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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 607 / 18.8.2015

Nicht wieder Pest oder Cholera

International Angesichts der Niederlage in Griechenland könnten die abspenstigen Teile von SYRIZA helfen, neue Kräfte für den Widerstand zu sammeln

Von Heike Schrader

Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir in Griechenland gerade eine absolute Niederlage erlitten haben. Dabei hatten die meisten der fast 2,25 Millionen Menschen, die am 25. Januar 2015 für SYRIZA gestimmt haben, gar nicht erwartet, dass die laut Eigenwerbung »erste linke Regierung in Europa« ihr Programm vollständig umsetzten würde. Sechs Monate später aber ist fast nichts der keineswegs revolutionären, sondern linkssozialdemokratischen Wahlversprechen realisiert. Auf der Haben-Seite kann SYRIZA lediglich die Wiedereinstellung einiger Staatsbediensteter vorweisen, darunter die kämpferischen Putzfrauen im Finanzministerium, die Wiedereröffnung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt ERT, Erleichterungen bei der Einbürgerung der Kinder von Migrant_innen und ein völlig unzureichendes, 200 Millionen Euro leichtes Hilfsprogramm für die Ärmsten der Armen.

Und nun ist eine informelle große Koalition aus den Regierungsparteien SYRIZA und ANEL sowie der Oppositionsparteien Nea Dimokratia, PASOK und To Potami dabei, weitere Austeritäts- und Umverteilungsmaßnahmen zulasten der Vielen und zum Nutzen der Wenigen umzusetzen. Dabei geht es nicht nur um die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik, sondern knallhart darum, Griechenland in den Ruin zu treiben. Denn mit dem neuen Memorandum werden zum Beispiel mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer im Gastgewerbe auch Mittel abgewürgt, die dem Land selbst nach neoliberaler Denkweise aus der Krise hätten helfen können. Man erinnere sich an die von der FDP durchgesetzte Senkung der sogenannten Hotelsteuer 2010 auf sieben Prozent (»Mövenpicksteuer«). Von Athen wird weiter gefordert, die Regierung soll Wiedereinstellungen wie die der Putzfrauen und der ERT-Mitarbeitern_innen rückgängig machen. Im innereuropäischen Klassenkampf darf es auch nicht den Hauch eines Sieges der Unterdrückten geben. Im Namen von Alternativlosigkeit muss SYRIZA auf den - in beiden Bedeutungen - rechten Weg gebracht und exemplarisch abgestraft werden.

Eine langfristig vorbereitete Niederlage

Objektiv und langfristig betrachtet war die Entscheidung der Regierung, sich dem Druck der Gläubiger zu beugen, sicherlich die schlechteste aller möglichen. Allerdings ist dies den meisten Menschen in Griechenland nicht bewusst, darunter viele, die sich seit fünf Jahren gegen die immer weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen wehren. Das "große Nein" beim Referendum am 5. Juli 2015 darf keinesfalls als Votum für einen Grexit interpretiert werden. Viele der fast 3,6 Millionen Oxi-Wähler_innen hatten es vielmehr mit der von Tsipras erneut genährten Hoffnung verbunden, damit eine zwar schmerzhafte, aber immerhin bessere Gläubigervereinbarung zu erreichen, als die Vertreter des "Ja" zu bieten hatten.

Überdies ist das "Nein" nur der vorläufige Schlusspunkt einer ganzen Reihe von Höhepunkten im Widerstand gegen fünf Jahre brutaler Austeritätspolitik. Zu diesen gehören zum Beispiel die riesigen Generalstreiks im Mai 2010 mit der versuchten Erstürmung des Parlaments, die Bewegung der Plätze im Sommer 2011, die selbst für griechische Verhältnisse ein Höchstmaß allgemein akzeptierter Militanz aufweisende Demonstration Hunderttausender gegen die Verabschiedung des zweiten Gläubigermemorandums im Februar 2012, aber auch das unglaubliche Netz an solidarischen Strukturen, das mittlerweile das ganze Land überzieht. Der Widerstand und sein - was die Verhinderung auch nur einer Maßnahme angeht - Scheitern an der Betonmauer von TINA haben SYRIZA erst zur Hoffnungsträgerin gemacht und ihr auf die Regierungssessel geholfen.

All dies hat SYRIZA genutzt, kanalisiert und verkauft. Und zwar nicht erst jetzt, sondern bereits seit 2012: Anstatt die Bewegungen ernst zu nehmen, entschied sich die Mehrheit um Parteichef Tsipras nach der knappen Wahlniederlage im Sommer 2012 für den institutionellen Weg. Wie bereits in ak 601 beschrieben, sollte die sicherlich aufrichtig gewünschte »Veränderung der EU hin zu einer Union im Interesse der Völker« nicht mit dem schwer kontrollierbaren Druck der Straße, sondern über Verhandlungen auf institutioneller Ebene erzielt werden. »Der Bewegung« wurde dabei nur noch die Rolle des »Jubelpersers« für die eigenen Großveranstaltungen zugedacht.

Insbesondere die SYIRZA-kritischen oder mit der Linkspartei konkurrierenden, organisierten Kräfte widersetzten sich diesem Rollenverständnis, konnten aber nicht genug Druck ausüben, um die Regierung zum Festhalten am eigenen Programm zu zwingen. Und sie hatten selbst in ihren eigenen Reihen mit der Illusion zu kämpfen, die Partei würde schon so viel wie möglich von dem umsetzten, was sie versprochen hatte. Über die eigenen Reihen hinausgehende Mobilisierungen waren unter diesen Voraussetzungen erst recht unmöglich.

Gleichzeitig erforderte es einen unglaublichen Kräfteeinsatz, um einer Linksregierung eigentlich selbstverständliche Dinge abzuringen: Der fast ausschließlich vom anarchistischen Spektrum des Landes unterstützte Hungerstreik Dutzender politischer und sozialer Gefangener für die Abschaffung von Sonderknästen, Sondergesetzen und anderer Sondermaßnahmen gegen militante Widerständige - was sich SYRIZA seit deren Einführung auf die Fahnen geschrieben hatte - brachte nicht nur eine ganze Reihe der Hungerstreikenden auf die Intensivstation, sondern auch die Repression der »ersten linken Regierung« zum Vorschein: Die frühere Verteidigerin des Hochschulasyls ließ eine aus Solidarität besetzte Universität noch kurz vor der parlamentarischen Abstimmung über einen Teil der Forderungen der Hungerstreikenden mit brutaler Polizeigewalt räumen.

Die hauptsächlich von der Linken Plattform getragene Opposition innerhalb von SYRIZA gegen das schrittweise Einknicken der eigenen Partei gegenüber den Gläubigerforderungen konnte nicht einmal durchsetzen, dass über eine Alternative zu EU und Euro überhaupt öffentlich nachgedacht werden durfte. Ihre durch keine Form von Praxis gestützten Appelle, SYRIZA sollte sich ungeachtet der Drohungen der Gläubiger vor allem an die Umsetzung des eigenen Wahlprogramms machen - was die einzige innergriechische Möglichkeit gewesen wäre, tatsächlichen Druck auf »die Institutionen« auszuüben - prallten an der bis heute von Tsipras & Co. verfolgten Strategie des unbedingten Verbleibs im Euro wirkungslos ab.

Tsipras bleibt - vorläufig - Schlüsselfigur

Ungeachtet nun durch die Medien geisternder diverser mehr oder weniger glaubwürdiger und abenteuerlicher »Alternativpläne« ist Griechenland in den vergangenen sechs Monaten in keiner Weise auf eine Rückkehr zu staatlicher Souveränität und einer eigenen Währung vorbereitet worden. Weder was den notwendigen gesellschaftlichen Rückhalt für das Durchstehen einer damit notwendigerweise verbundenen harten »Durststrecke« noch was materielle reale Vorbereitung betrifft, um den vorläufigen Absturz so kurz und sanft wie möglich zu gestalten. Deswegen ist es auch nur scheinbar paradox, dass SYRIZA in jüngsten Hochrechnungen bei als höchst wahrscheinlich geltenden Neuwahlen sogar die Kraft zur Alleinregierung vorausgesagt wird. In Ermangelung einer glaubwürdigen Alternative und einer glaubwürdigen Führungspersönlichkeit klammern sich viele daran, dass eine »Linksregierung« noch am ehesten die brutalsten Auswirkungen der unter den gegebenen Umständen als unvermeidlich akzeptierten Austeritätspolitik abmildern könnte. Eine Hoffnung, die der vom Messias zum Strohhalm der Ertrinkenden herabgesunkene, angeschlagene Volksheld Alexis Tsipras nur allzu bereitwillig schürt.

Wenn Tsipras noch in letzter Minute umkehrte und den Bruch wagen würde, hätte er gute Chancen, dass »die Massen« ihm ein weiteres Mal folgen würden. Ein Grexit stünde damit zwar materiell trotzdem nicht unter den besten Voraussetzungen, wäre aber angesichts des Durchhaltevermögens der an ihre Grenzen getriebenen griechischen Bevölkerung sicherlich machbar. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum die gewieften Taktiker_innen in der Führung der Linken Plattform - allen voran der ehemalige Minister für Energie, Umwelt und wirtschaftlichen Wiederaufbau, Panagiotis Lafazanis - derzeit nicht auf den Austritt und den Aufbau einer eigenen Partei setzen, sondern immer noch für eine Rückkehr von SYRIZA zu deren Wurzeln kämpfen. Zugegeben mit geringen Erfolgsaussichten, aber den Versuch ist es sicherlich wert. Zumal sich die Situation schon bald klären dürfte: Ein für den Herbst angesetzter außerordentlicher Parteitag wird das innerparteiliche Kräfteverhältnis aufzeigen, und für die wohl unvermeidlichen Neuwahlen gegen Ende des Jahres hat der Parteichef das Recht die Liste der Kandidat_innen im Alleingang festzulegen.

Vor uns liegt ein langer Weg

Wer in dieser Situation dagegen auf den Sturz von SYRIZA und den Grexit im "Volksaufstand" setzt, agiert vollkommen an der Realität vorbei. Die organisierten Kräfte der Bewegung sind - noch - viel zu schwach, um zu leisten, was SYRIZA nicht leisten will, und ihnen würden »die Massen« nicht folgen. Stattdessen könnte ein derartiger Versuch den in den Startlöchern stehenden Faschist_innen den nötigen Auftrieb verschaffen und deren Gesellschaftsmodell zur mörderischen Durchsetzung zu verhelfen - mit der von vielen nicht nur insgeheim gewünschten »starken Hand«.

Für eine »von unten« getragene Veränderung der Verhältnisse hin zu einer menschenwürdigeren Gesellschaft müssen in mühsamer Kleinarbeit erst all diejenigen (wieder) überzeugt werden, die bei den von unten getragenen Widerständen seit 2010 und zuletzt beim von oben initiierten "großen Nein" dabei waren. Es gilt, jede in diese Richtung weisende Eigeninitiative zu stärken. Und nicht wie die stalinistische KKE mit dem ewig richtigen Verweis auf die Notwendigkeit der Einführung klassenloser Verhältnisse jede Zusammenarbeit mit den im Hier und Jetzt Agierenden nicht nur abzulehnen, sondern diese auch noch zu bekämpfen. Während die KKE sich in allen emanzipatorischen Kämpfen der letzten Jahre objektiv als Verteidigerin des Systems positioniert hat, könnten die abspenstigen Teile von SYRIZA, die außerparlamentarische Linke, ein großer Teil des anarchistischen Spektrums, diverse Selbstermächtigungen wie Stadtteilversammlungen oder soziale Zentren, Basisgewerkschaften und sogar einige etablierte Arbeitervertretungen als Multiplikatoren beim Sammeln neuer Kräfte für den Widerstand wirken. Der Weg könnte sich allerdings als recht langwierig erweisen. Denn obwohl gerade angesichts des jüngsten Beispiels Vorsicht bei der Übergabe von Verantwortung an wie auch immer geartete neue Hoffnungsträger_innen geboten ist, sind kurzfristige dramatische Veränderungen zum Besseren ohne die Einbeziehung staatlicher Institutionen kaum vorstellbar. Zwar hat sich im Laufe der Krise ein dichtes Netz solidarischer Strukturen in den Bereichen Gesundheitsfürsorge, Bildung und Versorgung mit Agrarprodukten direkt von Konsument_innen zu Endverbraucher_innen gebildet. Eine Tradition der Aneignung von Produktionsmitteln wie beispielsweise in Argentinien aber existiert in Griechenland nicht.

Vorsicht gilt auch bei der Suche nach internationalen Bündnispartnern. Die so gern ins Spiel gebrachten Staaten Russland und China wollen es sich nicht mit der EU verderben. Russland hätte schon deswegen kein Interesse an einem Griechenland außerhalb der EU, weil es seine Pipelines hier durchführen will, um sein Erdgas im Rest Europas und nicht nur in Griechenland zu verkaufen. China dagegen könnte den Laden wahrscheinlich einfach aufkaufen. Was dies jedoch für die Bevölkerung bedeuten würde, kann man bereits jetzt im seit einigen Jahren vom chinesischen Staatsunternehmen geführten Containerhafen in Piräus sehen: Statt zu vormals von der KKE eigenen Gewerkschaftsfront PAME durchgesetzten Löhnen wird hier nun zu "chinesischen Bedingungen" produziert.

Heike Schrader ist freie Journalistin und lebt in Athen. In ak 606 schrieb sie, wie in Griechenland die deutsche Schuld und NS-Verbrechen diskutiert werden.