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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 607 / 18.8.2015

»Wir haben die Nase voll!«

Aktion Die Initiative Romano Jekipe ano Hamburg, die Vereinigten Roma in Hamburg, kämpft für Bleiberecht

Von Nina Kullrich

Als ich einige Roma aus einer Flüchtlingsunterkunft in Hamburg-Farmsen zum ersten Mal treffe, berichten sie von massenhaften Abschiebungen, Diskriminierungen durch Behörden und katastrophalen Bedingungen in den Lagerunterkünften unterschiedlichster Hamburger Stadtteile. Sie erzählen auch von den Ländern, aus denen sie geflohen sind - vor rassistischen Zuständen, die ihnen keinen Zugang zu Arbeitsplätzen, Wohnraum, Bildung oder Gesundheitsversorgung ermöglichen. Aber sie sagen auch, dass sie »die Nase voll haben« und für eine bessere Zukunft kämpfen wollen. Aus diesem Grund haben sie sich zusammengeschlossen in der Initiative Romano Jekipe ano Hamburg (Vereinigte Roma in Hamburg/RJH). (1)

Der Kampf, den sie jetzt führen, ist ungemein schwer. Er richtet sich nicht nur gegen Abschiebemaschinerie und Grenzregime, nicht nur gegen den alltäglichen und institutionellen Rassismus. In einem öffentlichen Diskurs, der sich vor allem um »Wirtschaftsflüchtlinge« und »sichere Herkunftsländer« dreht, führt die Spaltung in »gute« und »schlechte« Geflüchtete dazu, dass ihre Stimmen zum Schweigen gebracht oder gar nicht erst gehört werden. Doch Romano Jekipe ano Hamburg organisieren sich allen Widrigkeiten zum Trotz: Sie mobilisieren in allen Hamburger Unterkünften, vernetzen sich bundesweit, organisieren in wenigen Wochen zahlreiche Proteste, Kundgebungen, Demonstrationen und eine Gedenkveranstaltung.

»Eins, zwei, drei, vier - alle Roma bleiben hier!«

Vielen Roma-Familien in Hamburg droht in diesem Sommer die Abschiebung in für sie keineswegs »sichere« Staaten. Und das, obwohl sie teilweise seit Jahren hier leben. Ihre Duldung, ohnehin kein Aufenthaltstitel, sondern ein Status, der nur die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung bedeutet, erlischt willkürlich, auch wenn Gründe für ihre Erteilung, wie z.B. schwere Krankheit, fortbestehen. Daher tragen die Roma ihren Protest zu Beginn direkt vor die Tür der Hamburger Ausländerbehörde. Früher befand sich diese noch im Bieberhaus am Hamburger Hauptbahnhof, längst ist sie verlegt worden - hinter die Schienen, zwischen Schnellstraßen, fernab vom Blick der Öffentlichkeit. Eine Woche lang versammeln sich hier die Protestierenden jeden Tag, es gibt Redebeiträge, Transparente, Chöre. Kinder malen ein Schild: »Hupen für Bleiberecht«. Die Mitarbeiter_innen der Ausländerbehörde betrachten das Geschehen in ihren Rauchpausen aus sicherer Entfernung. Noch vor Ablauf der angemeldeten Kundgebung mahnt die Polizei, den Protest rechtzeitig zu beenden.

Die Demonstration in Hamburg-Altona zeigt die wachsende Entschlossenheit der Roma: Frauen führen den Protestzug an, Männer strecken ihre Fäuste gen Himmel, Kinder geben den Ton vor bei den Sprechchören. Die Demo beweist zudem eindrucksvoll die Verbindungslinien der politischen Kämpfe - es gibt solidarische Redebeiträge von Geflüchteten der Gruppe Lampedusa in Hamburg, ein Grußwort der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano sowie eine Rede von Peggy Parnass, deren Eltern im Konzentrationslager Treblinka von deutschen Nazis ermordet wurden. Sie beginnt mit einem deutlichen Hinweis auf die gemeinsame Vergangenheit und die historische Verantwortung für die aktuelle Situation von Roma: »Wir werden zur Zeit, Gott sei Dank, nicht mehr abgeschlachtet. Das ist schon ein Fortschritt. Aber diskriminiert, beiseitegeschoben, weggedrängt. Immer noch, immer noch. Das hat Tradition. So darf es aber nicht bleiben!«

In diesem Sinne verstehen Romano ano Jekipe Hamburg auch die Gedenkveranstaltung im ehemaligen KZ Neuengamme, die sie am 2. August u.a. zusammen mit dem Bundes Roma Verband und der alle-bleiben!-Initiative organisierten. 90 von Abschiebung bedrohte Roma und Unterstützende gedachten hier der Ermordung von 3.000 Roma im KZ Auschwitz-Birkenau in der Nacht auf den 3. August 1944 sowie all der Sinti und Roma, die ab 1937 vor allem aus Ost- und Mittelosteuropa nach Neuengamme deportiert wurden.

Der Bundes Roma Verband erinnert daran, dass bereits in den 1980er Jahren Roma und Sinti in Neuengamme demonstrierten: Aus Protest gegen geplante Abschiebungen hatten mehrere hundert Roma am 29. August 1989 das Gelände besetzt, vier Tage später wurde es von der Polizei geräumt. (ak 310 und 311) Als sich am 16. Mai 1993 erneut ein Protestzug von 300 Roma-Familien auf den Weg nach Neuengamme machte, hinderten sie dort 1.400 Polizisten mit Absperrungen und Schlagstöcken am Betreten des Geländes. Einige hundert Familien harrten weiter vor der Gedenkstätte aus - ihnen drohte das Bezirksamt Hamburg-Bergedorf, dies »als Verstoß gegen das deutsche Gesetz über Grün- und Erholungsanlagen zu ahnden«. (2)

Historische Verantwortung

Die Geschichte der Stigmatisierung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der Roma ist lang. Um Ressentiments zu verstehen, ist es wichtig, nach der Mehrheitsgesellschaft zu fragen, die diese produziert. Immer wieder ging und geht es dabei auch um die Vorstellung von »Europa«. Dazu gehören das Römische Recht, das Christentum, die Aufklärung. (3) Am Abstand zu den Roma messen die aufkommenden Nationalstaaten ihre zivilisatorische Entwicklung - die sich letztlich selbst als Entzivilisierung entlarvt. Arbeitsgesellschaft, Nationalstaatlichkeit und Heteronormativität waren und sind wichtige Pfeiler der bürgerlichen Vergesellschaftung. Tabus werden übertragen, es entstehen die Stereotype der »arbeitsscheuen«, »heimatlosen« und »verführenden« Roma. (4) Diese Zuschreibungen machen die Roma unvereinbar mit dem Projekt der Moderne, welches auf Rationalisierung, Normierung, Sozialdisziplin und Kontrolle setzt.

Besonders erschreckend dabei ist, dass das Bild von Roma in der Öffentlichkeit auch nach dem Genozid im Nationalsozialismus keinerlei Umwertung erfahren hat. Aus dem Stereotyp des »arbeitsscheuen Asozialen« wurde nach 1945 der »parasitäre Fürsorgeempfänger«. (5) Nach kapitalistischer Verwertungs(un)logik wird »Integration« gleichzeitig gefordert und verweigert. Viel zu spät, erst 1982, hat die Bundesregierung die Ermordung von Roma im NS offiziell als »rassistisch motiviert« anerkannt. Heute wird den Roma pauschal ein Missbrauch von Asylrecht und Sozialleistungen vorgeworfen - obgleich Diskriminierungen von Roma wie in Serbien und Mazedonien von verschiedenen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen sowie in einem Bericht der EU-Kommissionen zur Visa-Liberalisierung nachgewiesen wurden. Offensichtlich sind tiefverwurzelte Ressentiments wirkungsmächtiger als Bekenntnisse zum Schutz der Menschenrechte.

Auf die Diskussion um das Thema »sichere Herkunftsstaaten« weiß die Online-Zeitung MiGAZIN nur noch mit Ironie zu reagieren. Und schreibt: »Auf die stark zunehmenden Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland haben mehrere Balkan-Länder nun mit einer Gesetzesänderung reagiert: In Serbien, Mazedonien sowie in Bosnien und Herzegowina gilt Deutschland ab sofort nicht mehr als sogenannter sicherer Staat.« (6) Wie sonst soll man Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) begegnen, der behauptet, »Sonderlager« für die Balkanflüchtlinge und damit auch für viele Nachfahren der Opfer des NS-Genozids wären das beste Mittel gegen Rechtsradikalismus? (7) Romano Jekipe ano Hamburg betonen, dass Roma in der aktuellen Debatte auch »indirekt für die Kurzsichtigkeit der Politik verantwortlich gemacht werden sollen, welche wider besseren Wissens nicht rechtzeitig auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen reagiert hat und nun die selbstproduzierten Mängel vertuschen möchte«.

Stattdessen verabschiedete die deutsche Bundesregierung erst im Juni weitere Asylrechtsverschärfungen: Das neue Gesetz steht für eine massive Ausweitung der Abschiebehaft, es erteilt Einreise- und Aufenthaltsverbote, erweitert die Zuständigkeiten der Grenzpolizei und stellt den Schutzinteressen Geflüchteter ganz allgemein ein »Ausweisungsinteresse« des Staates gegenüber. Geflüchtete können demnach in Abschiebehaft genommen werden, wenn sie »Identitätspapiere vernichten«, »unstimmige oder falsche Angaben machen«, zu ihrer »unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge aufwenden« oder »Vorbereitungshandlungen« zur Verhinderung ihrer eigenen Abschiebung treffen.

Die neuen Verschärfungen des Asylrechts

Auch Geflüchtete, deren Antrag abgelehnt wurde, sollen mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot belegt werden können, was bedeutet, dass hier schon die Antragstellung zu einem kriminellen Akt erklärt wird. »Fluchtgefahr« und Bedrohung durch »Terrorismus« werden zur Legitimierung der willkürlichen Inhaftierung und Ausweisung von Geflüchteten genannt. Und wenn Geflüchtete für Bleiberecht oder Arbeitserlaubnisse kämpfen, Protestcamps errichten, in den Hungerstreik treten oder an einer Demonstration teilnehmen, kann daraus ein »Ausweisungsinteresse« begründet werden - und zwar dann, wenn durch ihre Aktivitäten andere Personen davon abgehalten werden, »am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben«. Konkret bedeutet das also nicht nur, dass Menschen, die Schutz suchen, inhaftiert werden können, sondern auch, dass diejenigen, die den Geflüchteten gesellschaftliche Teilhabe verweigern, auch definieren, ob deren Protest dagegen legitim ist.

Auch Romano Jekipe ano Hamburg stellten sich die Frage, welche Konsequenzen ihr offen geführter Protest haben wird. Zudem wird ihre Freude über eine gelungene Aktion immer wieder getrübt durch versuchte und durchgesetzte Abschiebungen ihrer Mitstreitenden. Dennoch oder gerade deswegen versammelten sich Romano Jekipe ano Hamburg am 5. August erneut - dieses Mal am Hamburger Flughafen, um gegen Massenabschiebungen in den Balkan zu protestieren. Das Recht, für ihre Rechte zu kämpfen - sie haben es sich längst genommen.

Nina Kullrich schrieb zuletzt in ak 603 über öffentliche Debatten zu sexualisierter Gewalt in Indien.

Anmerkungen:

1) romas-in hamburg.de, facebook.com/romanojekipe

2) anzi-ziganismus.de/artikel/celem-celem

3) Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2009.

4) arranca.org/ausgabe/41/wer-nicht-arbeitet-soll-nicht-essen

5) Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin 2011.

6) migazin.de/2015/08/05/balkan-laender-deutschland-liste-staaten

7) fluechtlingsrat-bayern.de/keine-sonderlager-fuer-balkanfluechtlinge