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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 607 / 18.8.2015

Die Chancen wurden verpasst

Deutschland Die Holocaust-Überlebende Irene Weiss spricht über ihre Aussage beim Auschwitz-Prozess und darüber, was sie von Oskar Gröning hält

Interview: Nina Schulz und Maike Zimmermann

Während der sogenannten Ungarn-Aktion sind Irene Weiss und ihre Familie im Mai 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. (1) Dort wurden ihre Mutter, ihr Vater, eine Schwester und drei Brüder ermordet. Sie war damals 13 Jahre und musste in dem Effektenlager, das von den Häftlingen Kanada genannt wurde, die Habseligkeiten der Ermordeten und Inhaftierten sortieren. Im Januar 1945 wurde sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Serena auf einen Todesmarsch gezwungen, zuerst nach Ravensbrück, dann nach Neustadt-Glewe. Die beiden überlebten als einzige der achtköpfigen Familie. Nach dem Krieg ging sie in die USA. Irene Weiss ist zwei Mal nach Deutschland gekommen, um beim Prozess gegen Oskar Gröning auszusagen. Bei ihrem ersten Erscheinen ist der Angeklagte krank geworden. Ihre Aussage wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und sollte dann verlesen werden. Sie kam dennoch ein zweites Mal und sagte am 1. Juli 2015 in Lüneburg aus. Irene Weiss hat noch nie zuvor vor einem Gericht ausgesagt. Am gleichen Tag sprachen Nina Schulz und Maike Zimmermann mit ihr.

Warum ist es Ihnen so wichtig, bei diesem Prozess auszusagen?

Irene Weiss: Gröning ist ein ehemaliger Nazi, und obwohl er jetzt alt ist, musste er nie für das bezahlen, woran er beteiligt war. Doch dafür ist es noch nicht zu spät. Es gibt fähige Leute, die ihn vor Gericht stellen wollen. Wenn es so viele gute Leute gibt, die das versuchen, kann ich als Überlebende natürlich nicht Nein sagen. Gesucht wurden ungarische jüdische Überlebende, die zwischen Mai und Juni 1944 nach Auschwitz deportiert wurden. In dem Zeitraum war auch der Nazi Gröning dort stationiert. Ich kam nach Deutschland und traf andere Überlebende aus Ungarn. Für uns Überlebende ist es immer etwas Besonderes, sich zu treffen und unsere gemeinsamen Erfahrungen zu hören. Wir müssen dabei nicht ins Detail gehen. Wir verstehen einander.

Sie waren bereits einmal hier, um auszusagen.

Ja. Bei meinem ersten Aufenthalt hatte ich den Eindruck, als ob Gröning den Prozess bestimmt. Wenn er entschied, dass er sich nicht gut fühlte, erschien er nicht vor Gericht. Ich sollte meine Aussage an einem Donnerstag machen. Alle saßen auf ihren Plätzen. Dann ging die Tür auf und es hieß: Er kommt heute nicht, weil er sich nicht gut fühlt. Die Verhandlung wurde unterbrochen und meine Aussage kam nicht zustande. Da nicht abschätzbar war, wann Gröning wieder verhandlungsfähig sei, sollte ich in die USA zurückkehren und dem Gericht meine schriftliche Aussage zusenden. Der Richter würde sie verlesen, wenn der Prozess weitergehe. Also bin ich nach Hause gefahren. Nachdem Gröning wieder gesund war und erneut vor Gericht erscheinen konnte, fragten mich die Anwälte, ob ich noch einmal kommen könnte. Von daher: Hier bin ich. Und wieder wusste ich nicht, ob er heute da sein würde.

Was bedeutet der Prozess für Sie persönlich?

Er findet sehr spät statt. Heute ist Gröning ein alter Mann. Aber auch für die Überlebenden findet der Prozess sehr spät statt. Hätte der Prozess stattgefunden als er jung war, direkt nachdem es passiert ist, hätte er einen ganz anderen Effekt gehabt, wäre anders verlaufen und es hätte viel mehr Zeugen gegeben. Zeugen, die nun gestorben sind. Trotz allem ist es noch nicht zu spät. Ich fühle mich noch sehr lebendig. Und ich habe es erlebt. Hätten sie länger gewartet, wäre es noch schwieriger geworden, es hätte kaum noch persönliche Aussagen gegeben. Es ist wichtig, dass er vor Gericht befragt wird und dabei den Überlebenden ins Gesicht sehen muss. Auch wenn seine Antworten sehr unbefriedigend waren. Nicht nur für die Überlebenden, sondern auch für alle anderen, die mehr über diese Sache wissen wollen. Dabei hat er doch nichts zu verlieren, wenn er einen Einblick gewährt - wie diese Überzeugung zu seiner wurde, warum er ihr gefolgt ist, warum er glaubte, dass genau das notwendig ist, wie er sich gefühlt hat, als er nach Auschwitz versetzt wurde. Hat es ihn belastet zu sehen, wie kleine Kinder ermordet wurden? Für die Menschheit wäre es gut gewesen zu hören, wie so etwas von ganz gewöhnlichen Soldaten und ganz gewöhnlichen Zivilisten ausgeführt werden kann. Zu hören und zu verstehen, wie einfach es für ihn war, daneben zu stehen und zuzusehen, wie Hunderte von Kindern aus jedem Zug mit ihren Müttern in die Gaskammer gingen und erstickten. Wie kann man an so einem Tag ruhig schlafen und am nächsten Morgen wieder aufstehen? Was mich interessiert, ist die Psychologie und die Politiken dieser Gehirnwäsche. Er hätte uns helfen können, das zu verstehen. Er hätte sein Gewissen reinwaschen und dann seinen Gott um Vergebung bitten können.

Gröning hat heute eine Einlassung gemacht. Was halten Sie davon?

Das war leeres Gerede! Er schützt sich. Er sagt jetzt, wo er all die Aussagen gehört habe, verstehe er viel mehr. Dass ihm vorher nicht klar gewesen sei, was für eine Auswirkung die Ermordung von Tausenden unschuldigen Menschen für ihre Familien haben würde. Das versteht er erst jetzt? Das einzig Gute daran ist, dass in den Zeitungen und im Fernsehen darüber berichtet wird. Die Menschen, die zu jener Zeit noch gar nicht geboren waren, werden an diesen Teil der Vergangenheit erinnert, erfahren, wie Regierungen so kriminell werden können und warum rechtschaffene Bürger kriminellen Befehlen folgen, bis hin zum Mord an unschuldigen Zivilisten. Ich würde es begrüßen, wenn diese Auseinandersetzung weitergehen würde, in allen Ländern. Für mich bleibt es weiterhin schwer zu verstehen, wie das alles im christlichen Europa passieren konnte. In einem der fortschrittlichsten Länder Europas in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie konnte die Zivilisation so schnell komplett kollabieren? Gröning hätte einem guten Zweck dienen können, wenn er uns geholfen hätte, all das ein wenig besser zu verstehen. Anstatt zu sagen: Ich war doch nur ein kleines Rad im Getriebe, ich habe nicht realisiert, dass dieses Morden Auswirkungen auf die Menschen hatte - das ist Unsinn! Wovon redet der Mann? Wenn er gesagt hätte: Ich war verzweifelt und wollte da unbedingt weg, ich konnte nachts nicht schlafen und hatte Albträume, in denen ich zusehen musste wie kleine Babys ermordet werden - dann würde ich mich so fühlen, als ob ich ihm vielleicht ein kleines bisschen hätte verzeihen sollen. Aber auf diese Art und Weise? Auf keinen Fall!

Zu Beginn dachte ich, Gröning hätte uns vielleicht etwas Interessantes zu sagen. Aber mir wurde schnell klar, dass die Aussagen der Überlebenden das eigentlich Wichtige an diesem Prozess waren.

Es gibt nur eine einzige kleine Sache, bei der er ein wenig hilfreich ist: Er leugnet nicht, was geschehen ist, was er gesehen hat und er korrigiert Menschen, die den Holocaust abstreiten. Vielen Dank, das ist wirklich nett! Es ist wahr, dass viele Täter gesagt haben: Davon habe ich nichts gewusst, ich war nicht dabei. Sie alle haben es abgestritten. Das Konzentrationslager war einen Ort weiter, aber, nein, ich habe nie etwas davon mitgekriegt. Das war ein ganz typisches Verhalten. Gut, er hat es also eingestanden, dass er da war und gesehen hat, was er gesehen hat. Hier ist ein Nazi, der sagt: Ich habe gesehen, was passiert. Andererseits ist es offensichtlich, dass er dort war. Es gibt Fotos von ihm in Naziuniform. Dennoch zolle ich ihm dafür Anerkennung. Das ist das einzig Gute, was er gemacht hat. Aber er hätte viel mehr tun können.

Noch einmal zurück zu der Frage, wie Zivilisation so plötzlich kollabieren konnte. Möchten Sie wirklich zuhören, wie einer der Täter das erklärt?

Aus seiner Perspektive! Aber sicher! Wie kam er zu seiner Gehirnwäsche? Warum hat er das alles geglaubt? Wie konnte er das glauben? Hatte er vorher jemals einen Juden getroffen? Hat er gedacht, wir sind Untermenschen, weil Hitlers Propaganda ihm das beigebracht hat? Hat er wirklich gedacht, uns zu töten, unsere Kinder, unsere Alten, ist dasselbe wie Tiere zu töten? Als ich 13 Jahre alt und in Auschwitz war, habe ich irgendwann verstanden, dass ich mich in einer abgeschlossenen Welt aus Gesetzlosigkeit und Mord befinde. Am Laufen gehalten von einem Haufen Nazisoldaten. Es gab keine Richter und Gerichte, nur Soldaten in Uniform, die die Macht über Leben und Tod hatten, und sie taten es gern. Da fiel mir auf: Moment mal, ich bin nicht der Untermensch. Ihr, die Mörder, seid die Untermenschen! Mit 13 hatte ich diese feste Überzeugung. Und ich bin stolz darauf. Es hat mir geholfen, meine Menschlichkeit zu bewahren, weil ich mir sicher war, dass ich kein Untermensch war. Die Nazis waren diejenigen, die unmenschliche Dinge getan haben. Wie wird ein junger Mann zu so einem Unmensch?

Was denken Sie, hat Deutschland sich angestrengt, die Nazitäter zu verfolgen?

Direkt nach dem Krieg nicht.

Und jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende?

Diese ganze Sache ist schon unglaublich. Direkt nach dem Krieg hieß das große Problem für Deutschland und den Westen: Kommunismus. Das hat ihr ganzes Nachkriegsdenken bestimmt. Die Täter konnten in ihre Heimatorte und zu ihren Familien zurückkehren. Jeder sagte: Ich habe nichts gemacht. Die Täter teilten ihre Erlebnisse nicht mit ihren Kindern, und ihre Kinder durften keine Fragen stellen, sie bekamen keine Antworten. In erster Linie hat die Regierung nicht danach gestrebt, die Täter strafrechtlich zu verfolgen. Dadurch haben sie eine wirklich große Chance verpasst. Ich finde es wichtig, dass die Gesellschaft dazulernt oder sich weiterentwickelt, damit so etwas nie wieder geschieht. Es gab diesen Moment, in dem die Welt anhand dieses grauenhaften Beispiels hätte lernen können, was man verhindern muss. Und sie haben ihn verpasst. Stattdessen sind die Täter nicht bestraft worden und in ihr ganz normales Leben zurückgekehrt. Es wurde und wird einfach nicht begriffen, was Menschen sich gegenseitig antun können. Diese Bildungsarbeit hat nie stattgefunden. Wenn Deutschland Hunderte von Nazis gleich nach dem Krieg und über Jahre verfolgt hätte, hätte es einen großen Lerneffekt gegeben.

Haben Gerichtsverhandlungen wie diese auch einen politischen Effekt?

Definitiv. Denn die wahre Geschichte, dessen was passiert ist, wird öffentlich gemacht. Und Schuld wird festgestellt.

Was ist Ihnen wichtig, wenn es um die Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen geht?

Warum wurde diese große Lüge geglaubt? Je größer die Lüge, desto mehr Menschen haben sie geglaubt. Wo kam dieser Hass gegen Juden her? In jedem Land waren die Juden wundervolle Mitbürger, aber in Deutschland waren sie besonders gut integriert, haben lebhaft teilgenommen an der Kultur und eine Menge zur Entwicklung beigetragen. Sie gaben ihr Talent, ihr Geld, ihre Mithilfe. Wie kann man diese produktiven Menschen aus ihrem Leben reißen, sie zu Untermenschen machen, sie all ihrer Rechte und am Ende auch ihres Lebens berauben? Darüber sollte Deutschland noch lange nachdenken, über Jahre und Generationen hinweg. Genauso wie der Rest der Welt. Denn das besetzte Europa hat seinen Teil dazu beigetragen. Ist es denn ausschließlich eine Aufgabe für die Überlebenden, darüber nachzudenken, was da mit der Menschheit so fürchterlich schieflaufen konnte?

Denken Sie, es wird schwierig sein, dass die Menschen in Zukunft nicht vergessen, was passiert ist?

Sie meinen, wenn wir nicht mehr da sind?

Ja.

Ich mache mir Sorgen, dass es in Vergessenheit geraten wird. Die Geschichten der Überlebenden, derjenigen, die den Holocaust erlebt haben, die sind wichtig, um die Geschichte lebendig zu halten. Und solange sie es noch können, ist es wichtig, dass Überlebende ihre Geschichten erzählen. Das ist der Grund, warum ich darüber spreche. Weil ich es so verstehe, dass Menschen sich mit den Geschichten derjenigen identifizieren, die da waren. Es sind nur noch sehr wenige von uns übrig. Ich bin jetzt 84 Jahre alt.

Es wird also nichts in Erinnerung bleiben?

Nun gut, es wird Gedenktage geben. Aber es ist sehr schwierig, sich in die Rolle eines Überlebenden hineinzudenken. Es ist einfacher, sechs Kerzen für die sechs Millionen Toten anzuzünden. Das ist, was sie tun, sie zünden immer sechs Kerzen an. Eines Tages werde ich nicht mehr da sein, um eine Kerze anzuzünden. Aber in der Zwischenzeit, fragt mich, was tatsächlich passiert ist, so dass wir alle darüber nachdenken, wie wir es verhindern können, dass so etwas wieder passiert.

Die Aussage von Irene Weiss bei dem Prozess gegen Oskar Gröning kann man online nachlesen unter nebenklage-auschwitz.de.

Anmerkung:

1) Siehe ak 605 bzw. ausführlich »Vor 50 Jahren: Völkermord an Ungarns Juden« von Knut Mellenthin in ak 365 und ak 366.