Das Schweigen der Eliten
Über das Meer Angesichts der Migrationsbewegungen nimmt die Kritik an der Afrikanischen Union zu
Von Haidy Damm
Bei einem Gespräch mit dem EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso im Jahr 2005 erklärte Alpha Oumar Konaré: »Weder Sicherheitsmaßnahmen noch Mauern werden das Problem lösen können.« Laut dem ehemaligen Präsidenten Malis und damaligen Generaldirektor der Afrikanischen Union (AU) müssten die Staaten vielmehr die Armut in Angriff nehmen und die landwirtschaftlichen Subventionen aufgeben, mit denen die europäische Agrarpolitik afrikanische Märkte zerstört.
Grenzabschottung im Interesse Europas
Zehn Jahre später, im Mai 2015, sprach der Präsident der westafrikanischen Wirtschaftsunion (ECOWAS), Kadré Désiré Ouedraogo, über die Notlage der afrikanischen Jugend. Er beklagte die illegale Migration nach Europa, die »in diesen Tagen Hunderte Jugendliche von ihren Familien trennt«, und erinnerte die vor ihm sitzenden westafrikanischen Regierungschef_innen an ihre Vereinbarung, das Problem »an der Wurzel zu packen«. Er propagierte Überwachung der Grenzen und Bekämpfung der sogenannten Schleuser.
Grenzabschottung im Interesse Europas und Aufbau wirtschaftlicher Perspektiven im eigenen Land - auf diese grobe Formel lassen sich die Maßnahmen zusammenfassen, mit denen afrikanische Regierungen in der vergangenen Dekade auf die Migrationsbestrebungen nach Europa reagierten. Dabei sehen sie sich selbst wesentlich größeren Herausforderungen gegenüber. Es ist nur eine Minderheit der Migrant_innen, die den afrikanischen Kontinent verlassen. Die AU spricht von zwölf Millionen Menschen, die innerhalb des Kontinents auf der Flucht vor Krieg und Armut sind. Laut UNHCR-Halbjahresbericht nehmen innerhalb des Kontinents Äthiopien (588.000), Kenia (537.000) und der Tschad mit 455.000 die meisten Flüchtlinge auf. Wer angesichts der Toten im Mittelmeer bestürzte Reaktionen erwartet, sollte diese Zahlen im Hinterkopf haben.
In den vergangenen Jahren gab es selten Stellungnahmen afrikanischer Staatschefs zur Migration nach Europa. Die Tragödie von Lampedusa im Oktober 2013, als 369 Menschen vor der Küste der italienischen Insel ertranken, scheint einen Wendepunkt darzustellen. Die AU hatte für den 3. November 2013 einen Trauertag auf dem gesamten Kontinent ausgerufen - einen Monat später. Die Kritik an der AU wächst. So schrieb Percy Zvomuya in der südafrikanischen Zeitung Mail & Guardian im November 2013: »Während die Regierungschefs dafür kämpfen, ihre Elite zu verteidigen, fliehen ihre Leute - und sterben.« Simon Alison vom kenianischen Daily Maverick analysiert: »Während die Sprecher der AU eifrig damit beschäftigt sind, scheinheilige und platte Pressemitteilungen zu verschicken, ignorieren sie die Gründe, warum so viele Afrikaner meinen dem Kontinent entkommen zu müssen.« Und die senegalesische Schriftstellerin Fatou Diome zeigte sich im Interview mit dem Sender 3Sat im Juli diesen Jahres empört, »dass bei all diesen Toten keine Reaktion der Afrikanischen Union« kam.
Dabei war Migration in den vergangenen 20 Jahren auf zahlreichen Gipfeltreffen innerhalb der AU, aber auch mit der EU ein zentrales Thema. So sind seit den 1990er Jahren sowohl bilateral als auch mit der EU zahlreiche Rückübernahmeabkommen geschlossen worden. Zunehmend werden darin Migrationssteuerung und Entwicklungszusammenarbeit oder Handelsabkommen verbunden: Wer kooperiert, erhält mehr vom Kuchen.
Die Länder Nordafrikas - einst Europas erste Ansprechpartner und Hilfstruppen der EU-Grenzschützer - liegen heute durch Umbrüche und Krieg in Trümmern. Doch auch mit südlich gelegeneren Ländern bestehen Rücknahmeabkommen, aktiv sind hier vor allem die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich, Spanien und Italien. Der ehemalige italienische Außenminister Franco Frattini bereiste schon Anfang 2009 Angola, Sierra Leone, Senegal und Nigeria, um Rücknahmeabkommen auszuhandeln, die Länder mit Flüchtlingslagern auszustatten und fälschungssichere Pässe einzuführen. Frankreich schloss Abkommen mit Benin, Burkina Faso, Kamerun, Kap Verde, Kongo, Gabun, Senegal, Tunesien und Mauritius ab. Für die EU sind solche »Partnerschaften entscheidend«, wie es in einer Mitteilung der EU-Kommission vom Mai 2015 heißt. Im Gegenzug soll Migration durch eine stärkere Zusammenarbeit in der Entwicklungspolitik verhindert werden.
Nur wenige Staaten verweigern sich. Mali, das wesentlich von den Rücküberweisungen von Migrant_innen lebt, hatte 2009 ein Abkommen mit Frankreich abgelehnt. Kämpfe von Sans Papiers in Frankreich und von Abgeschobenen in Mali spielten dabei eine wichtige Rolle: Sowohl in Paris wie auch in Bamako kam es zu Protesten.
Senegal nach dem Regierungswechsel
Beim Nachbarn Senegal sind die Zahlungen aus der Diaspora ebenfalls ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, sie machen rund zehn Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts aus. Dennoch hatte der ehemalige Staatschef Abdoulaye Wade, bekannt für sein Konzept »Null Toleranz gegenüber der illegalen Migration«, zahlreiche bilaterale Abkommen ausgehandelt. So ist es der europäischen Grenzschutzagentur Frontex über ein Abkommen zwischen Senegal und Spanien seit 2006 möglich, die Küste zu überwachen. Im Gegenzug wurden Infrastrukturprojekte in öffentlich-privater Partnerschaft vereinbart, Hilfslieferungen ausgehandelt und arbeitslose Jugendliche unterstützt, die in der Landwirtschaft arbeiten sollen. In einem ebenfalls 2006 abgeschlossenen Abkommen mit Frankreich sind neben Visaerleichterungen für Senegales_innen, die studieren, Leistungssportler_innen sind oder eine andere besondere Qualifikation vorweisen können, besonders Überwachungsmaßnahmen verankert: bessere Ausstattung und Ausbildung der Polizei, gemeinsame Überwachung der Küsten, bessere Strafverfolgung der illegalen Migration, besonders der Schleuser, und effektivere Überwachung an den Flughäfen.
Der Regierungswechsel im Jahr 2012 hat an dieser Politik wenig geändert, dennoch wird der Ton schärfer. So sprach der Staatschef Macky Sall im Juni diesen Jahres gegenüber der französischen Tageszeitung Le Figaro von einem »humanitären Drama« im Mittelmeer, das »nicht zu tolerieren« sei. Auch an die AU gibt es Erwartungen: »Das Schweigen der afrikanischen Staatsführer angesichts des Migrationsdramas mit seinen Todesraten ist beunruhigend«, erklärte Salls Beraterin Amsatou Sow Sidibé und betonte: »Illegale Migration leert den Kontinent und beraubt die Ländern der Entwicklungsmöglichkeit.«
Die Lebensbedingungen vor Ort grundsätzlich zu verbessern, mit dieser Losung war Sall 2012 angetreten. Zunächst löste der neue Präsident sein Wahlversprechen ein und hob internationale Fischereiabkommen auf, die zu Überfischung geführt hatten. Im Mai 2014 jedoch schlossen Senegals Regierung und die EU ein Fischereiabkommen, das diese Schritte wieder zunichtemachte.
Ähnlich verhält es sich mit anderen Wirtschaftsabkommen. Bereits 32 afrikanische Staaten haben Freihandelsabkommen mit der EU abgeschlossen, die deutlich zum Vorteil transnationaler Konzerne sind. Die Ausbeutung von Rohstoffen bilden darin ebenso eine Kontinuität wie neokoloniale Strukturen: Überfischung oder Landgrabbing und eine Landwirtschaft, die auf Export ausgerichtet ist statt auf Ernährungssouveränität, bleiben Realität.
Und so bleiben die Fluchtgründe, zu denen die AU schweigt. Dabei sei die »pragmatische Frage«, so der Analyst Simon Alison, was die AU angesichts der Uneinigkeit ihrer Mitglieder tatsächlich tun könne. Im Juni beim Gipfel in Johannesburg hat sie sich darauf geeinigt, gegenüber der EU eine »gemeinsame Strategie« bis zum gemeinsamen Treffen im November in Malta zu entwickeln. Das Ziel beschreibt AU-Kommissionschefin Nkosazana Dlamini-Zuma so: »Wenn wir uns alle darauf konzentrieren, unsere Leute fortzubilden, in sie zu investieren, dann müssen sie nicht den Weg über Lampedusa wählen. Sie werden über Häfen und Flughäfen ankommen und sie werden willkommen sein.« Doch dazu bräuchte es eine gleichberechtigte Auseinandersetzung und ein Aufbrechen neokolonialer Strukturen - egal wie einig sich die Länder Afrikas sind.
Haidy Damm arbeitet in Berlin als Redakteurin bei der Tageszeitung neues deutschland sowie als freie Journalistin.
Attraktive Yachthäfen
»Kein europäischer Segler sollte der Meinung sein, Afrika liege außerhalb der Reichweite seines Bootes«, heißt es auf der Seite boot.de über die Reize des Reiseziels Tunesien. »Tunesien liegt genau auf der Achse, die das östliche vom westlichen Mittelmeer trennt, und ist durch die Nähe zu Europa für den Segler das Tor zum afrikanischen Kontinent. Nicht nur die Landschaft, sondern auch die Liegeplätze in den modernen Yachthäfen sowie die vereinfachte Abwicklung der Einklarierung in den Marinas machen Tunesien für den Skipper zu einem attraktiven Ziel. Die Segelsaison ist in Tunesien drei Monate länger als an der europäischen Mittelmeerküste.«
Flüchtlingsstrom? Sozialamt der Welt?
600.000 Menschen stellten 2014 Anträge auf Asyl in Ländern der Europäischen Union (200.000 von ihnen in Deutschland), etwa eine Million könnten es 2015 werden (Deutschland rechnet für dieses Jahr mit 450.000 Asylanträgen). Zum Vergleich: Die Türkei nahm 2014 allein 1,6 Millionen Flüchtlinge auf, Pakistan 1,5 Millionen, der Libanon 1,2 Millionen (Libanon hat ca. 6 Millionen Einwohner_innen), Iran knapp 1 Million, Äthiopien 660.000, Jordanien 650.000. Von den ca. 275.000 Menschen, die illegal in die Europäische Union einreisten, kamen 80 Prozent auf dem Seeweg. Etwa 3.400 Menschen ertranken. Die meisten Menschen, die über das Mittelmeer per Boot nach Europa fliehen, kommen aus Kriegsgebieten oder Diktaturen. Aus Syrien: 85.969 Menschen, Eritrea: 49.215 Menschen, Afghanistan: 36.808 Menschen, Tunesien: 31.162 Menschen, Somalia: 19.618 Menschen, Nigeria: 18.511 Menschen, Palästinensergebiete: 15.280 Menschen (vor allem wegen des Gaza-Krieges 2014), Mali: 14.954 Menschen, Gambia: 12.151 Menschen, Ägypten: 8.802 Menschen. (Zahlen für 2014, Quelle: Frontex)