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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 606 / 16.6.2015

Meinung

Der Wahlerfolg der HDP gibt der jungen Generation in der Türkei neue Hoffnung

Die von links-intellektuellen Kurd_innen gegründete Partei der demokratischen Menschen (HDP) zieht ins türkische Parlament ein. Das ist ein historischer Moment für die kurdische Bewegung. Möglich wurde er, weil es der HDP gelang, verschiedene Positionen sowohl linker Gruppierungen als auch der feministischen Bewegung zu vereinen. Ihr Erfolg bedeutet eine eindeutige Absage an die Hegemonie der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Die unmittelbare Nähe der HDP zur türkischen Frauenbewegung eröffnet Handlungsmöglichkeiten für eine Politik mit feministischer Brille.

Als am Wahltag die Auszählung der Stimmen den Sprung der HDP ins Parlament eindeutig belegte, erklärte auch die Doppelspitze der Partei, Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas, dass der errungene Erfolg ein wichtiger Schritt für die Rechte der Frauen sei. Während in der Rhetorik der AKP Frauen stets als Ehefrau und Mutter in den Vordergrund gerückt werden, ist es für die HDP selbstverständlich, dass Frauen das öffentliche Leben mitgestalten können.

Nach den Protesten um den Gezi-Park im Sommer 2013 und den Kommunalwahlen 2014, die erneut der AKP Legitimation verschafften (ak 593), ist jetzt die Voraussetzung dafür gegeben, dass durch die HDP die Belange der Protestierenden auch im öffentlichen Diskurs hörbar werden. Es war nicht die kurdische Bewegung allein, die den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde möglich machte. Maßgeblich waren darüber hinaus die Stimmen der durch die Proteste politisierten jungen Generation und der bereits seit den 1980er Jahren politisch geschulten älteren Generation der Linken. Korruptionsskandale, die Ereignisse in Kobanê und die Bombenanschläge in Amed brachten das Fass zum Überlaufen.

Die breite öffentliche Unterstützung für die HDP lässt Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und Politik in der Türkei aufkeimen. Denn nicht der Einzug einer Partei in ein Parlament, sondern die Veränderung des Bewusstseins der Menschen kann die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Zum Feiern kam die HDP zunächst allerdings nicht. Der Regisseur, Schauspieler und Parlamentsabgeordnete S?rr? Süreyya Önder, der wesentlich zum Beginn der Gezi-Proteste beitrug, forderte am Wahltag die HDP-Wähler_innen zur Wachsamkeit auf: »Auch wenn es erfreulich ist, dass wir bis jetzt positive Ergebnisse erzielt haben, ist es wichtig, dass wir nicht unseren Erfolg feiern, denn die Wahllokale müssen bis zum Ende der Zählung vor Wahlbetrüger_innen geschützt werden.«

Mit dem Einzug der HDP ins Parlament steigt dort der Anteil der Frauen im Vergleich zu den letzten Wahlen um 18 Prozent. Zu verdanken ist diese Steigerung der 40-Prozent-Frauenquote der HDP-Liste - von ihren 79 Abgeordneten sind 31 Frauen. Durch Zusammenarbeit mit Kandidatinnen, die direkt aus der feministischen Bewegung kommen, wie zum Beispiel Filiz Kerestecioglu in Istanbul, die jetzt ins Parlament einzieht, finden Forderungen für eine gleichberechtigte feministische Politik auf der realpolitischen Ebene Gehör. Feminismus wird in jedem Bereich mitgedacht, und der Mensch soll nicht über die Natur herrschen, sondern wird in den ökologischen Kontext gestellt. Welche wirtschaftliche Agenda die HDP verfolgt, bleibt zunächst einmal abzuwarten.

Trotz vielfältiger praktischer und theoretischer Differenzen muss jetzt eine Regierung gebildet werden. Die Koalitionsmöglichkeiten sind vielfältig, wobei sich allerdings nach Aussagen der jeweiligen Parteivorsitzenden einige Konstellationen ausschließen lassen. Die AKP wird nicht mit der Republikanischen Partei (CHP) koalieren und natürlich auch nicht mit der HDP. Vorstellbar wäre eine Koalition zwischen AKP und MHP, der Partei der Nationalistischen Bewegung; allerdings gibt es zwischen den beiden Parteien tiefe Differenzen in Bezug auf das Präsidialsystem und den Friedensprozess mit der kurdischen Bevölkerung. Wie es das Prozedere erfordert, ist Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (AKP) bereits zurückgetreten; nun werden Verhandlungen zwischen den Parteien geführt.

Die Heterogenität, die die HDP zu vereinen versucht, legt den Grundstein für eine emanzipatorische Politik, die durch eine unmittelbare Nähe zu verschiedenen sozialen Bewegungen gekennzeichnet ist. Das Wichtigste am Einzug der HDP ins Parlament ist, dass sie das Selbstbewusstsein einer neuen Generation stärkt, die in den Straßenkämpfen im Sommer 2013 gegen eine nationalistische Politik aufstand und - trotz physischer und psychischer Repression - die Autonomie der Individuen in den Vordergrund rückte.

Fatma Umul, 10. Juni 2015