach schwenkten viele Medien aber auf Berichte über verzweifelte Eltern um und forderten ein Ende des Streiks. Und auf Elternabenden redet sich die neoliberale Mittelschicht schon mal ihren Klassenhass gegen die Beschäftigten von der Seele ...