Zeit der Zäune
Über das Meer Der Sommer produziert die Bilder für die Machtverhältnisse am Mittelmeer
Von Jan Ole Arps
Die verräterischen Bilder. Am 11. August gingen griechische Sicherheitskräfte auf der Insel Kos mit Feuerlöschern und Schlagstöcken gegen 1.500 Flüchtlinge vor, die an Straßen und Stränden campiert hatten und nun vor einem Fußballstadion auf die Registrierung warteten. In der Menge war es zum Streit gekommen, die Situation eskalierte, wenig später war die Szene in weißen Nebel getaucht. Tags zuvor war am selben Ort bereits ein Polizist fotografiert worden, der einen Wartenden geohrfeigt und mit dem Messer bedroht hatte.
Schon seit Wochen zirkulieren Bilder, auf denen Strandurlauber_innen auf Kos oder Chios dabei zuschauen, wie sich Menschen in Rettungswesten aus dem Wasser schleppen. Insbesondere die Inseln Lesbos, Kos, Chios und Samos, die nur wenige Kilometer vor der türkischen Küste liegen, sind im Laufe des Sommers zum Ziel von Flüchtenden vor allem aus Syrien und Afghanistan geworden. Mehr als 90.000 kamen laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bis Ende Juli an den griechischen Außengrenzen an, während die europäische Grenzschutzagentur Frontex sogar 130.000 Menschen zählt, 50.000 von ihnen allein im Juli - so viele wie im gesamten Jahr 2014.
Der Grund für den Anstieg ist nicht nur die bessere Erreichbarkeit der griechischen Küste für Menschen, die aus dem syrischen Bürgerkrieg fliehen und von denen sich mehr als eine Million in der Türkei aufhalten. Die Route ist auch weit weniger gefährlich als die über Libyen und das zentrale Mittelmeer. Außerdem kann die Dublin-Verordnung in Griechenland nicht angewandt werden, d.h. Migrant_innen können nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht nach Griechenland zurückgeschickt werden, weil die Aufnahmebedingungen zu schlecht sind.
Da die Situation im krisengeschüttelten Griechenland alles andere als erträglich ist, ziehen die meisten der Ankommenden nach Norden. Entweder sie versuchen, über Bulgarien nach Ungarn zu gelangen. Oder sie nehmen die Route über Mazedonien und Serbien. Die EU nutzt diese beiden Länder, die nicht zur Union gehören, als Pufferstaaten, die Migrant_innen abfangen sollen.
In dem Maße, wie das Dublin-System zerfällt, beginnen die Mitgliedstaaten wieder, Mauern und Zäune zu errichten. Die ungarische Regierung hat mit dem Bau eines Zauns entlang der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien begonnen. Bulgarien will einen mehr als 200 Kilometer langen Zaun an der Grenze zur Türkei errichten. Griechenland hat bereits seit 2012 einen Zaun entlang der kurzen Landgrenze zur Türkei. Und sogar Großbritannien baut am Eurotunnel im französischen Calais, um den Flüchtenden die Passage durch den Tunnel zu erschweren. Die riesigen, sieben Meter hohen, stacheldrahtbewehrten Zäune, die die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko umschließen, sind ohnehin längst Symbole der festungsartigen Abschottung Europas.
Währenddessen zieht es Jahr für Jahr Millionen Europäer_innen an die »Traumstrände Marokkos« (Thomas Cook), in die »faszinierenden Wüstenlandschaften« Tunesiens (dein-reiseportal.de), nach Ägypten, das »Urlaubsparadies am Roten Meer« (dertour.de), und in die Türkei. Sie nutzen oft dieselben Routen (in umgekehrter Richtung), auf denen die Migrant_innen unterwegs sind. Nur zahlen sie nicht mehrere Tausend Euro für lebensgefährliche Plätze auf überfüllten Schlauchbooten, sondern können für wenig Geld eine Fähre oder ein Flugzeug besteigen. Im Sommer, wenn sich die Wege der Flüchtenden und der Urlauber_innen kreuzen, zeigt sich das brutale Machtverhältnis am Mittelmeer in aller Deutlichkeit. Es teilt die Menschen in wertvolle (Norden) und wertlose (Süden) Mitglieder der Weltbevölkerung - mit der EU in der Rolle der Ratingagentur.
Die Situation an Griechenlands Außengrenzen macht aber auch deutlich, wie der Wert eines griechischen Menschenlebens in den letzten Jahren quasi herabgestuft wurde: Als Euro-Menschen zweiter Klasse, zu denen sie die deutsch-europäische Politik gemacht hat, sollen sie die Aufseher_innen über noch weniger wertvolle menschliche Lebewesen spielen. Die Bilder nordeuropäischer Urlauber_innen, prügelnder griechischer Sicherheitskräfte und ausgelaugter syrischer Wartender auf Kos zeigen, dass dieses System des abgestuften menschlichen Lebenswerts funktioniert.