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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 608 / 15.9.2015

Feindliche Übernahme

Deutschland Das Jahr 1990 - im Schweinsgalopp zur deutschen Einheit

Von Jens Renner

Dass die deutsche Vereinigung eine Erfolgsgeschichte sei und es zu den politischen Entscheidungen des Jahres 1990 keine vernünftige Alternative gegeben habe, bestreiten in der großdeutschen »Berliner Republik« nur die üblichen linken Querköpfe. Wenn rund um den diesjährigen 3. Oktober, den 25. Jahrestag der deutschen Einheit, auch von Anstrengungen, Kosten und Enttäuschungen die Rede sein wird, ändert das nichts an der staatsoffiziellen Doktrin, wie sie in einer Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung exemplarisch festgehalten ist: »Der Aufbau Ost war unvermeidlich, und zwar im Wesentlichen genauso, wie er geschah: mit sofortiger Währungsunion, mit zügiger Privatisierung, mit massiver Wirtschaftsförderung. Realistische Alternativen gab es nicht, und zwar wegen der hohen Mobilität der Arbeitskräfte als Frucht und Preis der Freiheit. Die Deutschen haben den richtigen Weg gewählt. Sie können darauf stolz sein.« (Karl-Heinz Paqué, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/2009)

Was hier beschönigend »Aufbau Ost« genannt wird - die feindliche Übernahme der DDR-Ökonomie -, begann nicht erst mit dem 3. Oktober 1990. Vielmehr war an diesem Jubeltag der Deutschen - weniger als ein Jahr nach dem 40. Geburtstag der DDR am 7. Oktober 1989 - längst entschieden, was die Neubürger_innen aus dem Osten in der vergrößerten Bundesrepublik zu erwarten hatten. Ein Rückblick auf wesentliche Entscheidungen seit der Maueröffnung am 9. November 1989 zeigt ein historisch einmaliges Beispiel imperialistischer Großmachtpolitik, gestützt auf Wirtschaftskraft und politische Demagogie. Heraus kam ein Umbruch, der von der übergroßen Mehrheit der Menschen in beiden deutschen Staaten unterstützt wurde. (1)

Die D-Mark als stärkste Waffe

Kritisiert wurde allenfalls das Tempo des Anschlusses. Zunächst waren auch die politischen Eliten in Westdeutschland von einem längeren Prozess zur deutschen Einheit ausgegangen. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hatte noch am 28. November 1989 in seinem im Bundestag vorgetragenen Zehn-Punkte-Plan vom »Ausbau der Zusammenarbeit beider Staaten« und von der »Schaffung konföderativer Strukturen« gesprochen. Erst in Punkt zehn erwähnte er die deutsche Einheit, allerdings eher vage und ohne einen Termin zu nennen: »Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.« So ähnlich stand das seit Jahrzehnten auch in der Präambel des Grundgesetzes - ohne unmittelbare Folgen für die operative Politik der wechselnden bundesdeutschen Regierungen.

Dennoch wurde Kohls Vorstoß als Sensation empfunden. Entscheidend beschleunigt wurde der Prozess aber durch Wolfgang Schäuble, ehemals Kanzleramtsminister, nun Innenminister und seit Jahren politischer Berater des Kanzlers. Ihm wird die Urheberschaft für den Plan einer schnellen Wirtschafts- und Währungsunion zugeschrieben. Anfang Februar 1990 wurde dieser Plan, inzwischen offizielle Politik der Bundesregierung, der DDR-Regierung unter Hans Modrow (SED/PDS) übermittelt. In seiner Regierungserklärung vom 15. Februar 1990 machte Kohl dann - gewohnt blumig, aber glasklar in der Sache - deutlich, wohin die Reise gehen sollte: »Es geht jetzt darum, ein klares Signal der Hoffnung und der Ermutigung für die Menschen in der DDR zu setzen ... Für die Bundesrepublik Deutschland ... bedeutet das, dass wir damit unseren stärksten wirtschaftlichen Aktivposten einbringen: die Deutsche Mark. Wir beteiligen so die Landsleute in der DDR ganz unmittelbar und direkt an dem, was die Bürger der Bundesrepublik Deutschland in jahrzehntelanger beharrlicher Arbeit aufgebaut und erreicht haben.«

Während im Westen die Weichen gestellt wurden, waren die politischen Kräfte in der DDR mit der Vorbereitung auf die Volkskammerwahl am 18. März 1990 beschäftigt. Und die »Massen«? Den ganzen Winter 1989/90 über gab es in vielen größeren und kleineren Städten der DDR Demonstrationen von beachtlicher Größe. Vielerorts gingen Zehntausende auf die Straße, vor allem, um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu fordern. Der populärste Slogan - »Wir sind ein Volk« - war schon im Herbst 1989 geprägt worden; hinzu kam »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr«. Das war keine leere Drohung - die Ausreisewelle hielt unvermindert an. 1989 hatten 340.000 Menschen die DDR auf Dauer gen Westen verlassen, für 1990 wurde mit einer Million und mehr gerechnet.

Natürlich lockte das Warenangebot und das kapitalistische Versprechen, Konsum sei gleichbedeutend mit Freiheit. Den meisten, die jetzt »Deutschland« brüllten und Kohl zujubelten, dürfte aber klar gewesen sein, dass bei der blitzartigen Abwicklung des Realsozialismus auch etliche auf der Strecke bleiben würden. Nicht nur Linke warnten. Im Dezember 1989 sagte der Vorsitzende der Blockpartei NDPD, Günter Hartmann: »Bei einer Wiedervereinigung hätten wir bald vollere Läden, aber sicher auch einen rapiden Sozialabbau, wir hätten schneller moderne Technik in den Betrieben, aber ebenso sicher auch Hunderttausende Arbeitslose.«

Gorbatschow kapituliert

Aber schon bald war klar, dass der Zug in Richtung Einheit nicht mehr aufzuhalten war. Auch nicht von den vier Mächten der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition. Die USA wollten die Gelegenheit nutzen, den eigenen Einflussbereich nach Osten auszudehnen. Die heftig kriselnde Sowjetunion war mit sich selbst beschäftigt; KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow, als »Reformer« des Realsozialismus Hoffnungsträger auch vieler Linker im Westen, erklärte schon Anfang 1990, es sei »Sache der Deutschen, Zeitpunkt und Weg der Einigung selbst zu bestimmen.« Zwar sollte seiner Ansicht nach das vereinte Deutschland neutral sein; zur Bedingung für die sowjetische Zustimmung machte er diesen »Wunsch« aber nicht.

Spätestens im Februar 1990 war klar, dass es nur noch um das Wie, nicht mehr um das Ob der Vereinigung ging. Entsprechend versuchten Linke und Bürgerrechtler_innen, vom DDR-Sozialismus zu retten, was zu retten war - oder besser: was zu retten schien. So verlangte der von Demokratie Jetzt initiierte Runde Tisch eine verbindliche Sozialcharta, und die für Wirtschaft zuständige stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates, Petra Luft (SED/PDS), forderte, auch in der kapitalistischen sozialen Marktwirtschaft das Prinzip der Vollbeschäftigung beizubehalten. Das war genauso illusionär wie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die Bundesregierung hatte sich längst auf den Weg des Beitritts der DDR zur BRD festgelegt, so wie er in Artikel 23 Grundgesetz vorgesehen war. Die schöne Parole »Artikel 23 - kein Anschluss unter dieser Nummer« war zwar im Osten populär, mehrheitsfähig war sie aber nicht.

Das zeigte sich bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990. Bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent kam die CDU auf 40,8 Prozent, die von ihr angeführte Allianz für Deutschland auf 48 Prozent. Die SPD landete mit 21,9 Prozent weit abgeschlagen, die PDS erzielte mit 16,4 Prozent einen Achtungserfolg. Von den einigungskritischen Gruppierungen der DDR-Bürgerrechtsbewegung erreichte keine einzige mehr als 3 Prozent.

Die Treuhand übernimmt

Zwar dominierten westdeutsche Spitzenpolitiker_innen und Materialien im Wert von etlichen Millionen DM den Wahlkampf. Aber trotz dieser massiven Einmischung war mit dem Wahlergebnis das legitimiert, was die Financial Times einen »Prozess der schöpferischen Zerstörung der DDR« nannte. Das wichtigste Instrument dabei war die Treuhandanstalt, kurz Treuhand. Gegründet wurde sie am 1. März 1990 auf Beschluss der Modrow-Regierung als »Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums« und am 17. Juni 1990 durch das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens von der Volkskammer bestätigt. Ihre Hauptaufgabe war zunächst die Entflechtung von Kombinaten und die Umwandlung der Nachfolgeunternehmen in Kapitalgesellschaften. Am 1. Juli 1990 waren der Treuhand etwa 8.500 Betriebe unterstellt, in denen mehr als vier Millionen Menschen arbeiteten.

Die spätere Treuhand-Präsidentin Birgit Breuel (CDU) beschrieb die Arbeitsweise der Treuhand so: »Schnell privatisieren, weil wir der Auffassung sind, dass Privatisieren die beste Form der Sanierung ist. Das zweite Motto heißt: entschlossen sanieren. Da, wo Zukunft möglich ist, soll Sanierung durchgeführt werden, um auch hier den Menschen mehr Mut und Hoffnung zu machen. Und das dritte Motto heißt: behutsam stilllegen.« Die sozialen »Kollateralschäden« dieser vermeintlich »alternativlosen« Politik wurden billigend in Kauf genommen.

Mit dem ersten Staatsvertrag, der am 1. Juli 1990 in Kraft trat, wurde die Liquidierung der DDR-Betriebe durch das »freie Spiel der Marktkräfte« bestätigt. »Staatliche Strukturanpassungskonzepte« wurden explizit ausgeschlossen, Zuschüsse gab es, damit die Betriebe weiterhin Löhne zahlen konnten - angesichts der »Konkurslawine«, so Breuels Vorgänger Detlev Karsten Rohwedder (SPD), wollte man »Massenelend und politische Revolte nicht mutwillig provozieren«.

Bis zum 1. Juli 1990 waren sämtliche DDR-Betriebe in Kapitalgesellschaften umgewandelt, etwa die Hälfte unter dem Titel »Kapitalgesellschaft im Aufbau«. Entlassene Werktätige wurden in Auffanggesellschaften gesteckt oder erhielten Arbeitslosengeld in Höhe von 70 Prozent ihres Lohns der vergangenen zwölf Monate. Gewinner war das westdeutsche Kapital. Denn die »Filetstücke« der DDR-Wirtschaft wurden vom Transformationsprozess ausgenommen: Ostdeutsche Banken und Versicherungen wurden unter den entsprechenden Westkonzernen aufgeteilt, die Energieversorgungsbetriebe gingen u.a. an RWE, PreussenElektra und Bayernwerk.

Am 31. August 1990 unterzeichneten dann die Verhandlungsführer Wolfgang Schäuble und Günther Krause (beide CDU) den Zweiten Staatsvertrag (»Einigungsvertrag«) zwischen der BRD und der DDR: 45 Artikel, mit etlichen Anlagen zu unzähligen Einzelfragen, zusammen 266 Seiten - ein Meisterwerk der westdeutschen Ministerialbürokratien. Streitfragen - etwa die Mitgliedschaft in der NATO oder die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen - wurden im Sinne der BRD gelöst. Mit dem 2plus4-Vertrag, geschlossen am 12. September in Moskau, gaben auch die Vier Mächte (Sowjetunion, USA, Großbritannien, Frankreich) ihre Zustimmung. Die DDR war Geschichte, Deutschland »wiedervereinigt«. Nun konnte gefeiert werden.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der am 3. Oktober 1990, dem neuen »Tag der deutschen Einheit«, in Berlin die Festrede hielt, wunderte sich, dass »einige im Westen ... erst jetzt so richtig die Vorzüge ihres eigenen Staates« entdecken würden, darunter, »mancher, der in der Vergangenheit zu den schärfsten Kritikern der inneren Verhältnisse der Bundesrepublik zählte«. Das ist leider wahr. Viele bislang kritische Geister machten sich nicht einmal klar, was sie da gerade erlebt hatten. Manche schwadronieren immer noch davon, die deutsche Einheit sei das Ergebnis der ostdeutschen »gewaltlosen Revolution« gewesen.

Richtig ist: Ohne die Zustimmung der Massen wäre die Liquidierung der DDR nicht möglich gewesen. Aber den Gang der Ereignisse bestimmten die politischen Eliten der BRD, nicht so sehr das Kapital: Warnungen vor den Kosten der Einheit und Mahnungen zu einer langsameren Gangart kamen auch aus der Bundesbank oder von den Fünf Weisen. Dass sich »die Politik« über diese Bedenken hinwegsetzte und damit Erfolg hatte, gilt heute als historische Leistung. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass imperialistische Politik nicht dem Diktat des Kapitals (oder einzelner Kapitalfraktionen) folgt, sondern relativ eigenständig agiert. Ihre Sternstunde erlebt sie, wenn sie ohne militärische Gewalt auskommt und im Nachhinein auch noch »vom Volk« bestätigt wird. So geschehen bei der »Reichstagswahl« am 2. Dezember 1990. Fortsetzung folgt.

Anmerkung:

1) In dem vorliegenden Artikel wird fast ausschließlich die »Politik von oben« behandelt, und auch nur, soweit sie die »Abwicklung« der DDR betrifft. Die Vorgeschichte aus der Sicht »von unten« ist Gegenstand eines Artikels in ak 598: Hoffnungslos überfordert. Die westdeutsche Linke im »Wendejahr« 1989.