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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 607 / 18.8.2015

Eine Frage der Würde

Aktion Die italienische Basisgewerkschaft ADL Cobas führt nicht nur Arbeitskämpfe

Von Sabrina Apicella

Wilde Streiks und Hausbesetzungen gehören eher nicht zum täglichen Geschäft von Gewerkschaften - das denkt zumindest, wer die Basisgewerkschaft ADL Cobas in der italienischen Region Emilia-Romagna nicht kennt.

Schon in den frühen Morgenstunden ist es glühend heiß im betonierten Industriegebiet von Viadana, einem Dorf nahe Modena. Hier reihen sich graue Lagerhallen aneinander, verbunden durch von LKWs befahrene Straßen. Ansonsten ist niemand zu sehen. Es ist der 7. Juli, und vor den Toren des Logistikunternehmens COMPOSAD werden die roten Fahnen der Basisgewerkschaft ADL Cobas in die Höhe gehalten. »Einkommen, Rechte, Würde« steht darauf geschrieben. 27 von 32 Arbeitern haben kurz nach Beginn der Frühschicht die Arbeit niedergelegt, sie blockieren jetzt die Ein- und Ausfahrt. Einige arbeiten hier seit 2008, verpacken Möbelteile und verladen diese auf LKWs. Alle hatten bis vor kurzem unbefristete Verträge bei einem Logistik-Subunternehmen, dem jedoch im Mai der Auftrag entzogen wurde. Nun wurde zwar die gesamte Belegschaft übernommen, doch mit neuen, auf sechs Monate befristeten Verträgen und eingestuft in die niedrigste Gehaltsstufe. Hinzu gekommen ist der Einsatz von Zeitarbeitern, die ein Drittel der Belegschaft ausmachen. Einige von ihnen streiken mit.

Neben der Verschlechterung der Vertragsbedingungen läuft auch sonst einiges schief bei COMPOSAD. Die Beschäftigten schieben über Wochen von Montag bis Sonntag 12- bis 14-Stunden-Schichten. In dieser »Ausnahmesituation« (so die Geschäftsleitung) zeigen die Befristungen Wirkung: Wer nicht spurt, muss mit Entlassung rechnen. Für die Streikenden ist es vor allem der respektlose Umgang im Arbeitsalltag, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat: Drohungen, Rassismus und wachsender Druck. Nur ein Streikender ist Italiener, alle anderen kommen aus Nordindien. Die Umstehenden flüstern Übersetzungen, andere nicken, und alle scheinen genau zu wissen, wovon er spricht. Sie haben sich an die ADL gewendet, um selbst etwas zu verändern.

Wer rebelliert, fliegt

Ähnliches ereignete sich einen Monat später in Cesena, südlich von Bologna, nachdem 28 ADL-Mitgliedern, die bei der Logistik-Kooperative Artoni beschäftigt sind, kurz vor Schichtbeginn mitgeteilt wird, dass es keine Arbeit für sie gäbe. Sie seien für den August zwangsbeurlaubt, selbstverständlich unbezahlt, und werden wahrscheinlich ab September entlassen. Seit 2013 kämpfen die Beschäftigten hier um bessere Arbeitsbedingungen, gegen mangelnden Arbeitsschutz und die anti-gewerkschaftliche Haltung der Arbeitgeberin.

Schon in den letzten Monaten wurden Gewerkschaftsmitglieder gezielt bestraft, indem ihre Arbeitsstunden reduziert wurden - ein übliches Mittel in italienischen Kooperativen, die sich laut Gesetz nicht an Tarifverträge halten müssen. Das führt auch dazu, dass Arbeitgeber_innen bei der Festlegung der Arbeitsstunden quasi frei über die Zeit der Beschäftigten verfügen können. Artoni begründet die Beurlaubung und noch ausstehende Lohnzahlungen mit einer »gravierenden ökonomischen Krise« der Kooperative, stellt jedoch zeitgleich mit der Beurlaubung der ADL-Mitglieder acht neue Arbeiter in Cesena ein und eröffnet einen neuen Standort in Padua. Die Kooperativen nutzen alle Mittel, das Letzte aus den Beschäftigten herauszupressen, so Stefano Rè von der ADL: »Wer rebelliert, wird vor die Tür gesetzt.« Für die Arbeitgeberin seien die Menschen nicht mehr als Maschinen.

Entlassungen und Wiedereinstellungen zu schlechteren Konditionen und lange Werkvertragsketten sind nicht außergewöhnlich für die italienischen Logistik-Kooperativen, deren Prinzip sich anhand der COMPOSAD gut illustrieren lässt. Denn COMPOSAD, die immerhin Aufträge für Großkunden wie IKEA, die schweizerische MIGROS oder JYSK/Dänisches Bettenlager bearbeitet, stellt die Lagerarbeiter_innen nicht direkt ein, sondern vergibt die eigenen Aufträge per Werkvertrag an die Firma ManHandsWork, die wiederum den Auftrag an ein Konsortium namens ALBATROS vergibt, das mit der Kooperative LSA zusammenarbeitet, die letztlich die Mehrheit der Beschäftigten unter Vertrag nimmt. Zusätzlich kommen Zeitarbeiter_innen tage- bis wochenweise von einer externen Zeitarbeitsfirma. Selbst bei langjähriger Arbeit an einem Ort erhalten die Beschäftigten keinen vertraglichen Arbeitsschutz oder garantierte Entlohnung, da sie ständig entlassen und bestenfalls neu eingestellt werden. Gerne werden, wie das Beispiel der Kooperative Artoni zeigt, den Kooperativen mit zu rebellischem Personal die Werkverträge entzogen und »neue« Kooperativen eingesetzt.

»Wer gut arbeitet, wird immer Arbeit finden«, meint die Geschäftsleitung COMPOSAD. Das ist zynisch und wahr zugleich, denn die Logistik- und Transportbranche boomt, obwohl die italienische Wirtschaft angeschlagen ist infolge von jahrzehntelang anhaltender Deindustrialisierung, den Krisenjahren und harschen Austeritätsmaßnahmen. Neben den weltweit erfolgreichen Logistikern wie GLS existieren vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, mit der Rechtsform Kooperative. Die Po-Region in Norditalien ist so zu einem bedeutenden Umschlagplatz von Waren geworden, die in alle Himmelsrichtungen verfrachtet werden. Gekennzeichnet ist die Branche durch eine hohe Prekarität der überwiegend migrantischen Arbeiter_innen sowie vor allem seit 2011 durch intensive Arbeitskämpfe und wilde Streiks.

Diesen Streiks sowie sicheren Arbeitsverhältnissen im Allgemeinen legt Premier Matteo Renzi (Partito Democratico) mit seinem Reformpaket Jobs Act weitere Steine in den Weg. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine neoliberale Umstrukturierung des Arbeitsrechts und der zuständigen Institutionen. Vor allem wegen der Lockerung des Kündigungsschutzes, festgelegt im Artikel 18 des bisherigen Arbeitsschutzgesetzes, kam es in den letzten Monaten zu Protesten der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen: Artikel 18 erschwerte unbegründete Kündigungen und gilt deswegen als eine der wichtigsten Errungenschaften der Arbeitskämpfe der 1970er Jahre. Ab sofort verpflichten ungerechtfertigte Kündigungen (etwa von gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten) nicht länger zur Wiedereinstellung.

Doch auch andere Neuerungen im Zuge des Jobs Act lassen Böses ahnen: So ist beispielsweise die Überwachung am Arbeitsplatz auch ohne das Einverständnis der zuständigen Gewerkschaften gesetzlich legitimiert worden. Für September sieht die Regierung außerdem eine Debatte zur Veränderung des Streikrechts vor, um Blockaden von Transportwegen und wilde Streiks kleinerer Gewerkschaften zu verbieten.

Den Streik in die Stadt tragen

Die Jahre der wilden Logistikstreiks der überwiegend männlichen, jungen und relativ hoch qualifizierten Arbeiter_innen zusammen mit den Aktivist_innen der ADL, oftmals selbst junge prekär Beschäftigte, haben das Selbstbewusstsein aller Beteiligten gestärkt. In den Streiks, mit gemeinsam erlebten Repressionen, aber auch Erfolgen, sind enge Verbindungen entstanden, freundschaftlich und im praktischen Sinne solidarisch. Dabei hat sich gezeigt, dass sich Arbeitsbedingungen, Bürgerrechte und das Bedürfnis nach menschenwürdigem Wohnraum nicht trennen lassen. Die Streiks wurden daher auf die Stadt ausgedehnt.

Schon im November 2013 wurde ein Teil des sozialen Zentrums Làbas in Bologna zu Wohnzwecken instandbesetzt. »Im Mai 2014 haben wir begonnen, zusammen mit Expert_innen und Anwält_innen in wohnrechtlichen Fragen wie Mietverträgen, Zwangsräumungen und Besetzungen zu schulen. Wenig später konnten wir unsere Beratungsstelle eröffnen«, erzählt Cecilia Muraro, die im Làbas wohnt und mitverantwortlich ist für die gut besuchte Wohnungsberatung der ADL. Schnell wurde deutlich, dass der akuten Wohnungsnot in Bologna nur durch weitere Besetzungen begegnet werden kann, um zumindest jenen, die sich an die ADL wenden, Wohnraum zu garantieren.

So kam es zu der Entscheidung, im Oktober 2014 ein leerstehendes Haus in der Via Aldini 116 in relativ zentraler Lage in Bologna zu besetzen, die Villa Adelante. Eigentümer ist Gianluca Muratori (CIPEA Holding), gegen den wegen Betrug, Steuerhinterziehung und Korruption gerichtliche Verfahren laufen. Muratori ließ das Haus leer stehen, spekulierte auf Wertzunahme - und 25 Besetzer_innen nahmen es sich. Zu ihnen gehören zwei Rentner, einer krank und zwangsgeräumt, der andere mit bloß 400 Euro Rente; eine junge rumänische Familie, die mit ihrer im April 2015 geborenen Tochter ein besseres Leben in Italien sucht; ein marokkanischer Arbeiter, der seit einem Jahr seinen Lohn nicht ausbezahlt bekommt; Geflüchtete, die weite Wege zurück gelegt haben; junge Prekäre ohne berufliche Perspektive nach dem Studium; Studierende, deren Eltern schon Mühe haben, die jährlichen Studiengebühren von 1.600 Euro aufzubringen. Zusammen haben sie neun Monate in der Villa Adelante gelebt. »Wir sind es, die in Krisenzeiten das Soziale leben, Wohlfahrtsstaatlichkeit von unten organisieren, entgegen der Sparpolitik«, sagt Alessandro Blasi, Besetzer und Gewerkschafter der ADL.

Bologna: militärische Lösungen

Doch die Besetzungen stehen nun im traditionell linken Bologna unter Beschuss. Unter dem neuen Polizeipräsidenten setzen sich zunehmend militärische Lösungen durch: Fast wöchentlich wird polizeilich geräumt, neuerdings werden den Besetzter_innen Gas, Wasser und Strom abgeklemmt. Auch die Villa Adelante wurde im Juni geräumt. So steht die ADL vor der Frage, ob es auch in Zukunft in Bologna noch möglich sein wird, Häuser zu besetzen, und wie man Stadtverwaltung und Kommunalregierung gegenübertreten soll.

Die Beschäftigten der COMPOSAD in Viadana konnten die Verhandlungen mit ihrer Geschäftsführung erfolgreich abschließen und erreichten mit fünf Stunden Streik nicht nur eine Entfristung aller Beschäftigten einschließlich der Zeitarbeiter_innen, sondern auch den Kündigungsschutz nach Artikel 18, eine Anpassung ihrer Gehaltsstufe, wodurch sie zwischen 280 und 350 Euro mehr im Monat verdienen sowie die Einhaltung des Tarifvertrags der Logistikbranche. Eine Garantie zur Übernahme im Falle der Neuvergabe des Werkvertrags wollte die COMPOSAD jedoch nicht geben. Dennoch wird der Erfolg in Viadana sicher auch auf die umliegenden Hallen ausstrahlen, in denen die ersten Beschäftigten Kontakt zur ADL aufgenommen haben.

Sabrina Apicella lebte von Mai bis August 2015 in Bologna und beobachtete dort und in der Region Emilia Romagna die Arbeit der ADL Cobas.

Die ADL Cobas

Die Associazione Diritti Lavoratori/Comitati di Base entstand vor allem im Nordosten Italiens und ist seit der Gründung 1992 eng mit den Sozialen Zentren in dieser Region verbunden. Als politische Basisgewerkschaft arbeitet sie nicht branchengebunden, ist jedoch vorwiegend im Logistikbereich aktiv. Dabei setzt sie auf die Eigeninitiative der Beschäftigten und erreicht vor allem Migrant_innen und Prekäre. Sie grenzt sich damit explizit von der Tradition großer Gewerkschaften ab. Ausgehend vom Ansatz des sozialen Streiks definiert die Gewerkschaft den eigenen Handlungsradius als über den Bereich Arbeitskampf hinaus reichend bis hin zu Fragen von Wohnraum und Bürgerrechten.