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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 608 / 15.9.2015

Das Jahr, das niemals endete

Geschichte Das Buch »Indonesien 1965ff.« zeigt die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen des Massenmords vor 50 Jahren

Von Mathilda Keller

Als der Film »The Act of Killing« Anfang 2014 in die Kinos kam, erwachte kurzzeitig das öffentliche Interesse für die Massenmorde in Indonesien Mitte der 1960er Jahre. In dem Film kommen die Täter zu Wort und »spielen« ihre Verbrechen an den Tatorten von damals nach. Von Reue oder Unrechtsbewusstsein keine Spur. Trotz des Erfolgs von »The Act of Killing« ist das Wissen über die Geschehnisse hierzulande gering. Ändern könnte sich das mit dem nun erschienenen Buch »Indonesien 1965ff.«, in dem ausschließlich indonesische Autor_innen zu Wort kommen. Es soll, so Herausgeberin Anett Keller, einen Zugang zu bislang verschlossenen Quellen ermöglichen. Dafür bietet der Band verschiedene Perspektiven: persönliche Protokollen von Überlebenden, wissenschaftlichen Beiträge, Profile von Initiativen, die sich der geschichtlichen Aufarbeitung widmen.

Denn die Aufarbeitung dessen, was ab 1965 in Indonesien geschah, läuft auch fast 20 Jahre nach Ende der Diktatur von General Suharto eher schleppend. Unter seinem Vorgänger Sukarno war die indonesische kommunistische Partei, die PKI, in der Opposition und mit 3,5 Millionen Mitgliedern die drittgrößte KP weltweit. Am 1. Oktober 1965 wurden in Jakarta sechs Generäle und ein Leutnant der indonesischen Armee entführt und ermordet. Die Täter - ebenfalls Militärs - nannten sich selbst Bewegung 30. September. Suharto bezichtigte die PKI, Drahtzieher des Angriffs zu sein.

Was dann folgte, ist einer der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Zwischen 500.000 und einer Million Menschen wurden in den darauffolgenden Monaten ermordet, Hunderttausende verhaftet, gefoltert, vergewaltigt und über Jahre in Lagern festgehalten - ohne dass es auch nur ein einziges Gerichtsverfahren gegeben hätte.

Verfolgt wurden all jene, die Mitglied der PKI waren, ihr nahestanden oder auch nur verdächtigt wurden, ihr eventuell nahezustehen - Denunziation und Willkür waren an der Tagesordnung. 1967 wurde Suharto Präsident, die »heldenhafte Zerschlagung der kommunistischen Gefahr« wurde zum Gründungsmythos seiner über 30 Jahre dauernden Diktatur, der mit massiver Propaganda am Leben erhalten wurde.

Die Überlebenden blieben stigmatisiert

In dem Band »Indonesien 1965ff.« kommen Menschen zu Wort, die Grausames erlebt haben. Ihre Protokolle sind erschütternd, der Umgang mit ihnen in der Zeit nach ihrer Haft und Folter zuweilen unfassbar. Denn für die Opfer ist 1965 ein Jahr, das niemals endete. Jene, die aus der Haft entlassen wurden, bekamen den Vermerk ET in ihren Pass, er stand für Eks tapol, ehemaliger politischer Häftling. Die Überlebenden blieben stigmatisiert und gesellschaftlich marginalisiert, sie bekamen keine Jobs und hatten keine Zukunft. Aus Scham und Angst schweigen viele von ihnen bis heute. 1965 wurde jeder Ansatz emanzipatorischer Politik zerstört, eine linke Bewegung konnte lange Zeit nicht mehr neu entstehen.

In dem Buch lernen wir zum Beispiel Maryati kennen. Sie war Mitglied bei Gerwani, der Bewegung Indonesischer Frauen. Die Organisation wurde bereits 1950 gegründet, 1965 hatte sie rund 1,5 Millionen Mitglieder. Nach den Ereignissen des 1. Oktober wurde behauptet, Gerwani-Frauen hätten obszöne Tänze aufgeführt und die entführten Generäle entmannt. Maryati engagierte sich vor allem im Alphabetisierungsprogramm für Frauen bis sie im Oktober 1965 verhaftet wurde. Sie wurde gefoltert, immer wieder vergewaltigt und musste über Jahre Zwangsarbeit leisten, bis sie 1978 frei kam. Als ihr Mann, selbst als PKI-Mitglied verfolgt, von den Vergewaltigungen erfuhr, beschimpfte er sie und warf ihr vor, sich prostituiert zu haben.

Es ist eines von fünf Protokollen, die sowohl die persönliche als auch die gesellschaftliche und politische Tragweite von 1965 zeigen. Denn mit Gerwani wurden nicht nur das Wissen und die politischen Erfahrungen der Frauen ausgelöscht - heute gibt es keine vergleichbare Organisierung von Frauen in Indonesien mehr.

Aber es gibt auch Ermutigendes: so wie die Ausdauer verschiedener Aktivist_innen, die sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzen - gegen alle gesellschaftlichen und politischen Widerstände. Da ist beispielsweise Komunitas Taman 65, die Gemeinschaft des 65er-Gartens, auf der Insel Bali. Ins Leben gerufen von Menschen, die während oder nach Suhartos Neuer Ordnung geboren wurden, ist hier im Jahr 2005 ein Ort des Erinnerns entstanden. »Wir begannen Diskussionen zur dunklen Geschichte von 1965 zu veranstalten, luden Überlebende und Zeitzeugen ein, ermutigten Familienangehörige, ihre Geschichte mit uns zu teilen und versammelten uns mit Freunden, die in ihrer Kindheit dieselben Erfahrungen gemacht haben wie wir.«

Und da ist das Institut für kreative Menschlichkeit, LKK, mit seinem Hauptprogramm »Geschichten, um Geschichte zu verstehen«. Denn auch nach dem Sturz von Suharto, so der LKK-Vorsitzende Putu Oka Sukanto, lebe der Geist der Neuen Ordnung weiter. Wegen Mitgliedschaft in der linken Künstlervereinigung Lekra wurde er von 1966 bis 1976 inhaftiert.

Während die Opfer jahrzehntelang mit den Auswirkungen von 1965 zu kämpfen hatten, wurden die Täter zu indonesischen Nationalhelden. Keiner von ihnen ist zur Rechenschaft gezogen worden, die Weltöffentlichkeit nahm bislang wenig Notiz von dem Massenmord. Das soll sich nun ändern. Im November will das Netzwerk International People's Tribunal 1965 (IPT 1965) in Den Haag ein Tribunal zu den Ereignissen vor 50 Jahren organisieren, auch wenn das inoffizielle Tribunal keine juristische Wirkung entfalten wird.

»Indonesien 1965ff.« lenkt den Blick auf ein dunkles und sehr langes Kapitel in der indonesischen Geschichte. Ein wichtiges Buch, dass für die Leser_innen hoffentlich nur der Anfang einer eingehenderen Beschäftigung mit den Ereignissen von 1965ff. ist.

Mathilda Keller hat eine nur zufällige Namensverwandtschaft mit der Herausgeberin von »Indonesien 1965ff.«. In ak 592 schrieb sie über Punk in Indonesien.

Anett Keller (Hg.): Indonesien 1965ff.: Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches Lesebuch. regiospectra Verlag, Berlin 2015. 213 Seiten, 19,90 EUR.