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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 608 / 15.9.2015

Aufgeblättert

Prekarität als Waffe

Wer sich durch die schwer zu überblickende Literatur zur Prekarität arbeitet, wird darin wenig Anlass zu Optimismus finden. Der britische Wirtschaftsprofessor Guy Standing wirkt dem nun entgegen, denn er sieht im Prekariat eine »neue explosive Klasse«. Standing definiert das Prekariat nicht als »Ansammlung leidender Menschen«, sondern er sieht in ihm einen »Vorboten für eine funktionierende Gesellschaft im 21. Jahrhundert«. Auch bei Standing findet sich als zentrales Merkmal dieser neuen Sozialfigur die Unsicherheit als Resultat flexibilisierter Arbeitsmärkte und des neoliberalen Sozialstaatsumbaus. Den größten Raum des Werkes nimmt dann auch die Erklärung ein, wie es dazu kommen konnte und welche Prekarisierungstendenzen sich im Einzelnen zeigen. Das ist bisweilen ermüdend, weil redundant. Standings Fokus richtet sich jedoch auf weltweite Entwicklungen: Von kollektiven Selbstmorden französischer Telekom-Beschäftigter über depressive Japaner_innen bis zum vom Tode bedrohten Gewerkschafter in Südamerika reicht seine Analyse. Im furiosen Schlusskapitel betont der Autor jene Chance, die in den sich nach oben zunehmend schließenden und sich nach unten weiter beschleunigenden sozialen Mobilitätsprozessen aufleuchtet: In gemeinsamem Interesse könnten sich bald wieder mehr Menschen kollektiv organisieren. Sein Buch versteht Standing damit vor allem als »Aufruf an das Prekariat, zu einer eigenen Klasse zu werden«.

Christian Baron

Guy Standing: Prekariat. Die neue explosive Klasse. Aus dem Englischen von Sven Wunderlich. Unrast Verlag, Münster 2015. 278 Seiten, 18 EUR.

Kritische Theorie

Anlässlich des 60. Geburtstages von Alex Demirovic wurde ein Symposium abgehalten, auf welches der vorliegende Sammelband zurückgeht. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass kritische Theorie kein »eindeutig abgrenzbarer theoretischer Zusammenhang mit festem Methodenkanon« ist und es auch keinen »privilegierten gesellschaftlichen Untersuchungsgegenstand« gibt. Kritische Theorie wird als soziale Praxis bestimmt, die gesellschaftlich intervenieren möchte. Die Beiträge sind unterteilt in die Abschnitte Konstellationen kritischer Theorie, Staat-Kritik-Emanzipation, Krise der Demokratie und politische Perspektiven, die Frage nach dem Jenseits hegemonialer Herrschaft sowie den Perspektiven kritischer Intellektueller. Als Beispiel sei hier Sonja Buckels Beitrag über »Dirty Capitalism« zitiert: »Die sichtbare, aus dem Wasser hervorragende Spitze des Eisbergs ist die sichtbare Ökonomie von Lohnarbeit und Kapital, während der größte Teil der Verhältnisse, nämlich die unsichtbare Ökonomie, sich unter dem Wasser, im Verborgenen abspielt: Die Reproduktionsarbeit, der informelle Sektor, Sexarbeit, Kinderarbeit, Subsistenz und bäuerliche Tätigkeiten, Sklavenarbeit wie auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse«. Die »Verknotung« der einzelnen alltagspraktischen Momente müsse sichtbar gemacht werden. Alle Beiträge liefern Gesellschaftsanalyse aus einer vielstimmigen Perspektive - ein gelungenes Beispiel »kollektiver Wissensproduktion«.

Sebastian Klauke

Dirk Martin/Susanne Martin/Jens Wissel (Hg.): Perspektiven und Konstellationen kritischer Theorie, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2015. 316 Seiten, 29,90 EUR.

Mangos und Kugeln

»Mangoes and Bullets«, Mangos und Gewehrkugeln, ist die Überschrift eines Gedichtbands des Lyrikers und Aktivisten John Agard. Diesen Titel aus dem Jahre 1985 zitieren nun die Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen von glokal e.V. und überschreiben damit ihre aktuelle Publikation. mangoes & bullets, Materialien für rassismus- und herrschaftskritisches Denken und Handeln, verlassen das Korsett des wissenschaftlichen Fließtextes und liegen als Materialsammlung auf der gleichnamigen Webseite vor. »Mangoes« und »bullets« werden hier als postkoloniale Artefakte verstanden, die reisend sind und beispielsweise Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung transportieren oder genau diese symbolisieren können. Die inhaltliche Bandbreite der Seite bewegt sich zwischen Vorgängen vor der eigenen Haustür, wie dem von »Gastarbeitern« 1973 geführten Streik bei Ford in Köln über grundlegende Texte postkolonialer Theorien hin zu Verweisen auf aktuelle Widerstandsinitiativen wie der indigenen Qom-Bewegung in Argentinien. Zu Beginn finden sich Anmerkungen zur Kontextgebundenheit der präsentierten Inhalte und der eigenen gesellschaftlichen Positionierung. Wo ein Track des Berliner Rappers Alpa Gun neben einer Diskussionsrunde mit Angela Davis gelistet wird und die »Kolonialität der Macht« von Aníbal Quijano als »ähnlicher Beitrag« erscheint, wird Platz geschaffen für neue, emanzipatorische Seilschaften zwischen postkolonialen Theorien und Popkulturen.

Ole Schwabe

glokal e.V. / www.mangoes-and-bullets.org

Bitte mit Blutwurst

Ob Michael Stavaric in einem zweiten Leben als Jongleur oder Seiltänzer arbeitet? Anders ist der bravouröse Balanceakt, der dem tschechisch-österreichischen Autor mit seinem neuen Roman gelungen ist, kaum zu erklären. Es geht um zwei Familiengeschichten und zwei Lebenswege, der eine beginnt in New York, der andere in Wien, um zwei junge Menschen und um eine dunkle Vergangenheit. Und um eine Leidenschaft und gemeinsame Berufung: Fleisch. »Königreich der Schatten« ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes und außergewöhnliches Buch über das Handwerk des Tötens und die »Enkelgeneration«. Im Fokus stehen Rosi Schmieg und Danny Loket, sie hoffnungsvolle Metzgerei-Novizin in Leipzig, er fantasievoller Träumer und Weltenbummler, der Amerika den Rücken kehrt und sich auf Spurensuche seines Großvaters nach Europa begibt. Der war nämlich nicht nur Fleischermeister in der Tschechoslowakei, sondern hat auch im zweiten Weltkrieg gegen die Nazis gekämpft - ebenso wie Rosis Großvater, nur dass der in Österreich geschlachtet und auf der anderen Seite der Front gestanden hat. Und während Rosi schon eifrig die Messer wetzt und dem großen Tag der Eröffnung entgegenfiebert, nähert sich Danny unaufhaltsam seinem Schicksal. Krieg, Tod, Erinnerung, Schuld: Stavaric packt die ganz großen Themen an und haut sie uns auf eine Weise um die Ohren, die erschütternd ist: erschütternd unkorrekt, unsentimental und komisch, aber auch erschütternd sensibel und zauberhaft. Chapeau.

Stephanie Bremerich

Michael Stavaric: Königreich der Schatten. Roman. C.H. Beck, München 2013. 256 Seiten, 19,95 EUR.