Etwas Besseres als die EU
Diskussion Ein Streitgespräch über das Scheitern von SYRIZA, Chancen für ein OXI in Europa und die Frage nach einem »linken Grexit«
Interview: Jan Ole Arps und Sebastian Friedrich
Die Ereignisse überschlugen sich im Juli. In Griechenland stimmte am 5. Juli eine große Mehrheit gegen den Sparkurs der Gläubiger. Eine Woche später stimmte in Brüssel der griechische Regierungschef Alexis Tsipras den Reformplänen der Euro-Länder zu. Für die europäische Linke war dies ein Tag der Niederlage. Seitdem hat die Diskussion um politische Spielräume, Transformationsmöglichkeiten, die Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs oder eines linken Grexits an Fahrt aufgenommen. Wir diskutierten mit Mia (aktiv bei der Interventionistischen Linken und Teilnehmerin der Reisegruppe Blockupy goes Athens), Thomas Sablowski (Referent für politische Ökonomie der Globalisierung des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und aktiv bei Blockupy), Alp Kayserilioglu und Jan Ronahi (Aktivisten und Redakteure beim Lower Class Magazine) und Margarita Tsomou (Mitherausgeberin des Missy Magazines, Kulturarbeiterin und Aktivistin zwischen Deutschland und Griechenland).
Nach den Ereignissen der letzten Wochen: Wie würdet ihr die Situation der Linken in Europa zusammenfassen?
Margarita Tsomou: Der 13. Juli war eine historische Niederlage. Mit der Kraft der besseren Argumente ist der Kampf gegen die Interessen der EU-Staaten und vor allem Deutschlands nicht zu gewinnen. Zugeständnisse - aller Art, sogar selbstverständliche wie Arbeitsrechte - können nur erkämpft werden. Dass die EU für Demokratie, Menschenrechte und soziale Werte stehen würde, ist eine Illusion, die die Linke überdenken muss. Zudem bildet der Euro wie jede Währung in sich das neoliberale Klassenverhältnis ab, das der EU innewohnt.
Thomas Sablowski: Die Linke ist auf europäischer Ebene kaum handlungsfähig. Das hängt damit zusammen, dass für einen großen Teil der Linken die Ebene der Europapolitik kaum eine Rolle spielt und dass sie in ihrer Haltung zur EU und zur Eurozone außerdem gespalten ist: Die einen wollen die EU sozial und demokratisch umgestalten, andere halten sie für unreformierbar und wollen aus ihr austreten. Die Linke muss sich von der Illusion verabschieden, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen der Europäischen Währungsunion auf nationaler Ebene noch eine autonome Fiskalpolitik und allgemeiner gesagt Demokratie gibt. Aber die Linke muss sich auch von kosmopolitischen Theorien verabschieden, die die ungleiche Entwicklung einzelner Nationalstaaten und Regionen in der EU ignorieren.
Mia: Die Situation der Linken in Europa ist trotz allem viel besser als noch vor einigen Jahren. Das Unsichtbare Komitee hat das schön formuliert, als sie schrieben, wer vor zehn Jahren einen Aufstand vorher gesagt hätte, hätte sich lächerlich gemacht. Natürlich müssen wir auch unsere eigenen Politiken radikal überdenken - dafür sollten wir aber die europäischen Kampferfahrungen der Siege und Niederlagen nutzen, die wir erleben. Wir haben auch gelernt, dass es eine dynamische, konflikthafte und organische Wechselspannung zwischen und in sozialen Bewegungen und progressiven Parteien geben kann, die neue Spielräume eröffnet - und andere verschließt!
Margarita: Mein Eindruck ist, dass für uns alle mehr oder weniger implizit der radikalste denkbare Möglichkeitshorizont tatsächlich die linke Regierungsübernahme des Staates war. Jetzt, wo die Grenzen davon vorgeführt werden, sind wir ratlos.
Jan Ronahi: Ein Teil der hiesigen Linken verband mit SYRIZA wahlweise die Hoffnung auf den »Beginn eines europäischen Frühlings« (IL) oder »Chancen für einen demokratischen Aufbruch und einen grundlegenden Richtungswechsel der Europäischen Union« (Europäische Linke). Die Strategie dieser Strömungen war das bewegungspolitische Begleiten linker Regierungen bzw. die Regierungsübernahme selbst. Schockiert von der aktuellen Entwicklung kann nur sein, wer von Beginn an nicht richtig hingesehen hat. Wir waren keine Gegner der Regierungsübernahme SYRIZAs, waren aufgrund der parteiinternen Hegemonie des rechten Flügels um den Synaspismos und der für uns schon damals schwierigen Position zum Verbleib in EU und Euro aber skeptisch. Illusionen sind daher jenen vorzuwerfen, die genau die problematischen Aspekte der SYRIZA-Programmatik übersehen bzw. unter den Teppich gekehrt haben, obwohl insbesondere der linke Parteiflügel die Lammfrömmigkeit in Bezug zu EU und Euro immer wieder kritisiert hat. Im Gegenteil wurden unter Auslassung sämtlicher innerlinker kritischer Stimmen aus Griechenland auch hierzulande Positionen stark gemacht, die der unter deutscher Hegemonie stehenden EU tatsächlich ein irgendwie »progressives«, »transnationales« Potenzial abgewinnen können. Die Protagonisten dieser Position, die sich von der IL, über die Partei DIE LINKE bis zu ...ums Ganze! finden, wollen sich ein Jenseits der EU offenkundig nicht mehr vorstellen und diffamieren mögliche Alternativkonzepte als nationalistisch oder als »Elendssozialismus«.
Mia: Wir kommen mit solchen Vereindeutigungen und Projektionen nicht so richtig weit. Wenn wir das neoliberale Korsett sprengen wollen, können wir das nicht von außen tun - und ebenso wenig aus seiner eigenen Logik heraus, klar. Gerade deshalb bleibt der immer etwas eitle Rekurs auf Revolution vs. Reform am Ende eine Pose. Unsere kollektive Frage, auch bei Blockupy goes Athens, ist doch nicht, wie wir die EU etwas netter gestalten können, sondern wie die realen Bedingungen für einen wirklichen Bruch mit dem herrschenden Regime zu verbessern sind. Und es verweisen auch die »kritischen Stimmen aus Griechenland« darauf, dass wir auf gesellschaftliche und soziale Prozesse angewiesen sind, die wir stärken und organisieren müssen. Diese sind es, mit denen wir die Hoffnung auf einen Aufbruch verbinden - schon lange vor dem Wahlsieg von SYRIZA. Die »konsequente Arbeit an einer sozialistischen Perspektive«, von der ihr sprecht, ist doch kein Parteiprogramm. Sie kann nicht aufoktroyiert werden, und sie würde, wenn sie überzeugen will, unter anderem erfordern, »etwas Besseres als die Nation« anzuvisieren.
Alp Kayserilioglu: Eine Vereinfachung und Projektion ist es, anzunehmen, dass eine sozialistische Perspektive und ein Parteiprogramm von oben aufoktroyiert werden. Eine Vereinfachung und Projektion ist es auch, völlig unabhängig von realen Machtverhältnissen von »etwas Besserem als der Nation« zu reden. Na klar, im Ernstfall sind auch wir für ein sozialistisches Sonnensystem, nur lässt sich das derzeit schlecht realisieren. Völliges Unverständnis haben wir dafür, dass immer noch um den heißen Brei herumgeredet wird, dass man sich immer noch fragt, wie man aus dem »neoliberalen Korsett« rauskommt, oder mit dieser Scheindialektik des ewigen »einerseits, andererseits«. Aus der Niederlage von SYRIZA sowie den Kräfteverhältnissen und Potenzialen, die sich im Laufe der letzten Monate gezeigt respektive herauskristallisiert haben, müssen Lehren gezogen und konkrete Perspektiven formuliert werden, statt mit irgendwelchen Begriffsspielchen davon abzulenken.
Margarita: Es ist eine verkürzte These, die hierzulande große Popularität genießt, der Kritik gegenüber der EU Nationalismus vorzuwerfen. Die EU hat den nationalen Rahmen nie verlassen, und im Moment ist es die Eurokrise, die Nationalismen von rechts produziert. Je mehr wir die EU kritisieren und ihre Institutionen angreifen, desto mehr können wir anknüpfen an den richtigen Beobachtungen der Menschen von unten, die nicht blöd sind und sehen, dass die EU ein neoliberales Projekt von oben ist. Mit ihnen sollten wir an einer Perspektive für neue transnationale Bündnisse bauen - statt sie der Goldenen Morgenröte zu überlassen.
Margarita, trotz verschärfter Widersprüche im Anti-Austeritäts-Lager nach dem Referendum ist SYRIZA bisher nicht auseinander gebrochen. Wie schätzt du diese Konflikte ein, welche Perspektiven siehst du?
Margarita: Die Spaltung betrifft Partei wie Bewegungen. Es ist nicht verwunderlich: Der gesamte Rahmen der Kämpfe der letzten Jahre waren die Kämpfe gegen die Memoranden. So viele Jahre sagen wir, dass Austerität nicht aus der Krise führt, dass die Memoranden kolonialistische Strukturen einführen etc. Wir müssten schizophren sein, um auf einmal das Gegenteil zu behaupten. Schweren Herzens akzeptiert man, dass das Memorandum nun notgedrungen zunächst angenommen werden muss, um Liquidität in die Banken zu bekommen. Aber große Teile von SYRIZA suchen einen Plan, um sich vom Memorandum so schnell wie möglich zu lösen, nicht nur die linke Plattform. Auch die Gruppe der 53+ führender Parteimitglieder, die SYRIZA-Jugend, die auch gegen die Abstimmung mobilisiert hat, die 17 Mitglieder des ZK, die neulich das Gremium verlassen haben, die Basisbewegungen von Solidarity4all, die Gruppe für Menschenrechte und LGBT in SYRIZA, die Aktivistinnen von Dyktio. In unzähligen linken Web-Plattformen wird darüber diskutiert, wie man das Memorandum unterwandern kann. Dennoch will man die linke Regierung stützen. Die voraussichtliche Spaltung wird uns alle schwächen.
Was die Bewegungen angeht, besteht bei einem von SYRIZA durchgesetzten Memorandum die Gefahr, dass dadurch die Kämpfe geschwächt werden - SYRIZA könnte also der Angriff gelingen, den das Establishment seit zwei Jahren nicht schafft. Denn niemand mobilisiert gern gegen diese Regierung. Tsipras hat den Stiefel Schäubles im Nacken und ist von der EZB abhängig. Ich sehe den Spielraum nicht, von dem so viele reden, und auch nicht, dass SYRIZA so der Stachel in Europa ist.
Die einzige Perspektive gerade sind die selbstorganisierten Strukturen von unten, die entstanden sind. In ihnen organisieren sich viel mehr Menschen als in der Linken. Wir sollten diese Strukturen als Formen der politischen Organisierung ernst nehmen. SYRIZA müsste einen Plan machen, mit diesen Kräften eine produktive wirtschaftliche Basis aufzubauen. Diese Netzwerke könnten der Hebel sein, mit dem sich Griechenland vom Memorandum entkoppelt und autonomer wird.
Du warst in den Wochen rund um das Referendum in Griechenland, kennst aber auch die Diskussionen in der Linken in Deutschland. Was fällt dir auf, wenn du die Gespräche vergleichst?
Margarita: Das Auffälligste ist, dass es hier eine viel größere Treue zur Führungsspitze der Partei gibt als in Griechenland. Das kann ich von deutscher Seite nachvollziehen, weil Tsipras als Gegner von Schäuble gesehen wird. Dabei wird aber völlig verkannt, was das dritte Memorandum für die Bevölkerung bedeutet. In Griechenland ist man da viel kritischer und differenzierter. Die Griechen schätzen Tsipras' Kampf gegen die Troika. Aber wenn er keine Spielräume mehr hat, muss man von unten schieben, und das heißt auch kritisieren, um die notwendigen neuen Strategien zu finden. In der griechischen Bevölkerung gibt es viele, die Widerstand gegen das Memorandum fordern. Aber die deutsche Linke schaut nur auf die Führungsebene von SYRIZA, als wäre das einzige politische Subjekt die Partei. Die Stimmen der Bewegungen werden momentan eher ausgeblendet.
Mia: Wir haben versucht, jenen griechischen Diskurs abzubilden. Viele sagen dort, dass ein Aufbruch, in welche Richtung auch immer, nicht als Parteiprogramm funktioniert. Denn das hieße ja wieder, dass die Partei den revolutionären Anstoß geben müsse, den Bruch erzeugen! Davon, wie eine solche Dynamik im Angesicht der existenziellen Bedrohung herzustellen ist, haben wir hierzulande leider ganz offensichtlich noch sehr wenig verstanden.
Thomas: Wir sollten die Bedeutung der Parteien nicht klein reden. Es hängt sehr viel von ihnen ab. In Griechenland gibt es mehrere linke Parteien, aber nur eine hat es geschafft, eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Das war eine enorme Leistung von SYRIZA, und die Gründe für diesen Erfolg wurden in der deutschen Linken kaum analysiert. Jetzt ist diese Partei dabei, sich selbst zu zerstören, weil sie keine ausreichende Strategie für die Regierung hatte. Angesichts dessen einfach mit den Achseln zu zucken und darauf zu setzen, dass in der Gesellschaft neue revolutionäre Kräfte entstehen, ist sehr blauäugig. Was auch immer SYRIZA und die Regierung tun, es wird sich entscheidend auf die Gesellschaft auswirken.
Margarita: Ganz genau. Weil das Projekt der Partei für die weitere Entwicklung im Guten wie im Schlechten so entscheidend ist, gilt es, es herauszufordern und zu fragen, welche Art von Parteienstrategie nötig ist, um sich gemeinsam mit den politischen Akteuren an der Basis von der Unterwerfung unter das Schuldenregime zu befreien.
Alp: Es geht nicht darum, dass eine linke Partei aus dem Nichts den »revolutionären Bruch« erzeugen soll; sie kann und muss es aber tun unter günstigen Umständen, wo die Hegemonie auseinanderbricht und die Lohnabhängigen selbst aktiv auf der Straße und überall sonst intervenieren, wo also eine revolutionäre Situation besteht. Wir haben aber auch nirgends für eine sozialistische Revolution in Griechenland optiert - dafür gibt es die Situation nicht -, sondern für einen linken Grexit, und für den wären die Umstände so günstig gewesen, wie eben Umstände gegen einen übermächtigen Feind überhaupt günstig sein können. Nämlich dann, wenn die Bevölkerung massenhaft mobilisiert resp. für Mobilisierung sehr offen ist, wie das im Vorfeld des Referendums der Fall war, und das OXI im Sinne der Einleitung einer linken Umwälzung genutzt hätte werden können.
Jan und Alp, ihr fordert einen »linken Grexit«. Was soll das sein - und wieso findet ihr es eigentlich sinnvoll, den von Deutschland aus zu »fordern«?
Alp: Manchmal fragen wir uns eher, wer auf die Idee kommt, es sei sinnvoll, aus Deutschland zu »fordern«, dass sich die Griechen mit den gegebenen Umständen abfinden und das Troika-Diktat akzeptieren sollten. Grundsätzlich formulieren wir für Bewegungen in anderen Ländern schon mal gar nichts, sondern wir bringen Standpunkte in die Debatte. Zentral für uns ist die Einschätzung, dass insbesondere Deutschland zum Hegemon in Europa aufsteigen konnte und nun die EU-Politik maßgeblich bestimmt. Es tut sich hierbei ein ganz klares hierarchisches Gefälle innerhalb der EU zwischen imperialistischen Zentren und imperialistischer Peripherie auf. Praktisch wurde uns das ganz schön hart nach sechs Monaten SYRIZA-Regierung vorgeführt: Absolut nichts wurde verändert, der neoliberale Ausbeutungskurs sogar verschärft. Also müssen wir uns fragen: Wie lässt sich für das griechische Volk und die Werktätigen etwas erkämpfen gegen das stahlharte EU-Gehäuse für Demokratie- und Sozialabbau? Ein linker Grexit, d.h. ein von Staatsintervention und Massenmobilisierung zum Zweck der Umfunktionierung der Ökonomie begleiteter Austritt aus der Eurozone und EU zur Schwächung des deutschen Imperialismus und der Entwicklung einer sozialistischen Perspektive, wäre eine solche Möglichkeit.
Gegen die Forderung nach einem »linken Grexit« gibt es vor allem zwei Einwände: Erstens würde ein »Ausstieg« aus dem Euro zu einem unmittelbaren massiven Verelendungsschub führen. Zweitens will die übergroße Mehrheit in Griechenland gar keinen Grexit. Die Forderung nach einem Grexit suggeriert vor allem eine radikale Antwort, ohne die Verhältnisse (Kapital/Arbeit, Profitlogik etc.) antasten zu können.
Jan: Sicher wäre die Situation nach einem unmittelbar eingeleiteten Grexit schwierig, da gibt es wenig zu beschönigen. An den vorgebrachten Argumenten stört uns jedoch zweierlei: Zum einen ist das Elend jetzt schon da, und in den nächsten Jahren unter einem fortgesetzten Troika-Diktat wird es noch schlechter werden. Die Troika hat nun - unter SYRIZA! - ein halbkoloniales Regime zur Ausplünderung installiert. Wir haben bereits jetzt krasse Versorgungsengpässe, gerade für das untere Drittel der Bevölkerung, z.B. in der Gesundheitsversorgung. Aber auch das, was sich bei uns Sozialstaat nennt, ist nahezu nicht mehr existent. Was wir also diskutieren wollen, ist ein Ende mit Schrecken, statt eines Schreckens ohne Ende. Zum anderen werden Alternativen zum Projekt EU mit diesen Argumenten polemisch bereits vor einer ernsthaften Diskussion entsorgt. Es gäbe durchaus handelspolitische Alternativen, z.B. eine Anbindung an die BRICS und einen Austausch mit Venezuela oder Kuba, um die Abhängigkeit von westlichen Importen zu reduzieren. Zumindest wäre im Rahmen eines Grexit das möglich, was im Rahmen der EU unmöglich ist: die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien und Banken sowie eine Mobilisierung der industriellen und landwirtschaftlichen Kapazitäten, ein radikaler Schuldenschnitt und damit eine reale sozialistische Perspektive. Auch der zweite Einwand ist polemisch. Zum einen macht eine politische Bewegung ihre Agenda nicht zwangsläufig an Politbarometern fest. Das wäre nämlich das, was landläufig als Opportunismus bezeichnet wird. Vielmehr geht es darum, strategische Szenarien zu entwerfen, in deren Rahmen die eigene Agenda unter Kalkulation möglicher Widerstände umgesetzt werden kann. Bezogen auf die Situation in Griechenland hätte SYRIZA im Vorfeld eine Strategie ausarbeiten müssen, wie trotz ihres Wahlversprechens, in der EU zu verbleiben, eine Grexit-Option der Bevölkerung vermittelbar gewesen wäre. Eine Kapitulation vor den objektiven Bedingungen mit dem Argument der mangelnden »Mehrheitsfähigkeit« vom Tisch zu wischen und - mit Verweis, es gebe keine Alternativen - eine Art T.I.N.A.-Politik (»There is no alternative«)zu formulieren, ist in jedem Fall zynisch, resignativ und läuft immer auf Systemverwaltung hinaus.
Margarita: Der Grexit kann als allein technisches Projekt nicht gelingen. Es braucht ein politisches Projekt, das langsam die produktive Basis aufbaut und damit Gesellschaft in neuen öffentlichen Institutionen organisiert. Die Importabhängigkeit hängt mit den EU-Verträgen zusammen. Es gibt Wasserenergie in Griechenland, die nicht angezapft wird, weil Verträge unterschrieben worden sind, die das verunmöglichen. Der Grexit könnte als Anlass genutzt werden für eine produktive Reorganisierung. Außerdem: Ist erst das ganze Staatseigentum verkauft, wird der Grexit noch viel schwerer vorstellbar. Dann wird Griechenland für immer für transnationales Kapital Protektorat bleiben. Ich fordere den Grexit nicht - seine Folgen sind momentan unabsehbar, aber ich fordere eine ernsthafte Diskussion um Alternativen, die nicht gleich abgewunken wird. Die einzige Mehrheit, von der wir wissen, dass sie sicher für den Euro ist, ist das Ja-Lager von 38 Prozent. Vom OXI-Lager wissen wir, dass OXI auf einem widersprüchlichen und unklaren Ticket gewählt wurde, aber obwohl OXI potenziell einen Grexit und den ökonomischen Totalausfall bedeutete. Das heißt nicht, dass sie für einen Grexit sind, aber man denkt darüber nach, überall hört man Diskussionen darüber. Die Bevölkerung ist nicht »rückständiger« als SYRIZA - im Gegenteil.
Mia, auf dem Blockupy goes Athens-Blog spracht ihr euch gegen ein solches Szenario aus. Das Grexit-Szenario visiere die Möglichkeit eines »Sozialismus in einem Land« an und bleibe dem leninistischen Erbe verhaftet, linkes Regieren »per Notverordnung« sei aber nicht möglich. Wo siehst du Alternativen?
Mia: Da spielt ihr uns Zitate zu, die nicht von uns als Blockupy goes Athens sind. Wir haben nichts gegen Lenin und sprachen auch nicht vom drohenden »Sozialismus in einem Land«. Uns interessieren die gesellschaftlichen Voraussetzungen linker Möglichkeiten. Wahr bleibt daher, was unser Freund und Genosse Yannis Albanis, Aktivist im Diktyo und im ZK von SYRIZA, neulich sagte: »Vor allem aber erlitt die Vorstellung eine Niederlage, dass es einfache Lösungen gäbe, die wir entweder in Brüssel oder in Moskau oder in Peking finden würden.« Ein plötzlicher Euroaustritt würde weder notwendig Deutschland schwächen noch den Spielraum einer linken Regierung unbedingt vergrößern, wenn dieser Schritt zudem gegen die Hälfte des Landes durchgesetzt würde. Ich würde mich mit der Frage nach alternativen Strategien daher an unsere Gesprächspartnerinnen und -partner vor Ort halten.
Das klingt nach wenig. Aber eine wirkliche Lehre aus dem Referendum ist, dass man der herrschenden Klasse Probleme zurückgibt, wenn man das Terrain der von ihnen »angebotenen« Möglichkeiten verlässt. Das ist wiederum schwer von der Partei allein zu leisten, wenngleich sie das in jenem Punkt erst schlau gemacht und dann schlecht gelöst hat. Wir sollten aus der Kraft dessen lernen, was wir Basisbewegung und gesellschaftliche Transformation von unten nennen und was natürlich auch ein strategisches Ziel haben muss. Dieses kann aber ebenfalls nicht von oben aufoktroyiert werden. Für einen Aufbruch in Europa würde das heißen, dass wir diejenigen Bewegungen mitdenken, die wir auch in anderen Ländern wie Spanien und Portugal sehen, sie zu unterstützen und vor allem auch hierzulande die Gegenangriffe endlich zu forcieren.
Thomas: Griechenland hat einen geringen Spielraum, aber die griechische Bevölkerung kann sich nur selbst aus ihrer abhängigen Lage befreien. Entscheidend sind die Kräfteverhältnisse im Innern. Die Lage der Linken in Spanien und erst recht in Portugal ist bedeutend schlechter als in Griechenland. Es sieht gegenwärtig nicht danach aus, dass wir bald noch weitere Linksregierungen in Europa haben werden.
Alp: Uns geht es ja gerade um die Schwächung eines von Deutschland dominierten Europa und um die Diskussion um einen progressiven Ausweg aus der Austeritätsdiktatur. Und in dieser Diskussion sollten unserer Meinung nach alle Optionen berücksichtigt werden. Dazu kommt, dass in Deutsch-Europa, wie Margarita hervorgehoben hat, reaktionäre und nationalistische Tendenzen unter dem Deckmantel der Transnationalität eher zu- als abnehmen. Wir teilen daher auch die Analyse von Blockupy goes Athens auf ihrem Blog nicht. Das Feld Europa wäre dann erfolgversprechend zum einzigen Kampffeld zu erklären, wenn die reale Chance bestünde - etwa durch massenhafte Aufstände in ganz Europa - den Laden komplett auseinanderzunehmen. Faktisch sieht die Lage seit Beginn der Krise aber so aus, dass in nur sehr wenigen Ländern der EU relevante linke Kräfte auch nur im nationalen Rahmen an Einfluss gewonnen haben. Im Gegenteil gibt es gerade in den europäischen »Kernländern« eine Welle reaktionärer Bewegungen.
Thomas: Ich würde gerne klar stellen, dass es zu den Fragen, die wir hier diskutieren, keine gemeinsamen Blockupy-Positionen gibt. Die Gruppe, die den Blockupy goes Athens-Blog betreibt, spricht nicht für das Bündnis, sondern für sich, so wie auch wir hier nicht für Blockupy, sondern für uns sprechen.
Mia: Wenn nur in wenigen Ländern die Linke gerade etwas Einfluss hat, ist das Beleg der historischen Dimension der Kämpfe, nicht bereits ihres Scheiterns. Und natürlich müssen wir mitdenken, was Schäuble, AfD usw. in die Hände spielen könnte: um die Widersprüche zu berücksichtigen, die dazu führen können, dass ein gesellschaftlicher Aufbruch auch zerschlagen werden kann. Niemand von uns würde Europa als das einzige Kampffeld ansehen.
Alp: Das Mitdenken von »Komplexität« und dessen, was Schäuble und AfD machen, ist genau dann Defätismus, wenn wir uns vor lauter Angst und Furcht vor den Drachen um unsere eigene Position und Handlungsfähigkeit bringen. Es gibt einfach keine Möglichkeit von Umständen, wo alle Herrschenden auf der Welt oder auch nur allein in Europa so geschwächt sind, dass der Sieg garantiert ist. Es gibt eine strukturelle Ungleichzeitigkeit der Kämpfe in Europa. Aber es ist unglaublich selten, dass die sozialen Kämpfe in einem Land günstig sind für offensive Handlungen seitens der Linken. Wir dürfen uns solche Chancen nicht entgehen lassen, denn sie sind die einzigen, die überhaupt die Möglichkeit in sich bergen, dass die Linke Positionen erringt. Alles andere ist Wunschkonzert.
Mia: Ja, kann ich eigentlich voll zustimmen. Nur: Eure Argumente drehen sich doch gegen euch selber, wenn man es zu Ende denkt. Ihr redet von Möglichkeiten und Handlungsfähigkeiten - und bietet den Menschen in Griechenland dann einen großen Sack voll mit nichts. Wenn Griechenland aus der EU austritt, wird der Druck in Europa sogar noch zunehmen. Dass ihr gegen alle ökonomischen Fakten daran festhaltet, dass ein einzelner Nationalstaat die Basis für mehr politische Unabhängigkeit bedeutet, ist Ausdruck einer traditionslinken Souveränitätsfiktion, die heute eher eine ideologische Funktion denn einen praktischen Gebrauchswert hat. Komplexität mit Meinungsstärke begegnen zu wollen, ist aber nie eine gute Idee.
Wenn eine andere Politik in Europa nur denkbar ist, wenn es einen breiten Aufstand der Bevölkerung in ganz Europa gäbe bzw. wenn sich die Widersprüche auch in Deutschland verschärfen, dann sind das alles Dinge, die momentan extrem undenkbar erscheinen. Hierzulande stehen etwa zwei Drittel hinter der EU-Politik der Bundesregierung, Wolfgang Schäuble ist der in Deutschland beliebteste Politiker. Was bedeutet das für linksradikale Politik in Deutschland?
Mia: Wir müssen von den Erfahrungen aus Griechenland lernen, aber auch aus den anderen Regionen, die beginnen, sich zu widersetzen. Wir müssen eigene Antworten entwickeln. Was haben wir all jenen anzubieten, die ausgeschlossen sind, und denen, die nicht mehr mitmachen wollen? Wie lautet unser OXI? Wir müssen dabei ganz klar auch den Antagonismus, den es hier gibt, zuspitzen und wir müssen uns fragen, wer unsere Bündnispartner und wer unsere Gegner sind. Und dann sind es sicherlich nicht die Gewerkschaftsbosse, die SPD, die Grünen, die sich an den Block der Macht gebunden haben, sondern die Basis. Es ist für uns dringend notwendig, dass wir die große Bandbreite der Kämpfe, in die wir alle involviert sind, tatsächlich auch zu einem Angriff und zu einer Gegenmacht formieren können. Wenn das in Deutschland heißt, dass wir uns an eine Minderheit wenden, dann heißt das nicht, dass wir damit nicht irgendwann eine größere Attraktivität ausstrahlen können. Denn die Leute glauben zwar im Moment noch, es gäbe keine Alternative, aber es ist auch weithin sichtbar, dass es für sie auch keine Hoffnung gibt. T.I.N.A. ist im Moment für die herrschende Klasse selbst zum Problem geworden, denn sie haben ja auch nichts anzubieten, was die Hoffnungen der Menschen auf ein gutes Leben noch an das neoliberale Projekt bindet. Blockupy ist daher für mich ein Projekt, eine größtmögliche Minderheit in gemeinsamer radikaler Intervention zusammenzubringen. Das gilt es jetzt zu popularisieren. Das ist die Konsequenz aus dem griechischen OXI.
Jan: Eine revolutionäre Perspektive muss eine Strategie und Taktik finden, die die Menschen erreichen, organisatorisch einbinden und damit langfristig in Richtung einer sozialistischen Perspektive bewegen kann. Was wir dazu vor allem brauchen, ist eine den Erfordernissen der derzeitigen historischen Situation angemessene Form der Organisation, aber auch eine real umgesetzte Orientierung auf die Masse der Menschen und deren alltägliche Probleme. Starke reaktionäre Tendenzen sind zwar auch objektiven Rahmenbedingungen geschuldet, aber nicht zuletzt immer als Versagen der Linken zu werten. Dort, wo Menschen rechten Scharfmachern folgen, waren wir nicht da, um den Herrschenden und etwaigen reaktionären Strömungen Themen und Kampffelder streitig zu machen und alternative Angebote zu unterbreiten.
Thomas: Die in der Linken Aktiven sind heute in Deutschland vor allem Akademiker und weniger »einfache Leute«. Es sind eher Studierende oder Rentner als Erwerbstätige der mittleren Altersgruppen, es sind eher Beschäftigte in den Staatsapparaten oder Solo-Selbstständige als Arbeiter oder Angestellte in den privaten Unternehmen. War die Linke historisch ein Teil der Arbeiterbewegung, so artikulieren sich in ihr heute vor allem Teile der Mittelklassen bzw. des Kleinbürgertums. Dies zeigt sich auch an den Themen, mit denen sich die Linke (nicht) beschäftigt, an ihren Positionen und ihrer Sprache. Die Hinwendung der Linken zu den neuen sozialen Bewegungen nach 1968 hätte ihre hegemoniale Kapazität steigern können, wenn sich nicht gleichzeitig viele vom Proletariat verabschiedet hätten. Wo und auf welchem Niveau beschäftigt sich die Linke heute mit der Welt der Produktion und Arbeit, mit der Klassenformierung? Solange die Linke keinen Zugang zu denjenigen findet, die das deutsche Exportmodell im Kern tragen, ist sie zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.
Margarita: Die deutsche Linke kann es mal mit Alltagsbewegungen versuchen, um kulturelle Hegemonie anzustreben, wenn sie politisch schon so isoliert ist. Dann müsste hier gegen die neue Fremdenfeindlichkeit gegen Griechen vorgegangen werden. In den Schulen werden Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrern gemobbt und von Mitschülerinnen und Mitschüler zusammengeschlagen. Daher fordere ich von der Linken, sich gegen den neuen Rassismus zu organisieren - am besten als Teil der Aktionen gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime.
Thomas: Gewerkschaften und linke Organisationen müssen nach Wegen suchen, stärker international koordiniert zu handeln - zum Beispiel durch eine europäische Koordination der Tarifpolitik, durch gemeinsame europäische Kampagnen für die Regulierung von Arbeit, durch Solidaritätsaktionen bei exemplarischen Arbeitskämpfen. Gleichzeitig darf der Aufbau europäischer Gegenmacht nicht mit dem Festhalten an dem durch die EU gegebenen Rahmen verwechselt werden. Der Austritt aus der Eurozone oder der Bruch mit den EU-Verträgen dürfen nicht tabuisiert werden. Die Frage muss ernsthaft diskutiert werden, wie die Handlungsfähigkeit linker Regierungen im Einzelfall am besten gewährleistet werden kann. Die Frage ist kompliziert, weil die herrschenden Kräfte in Deutschland angesichts der ungleichen Entwicklung und der inneren Widersprüche der europäischen Integration inzwischen zunehmend auf eine Mischung von Vertiefung der Integration und notfalls selektiver Desintegration setzen. Sie gehen davon aus, dass es in Europa Zonen mit dauerhaft unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen und unterschiedlichen Formen der Integration geben wird und geben muss.
Margarita: Schäuble sprach kürzlich davon, dass Europa die zweite Chance für Deutschland sei. Europa ist nicht eine Begrenzung von Deutschlands Einfluss, sondern zum Vehikel geworden für die Ausbreitung seiner Hegemonie. Ich denke immer mehr über Frantz Fanon und Kolonialismus nach. Experimentell gedacht: Für Griechenland ist eine Art Dekolonialisierung denkbar. Das Abkoppeln vom Hegemon, nicht das Warten, bis der Hegemon soweit ist. Die Griechen können nicht 50 Jahre warten, bis vielleicht überall linke Regierungen an die Macht kommen. Das Spannende ist aber, dass Griechenland Teil des Körpers ist, dem es sich entwenden muss - und das wird krasse Risse in das europäische Gebäude schlagen. Es braucht neue Bündnisse unter den Peripherie-Ländern und anderen, das alles wäre eine Strategie. Die Griechen werden von Europa zerquetscht werden, das Ausmaß des nächsten Memorandums ist für die Bevölkerung beängstigend. Sie fühlen sich unterworfen und versklavt von den ausländischen Mächten Europas. Das hat nichts mit Nationalismus zu tun. Der Angriff der EU-Institutionen auf Griechenland als Nationalstaat ist nicht imaginär, sondern faktisch. Sie dort zurückzuhalten, damit sie aus ideologischen Gründen ihren Befreiungskampf nicht als »nationalen« führen, kann man nicht abverlangen. Das widerspricht sich überhaupt nicht mit einer transnationalen Perspektive, da ein erfolgreiches Vorgehen der Griechen inspirierend sein würde für die anderen Peripherieländer. Es könnte das erste freigewordene Glied für eine neue transnationale Bündnispolitik werden. Das klingt vielleicht utopisch. Aber, wie Marta Hernecker sagt, revolutionäre Politik ist nicht die Akzeptanz des Rahmens des Möglichen, sondern die Kunst, das zu ermöglichen, was gegenwärtig unmöglich erscheint. Heute sind wir dazu gezwungen, aber nicht aus ideologischen Gründen. Sondern einfach, weil sich der aggressive Neoliberalismus mit den bestehenden Mitteln nicht aufhalten lassen wird.