Brüderliche Hilfe für die Ostukraine
International Zu Besuch bei einem Freiwilligenbataillon in Altschewsk
Von Ulrich Heyden
Allmählich kehrt wieder Leben ein in Debalzewo, wo zu Jahresbeginn bei Kämpfen zwischen Aufständischen und der ukrainischen Armee 80 Prozent der Gebäude beschädigt oder zerstört wurden. Im benachbarten Gebiet Altschewsk aber wird noch gekämpft. An der »Grenze«, welche die »Volksrepublik Lugansk« von der Zentralukraine trennt, kommt es immer wieder zu Schießereien. Anfang Juni wurden auch große Städte wie Donezk wieder von der ukrainischen Armee beschossen. Inwieweit die Aufständischen zurückschießen, ist unklar.
Mein ortskundiger Fahrer und ich halten vor einem kasernenähnlichen Gebäude. Ein großes Metalltor öffnet sich. Wir steigen nackte Betonstufen hinauf. Oben sitzen an einem langen Tisch die Kommandeure des »Geisterbataillons« (Prisrak). Einige rauchen. Die Männer haben graue Gesichter. Sie machen einen müden und abgekämpften Eindruck. Es sind keine Schüsse zu hören, und es gibt auch keinen Alarm. Aber in dem Raum liegt Anspannung. Der Stützpunkt des Bataillons liegt in der »Volksrepublik Lugansk« (LNR), nicht weit von der Demarkationslinie. Dahinter beginnt das Gebiet, das die ukrainischen Truppen kontrollieren. Es gehört aber zum Verwaltungsgebiet Lugansk und muss - nach Meinung der Freiwilligen - noch erobert werden. Und eigentlich müsse man möglichst bald bis nach Kiew gehen und die »Faschisten« dort verjagen. Nur dann seien die Menschen in der Ostukraine sicher. Von der Friedensvereinbarung in Minsk halten die Freiwilligen nichts. Die ukrainische Seite breche immer wieder den Waffenstillstand. Fast täglich würden durch ukrainischen Artilleriebeschuss Menschen sterben.
Volksheld Mosgowoi
Zum Zeitpunkt unseres Besuchs ahnen wir noch nichts von der Tragödie, die sich am 23. Mai ereignet. Auf der Straße zwischen Altschewsk und Lugansk wird der Kommandeur des Prisrak-Bataillons, Aleksej Mosgowoi, bei einem Anschlag auf sein Auto zusammen mit Leibwächtern, Fahrer und Pressesekretärin getötet. Erst explodiert vor dem nicht gepanzerten Jeep eine Mine, dann wird der Wagen von allen Seiten unter Maschinengewehrfeuer genommen.
Zu der Beerdigung des Feldkommandeurs kamen über 1.000 Menschen. Der 40jährige Mosgowoi, in der Ostukraine geboren, war beliebt, weil er sich auch um die Alltagssorgen der Bevölkerung kümmerte, mit der Hühnerzucht begann, beim Aufbau von Suppenküchen half und Kindergärten mit Nahrungsmitteln und Pampers versorgte.
Prisrak galt als eine der kampfstärksten Einheiten. Das zeigte sich zuletzt in Debalzewo, wo im Januar 7.000 ukrainische Soldaten eingekesselt wurden. Prisrak verlor viele Kämpfer, kam aber aus Debalzewo mit viel erbeutetem Militärgerät zurück. Im Hof des Stützpunkts stehen zwei Panzer und ein gepanzerter Mannschaftstransporter mit Schießscharten.
Später erzählt mir Anastasija Solomatina, die sich in der Organisation der Mütter von Altschewsk engagiert, dass die Situation für die Kleinkinder in der Stadt Altschewsk trotz der Hilfe von Prisrak ziemlich katastrophal ist. In den Kindergärten gebe es weder Milchprodukte noch Obst, nur Haferbrei. Die Preise seien astronomisch hoch. Das große Metallurgische Kombinat von Altschewsk stehe still. »Die Menschen leben jetzt von den Renten der älteren Leute. Doch die müssen mühsam aus der Zentralukraine abgeholt werden. Der direkte Weg in die Ukraine ist versperrt, man muss über Russland fahren.«
Für die Bewohner_innen von Altschewsk sind die Prisrak-Kämpfer Beschützer. Denn sie sorgen dafür, dass die ukrainische Armee nicht weiter vorrückt. Am Siegestag, dem 9. Mai, marschierten Soldaten des Prisrak-Bataillons durch die Stadt. Der Zug wurde angeführt von einer Blaskapelle und Trommlerinnen in kurzen Röcken, gefolgt von Anwohner_innen und Antifaschist_innen aus Griechenland, Spanien und Italien, die sich an einem Antifaschistischen Kongress beteiligten. Zuschauer_innen klatschten Beifall, riefen »Danke« und »Prachtkerle«, Kinder und Frauen drängelten sich für ein Gruppenfoto um Feldkommandeur Mosgowoi.
Der erklärte, nachdem er im Mai 2014 begonnen hatte, Freiwillige um sich zu sammeln, immer wieder, man werde erst gegen die »Faschisten aus Kiew« kämpfen und sich dann die Oligarchen und die Beamten vornehmen, »die auf das Volk spucken«. Diese Haltung hatte Mosgowoi viel Anerkennung eingebracht. Viele Freiwillige aus Russland, aber auch aus Westeuropa wollten gerade in seinem Bataillon kämpfen. Es bildete sich sogar eine »kommunistische Einheit« die angeblich über 100 Soldaten stark ist.
Mosgowois selbstbewusster Ton, die trotz Verbot aus Lugansk abgehaltenen Veranstaltungen, die Militärparade am 9. Mai in Altschewsk und der Antifaschistische Kongress mit ausländischen Gästen waren der Führung der »Volksrepublik Lugansk« nicht geheuer. Mosgowoi selbst berichtete, Lugansk habe ihm mit »Verhaftung oder Tod« gedroht. Das Gerücht, hinter dem tödlichen Anschlag auf ihn stehe die LNR-Führung, wies der Lugansker Premierminister natürlich zurück.
Beim Gang durch den Prisrak-Stützpunkt fallen die zahlreichen Löcher auf, die in Wände geschlagen wurden. Warum das? »Unsere Leute brauchen im Notfall mehrere Fluchtmöglichkeiten«, erklärt uns ein Begleiter. In der Mitte eines langen Korridors machen wir vor einer Tür halt. Hier wohnt Wladimir Jefimow mit zwei anderen Männern. Alle drei kommen aus Jekaterinenburg, einer Stadt im Ural.
»Meine Schwester meint, ich sei ein Okkupant«
Jefimow ist um die 60 und trägt einen Rauschebart. Nach der Auflösung der Sowjetunion diente er bei den Schwarzen Wölfen. Die russische Spezialeinheit beteiligte sich auf Befehl von Präsident Boris Jelzin 1993 am Sturm auf das Parlament. Jelzin, der wie Jefimow aus Jekaterinenburg stammt, verehre er heute noch, erklärt der Bärtige. Damals wie heute gehe es gegen die faschistische Gefahr, begründet Jefimow seinen damaligen Einsatz gegen den Obersten Sowjet, der Jelzins Privatisierungskurs nicht mitgehen wollte.
Der Großteil der Menschen in der »Volksrepublik Lugansk« sei passiv, meint Jefimow. »Wir kämpfen hier praktisch für die Arbeitsplätze der Leute. Viele sind weggefahren.« Und die Menschen in der Ukraine, warum protestieren die nicht mehr gegen den Kriegskurs ihrer Regierung? Jefimow antwortet: »Die ukrainischen Medien haben den Menschen die Köpfe gewaschen«. Seine Schwester - sie ist 70 Jahre alt und wohnt in Kiew - habe ihn einen »Okkupanten« genannt, als sie hörte, dass er jetzt als Freiwilliger in Altschewsk ist.
Jefimow ist in Jekaterinburg Vorsitzender einer Vereinigung von Veteranen der Spezialeinheiten. Seit einem Jahr schon organisiert er humanitäre Hilfe und Geldsammlungen für die Kämpfer der »Volksrepublik Lugansk«. Um sicherzustellen, dass die Transporte auch bei den Bedürftigen ankommen, werden sie von Freiwilligen aus Jekaterinenburg begleitet, die dann in der LNR meist eine Zeit lang selbst die Waffe in die Hand nehmen und kämpfen. Geld bekommen die Soldaten von Prisrak nicht. Nur die Verpflegung wird vom Bataillon gestellt. Geldspenden kommen von Unternehmern und sogar von einem Chefarzt aus Jekaterinenburg. Doch die Unternehmer möchten ihre Namen nicht in einer Zeitung lesen.
Mein Blick fällt auf Jefimows Zimmernachbarn. Die beiden haben an ihren Betten Bilder und Ikonen befestigt. Der eine ist Anhänger einer russisch-heidnischen Glaubensrichtung, der andere Buddhist. Jefimow selbst bezeichnet sich als russisch-orthodox. Was diese Männer vereint, ist nicht der Glaube. Sie sind aus Jekaterinenburg in die Ostukraine gekommen, weil sie finden, dass ihre »russischen Brüder« gegen das Vorrücken der ukrainischen Armee Hilfe brauchen.
Passkontrolle mit gezogener Pistole
Wir fahren über Debalzewo zurück Richtung Donezk. Alle paar Kilometer gibt es Kontrollposten der LNR- später der DNR-»Republik«. Jedes Mal muss mein Fahrer seine Papiere vorzeigen und manchmal auch erklären, wen er da transportiert. In einem Städtchen kurz hinter Debalzewo wird es dann kritisch. Wir haben uns verfahren. Es ist schon dunkel. Wir halten an einem Marktplatz, steigen aus und fragen Taxifahrer, wo es nach Donezk geht. Die nächtliche Ausgangssperre hat noch nicht begonnen. Doch wir erregen offenbar Misstrauen. Zwei zivile Autos rauschen heran und bremsen scharf. Ein Mann in Zivil fordert von mir mit gezogener Pistole Ausweis und Akkreditierung. Im schummrigen Laternenlicht erkenne ich ihn kaum. »Das kreative Gesicht ist mir sofort aufgefallen«, raunt der Zivilpolizist seinem Kollegen zu. Ich habe Angst. Was will er von mir? Doch nach der Passkontrolle gibt es keine weiteren Fragen. Wir können weiterfahren.
Von Ulrich Heyden erschien Anfang Mai das Buch: »Ein Krieg der Oligarchen. Das Tauziehen um die Ukraine«. PapyRossa-Verlag, Köln, 173 Seiten, 12,90 EUR.