Aufgeblättert
Leipzig
»Schwaben zurück nach Berlin!«, lautete vor längerer Zeit ein Graffito am Leipziger Hauptbahnhof. Es veranschaulicht den Hype um die angeblich so hippe Ostmetropole (»Hypezig«) und die Rede von Leipzig als dem »neuen Berlin«, wo dank niedriger Mieten und einer großen alternativen Szene noch vielerlei »Freiräume« zu finden seien. Als Leipziger_in wohnte man plötzlich »in einer Stadt, die angeblich nur noch aus stoppelbärtigen Künstler_innen besteht, die den ganzen Tag im Park herumliegen«, wie es in einem Beitrag des im Unrast-Verlag erschienenen Sammelbandes heißt. Dieser wirft einen Blick hinter die Kulissen des Leipzig-Hypes und fragt danach, welche Prozesse und sozialen Gruppen im Zuge dessen unsichtbar gemacht werden. Er hinterfragt damit die ungebrochene Erfolgsgeschichte, die die selbsternannte »Heldenstadt« gerade jetzt zum 1.000 jährigen Jubiläum von sich erzählt. Faktenreiche Artikel zu Wohnungspolitik, Aufwertung und Verdrängung ergänzen sich mit Studien über die Situation von Muslim_innen, älteren Menschen und Asylsuchenden in der Stadt. Weitere Beiträge widmen sich Hausbesetzer_innen und der queeren Szene, aber auch den Versuchen von Nazis, in Leipzig Fuß zu fassen. Für Leipziger_innen bietet das Buch Einblicke in die Geschichte, die Stadtpolitik, die Subkulturen sowie sogenannte »Randgruppen«. Stadtsoziolog_innen werden fündig in Bezug auf Analysen zu Wohnungspolitik, Gentrifizierung und Raumaneignung in einer ostdeutschen Großstadt.
Sarah Lempp
Frank Eckardt/René Seyfarth/Franziska Werner (Hg.): Leipzig. Die neue urbane Ordnung der unsichtbaren Stadt. Unrast Verlag, Münster 2015. 294 Seiten, 18 EUR.
Nanni Balestrini
Zum 80. Geburtstag von Nanni Balestrini, dem mutmaßlichen »italienischen Lieblingsautor« der deutschen Linken, ist bei Assoziation A ein Sammelband erschienen, der - wie viele seiner Art - eher ein Sammelsurium darstellt. Texte Balestrinis, darunter Gedichte und politische Kommentare (z.B. »Die reaktionäre Gewalt der bürgerlichen Institutionen beantworten wir mir revolutionärer Gewalt« von 1975), reihen sich an Rezensionen seiner Werke und Würdigungen seiner Person durch diverse kompetente Autor_innen, darunter Umberto Eco, Hanna Mittelstädt und Jörg Burkhard. Zwei Beiträge ragen heraus: Peter O. Chotjewitz' Aufsatz »Nanni Balestrini und die Neo-Avantgarde der 60er Jahre« und Jost Müllers Essay »Gegen die Arbeit. Vogliamo tutto - ein literarischer Bericht über den Massenarbeiter«. Müller erläutert die realen Hintergründe von Balestrinis Roman »Vogliamo tutto - Wir wollen alles«: die Turiner Revolte im Juli 1969, Auftakt zum legendären »Heißen Herbst« desselben Jahres: »Eine ganze Stadt im Streik, die räumlich-funktionale Trennung von Arbeitsplatz und Wohnviertel war plötzlich außer Kraft gesetzt.« Zur linken »Pflichtlektüre« (wenn es die gibt) gehört der Sammelband nicht. Wichtiger, und immer wieder lesenswert, bleibt Balestrinis Romantrilogie. Seine drei Bücher über die Revolte der 1960er und 1970er Jahre - »Wir wollen alles«, »Die Unsichtbaren« und »Der Verleger« - sind in einem Band ebenfalls bei der Assoziation A erschienen.
Jens Renner
Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer und Jürgen Schneider (Hg.): Nanni Balestrini. Landschaften des Wortes. Assoziation A, Berlin und Hamburg 2015. 221 Seiten, 16 EUR.
Gott hat Burnout
Erstickt am eigenen Penis: Der neueste Fall von Inspektor Platon Ahorn hat es in sich. Er verschlägt ihn auf die kleine Südseeinsel Gondwana, wo ein bestialischer Kastrationsmord ohne Leiche nur eine von vielen Ungereimtheiten ist. Denn Gondwana ist nicht bloß irgendeine Insel, sondern das »Paradies auf Erden« - zumindest für die Glaubenselite am Ende des 21. Jahrhunderts, die das ehemalige Bespaßungs-Resort für geistig Beeinträchtigte aufgekauft und als Sitz der neuen »Weltkirche« auserkoren hat. Auf Gondwana wird nun allen Ge- und Verboten der großen monotheistischen Weltreligionen gleichermaßen gehuldigt. Für den Atheisten Platon natürlich die reinste Provokation - nicht zuletzt weil im idyllischen Refugium der »Unsterblichkeitsstreber« und »Geistesblitzableiter« neben weiblicher Ganzkörperverhüllung auch konsequente Alkoholabstinenz angesagt ist. Kann Platon trotz fleischlicher Entsagung Licht ins Dunkel bringen? Auf fröhlich-dreiste Weise jongliert Simon Urban in seinem neuen Roman mit Genre-Klischees und rechnet mit männlichen Allmachtsfantasien und religiösem Fanatismus ab. Zusammen mit den kongenialen Pulp-Comics von Ralph Niese, die als eigenständige erzählerische Elemente in den Fließtext eingewoben sind, bietet »Gondwana« einen gut gelaunten Krimi-Karneval, der nicht nur zahlreiche blasphemische Bonmots (»Gott hat Burnout«; »Engel sind auch nur Geflügel«), sondern auch einige erzähltechnische Finessen sowie überraschende Wendungen in petto hat.
Stephanie Bremerich
Simon Urban: Gondwana. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2014. 394 Seiten, 22,95 EUR.
Marxismus heute
Der Band basiert auf der 2013 abgehaltenen Tagung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Bereits in der Einleitung zeigen die Herausgeber die Schwierigkeit auf, dem Titel gerecht zu werden. So ist zwar klar, dass man an der Fragestellung »Was ist der Stand des Marxismus?« nur scheitern kann, die Auslassungen in dem Band sind allerdings doch ärgerlich. Da wird einerseits auch nur auf den Versuch einer Definition von »Marxismus« verzichtet, andererseits verdichten sich die Beiträge, so sie mit Marxismus nicht überhaupt nichts zu tun haben wollen (wie der Beitrag von Michael Heinrich), entlang der Achse Neogramscianismus-Regulationstheorie. Ein Highlight ist die thesenartige Bestimmung des Verhältnisses von marxistischer Theorie und Soziologie von Klaus Dörre, aber auch Ingo Stützles Auseinandersetzung mit der Rolle sozialer Kämpfe in der marxistischen Theoriebildung. Ein Großteil der Beiträge ist an der Schnittstelle von Soziologie und Politikwissenschaft angesiedelt, philosophische Ansätze werden weitgehend ignoriert. Dass die Frage nach dem Verhältnis von sozialen Bewegungen, marxistischer Theorie und politischer Organisation nicht gestellt wird, verweist - wie auch der Untertitel - auf den akademisch-theoretischen Charakter des Bandes. Das schmälert nicht die Qualität einiger Texte, ein stimmiger Titel wäre allerdings gewesen: Analysen zu ausgewählten akademischen Marxismen in Deutschland und ihrer Kritik.
Martin Birkner
Alex Demirovic, Sebastian Klauke, Etienne Schneider (Hg.): Was ist der »Stand des Marxismus«? Soziale und epistemologische Bedingungen der kritischen Theorie heute. Westfälisches Dampfboot, Münster 2015. 186 Seiten, 19,90 EUR.