Der Sommer der Migration
International In Ungarn zeigte sich die Durchlässigkeit des europäischen Grenzregimes
Von Bernd Kasparek und Marc Speer
Bahnhof Budapest Keleti, in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, kurz nach Mitternacht. Busse des öffentlichen Nahverkehrs kommen an, von Ungarns Regierung geschickt, um die Flüchtlinge, die dort seit rund einer Woche campieren, an die ungarisch-österreichische Grenze zu bringen. Noch misstrauisch, ob es sich erneut um einen hinterhältigen Trick der Regierung handelt, warten viele Flüchtlinge erst einmal ab. Doch langsam besteigen sie die Busse und machen sich auf den Weg an die nächste Grenze. Nach Tagen des Ausharrens sind sie wieder unterwegs, und nach Tagen brüllender Hitze setzt plötzlich, als ob auch das Wetter einen Schlussstrich unter diese Woche der Kämpfe setzen will, leichter Regen ein.
Im Laufe der Nacht und am darauf folgenden Tag überschreiten mehr als 10.000 Flüchtlinge die österreichische Grenze. Österreich und Deutschland hatten sich bereit erklärt, sie einreisen zu lassen.
Ungarns Position im EU-Grenzregime
Seit dem faktischen Ausscheiden Griechenlands aus dem Dublin-System im Jahr 2011 stellt Ungarn den südlichsten Schengen- und Dublin-Staat im Südosten der EU dar, da sich der Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens beständig hinauszögert. Die aktuell gängige Route, die Flüchtlinge auf dem Weg aus der Türkei in den Norden der EU einschlagen, führt über die Nicht-EU-Staaten Mazedonien und Serbien. Damit ist Ungarn zumindest auf dem Papier für die Durchführung der meisten Asylverfahren der Flüchtlinge verantwortlich, die über den Balkan reisen.
Auffällig viele Flüchtlinge berichten uns über Misshandlungen durch die ungarische Polizei: Direkt nach dem Grenzübertritt aus Serbien werden die Flüchtlinge routinemäßig für einige Tage inhaftiert, auch Frauen mit Babys, offiziell zur »Registrierung«. Doch selbst anerkannte Flüchtlinge sind in Ungarn regelmäßig von Obdach- und Arbeitslosigkeit betroffen. Hinzu kommt die nationalistische und offen rassistische Orientierung der ungarischen Regierung unter Victor Orbán. Ihre Abneigung gegenüber Flüchtlingen stellte die Regierung erst kürzlich ganz öffentlich und landesweit auf Plakaten zur Schau: »Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn keine Jobs wegnehmen««, stand da zu lesen.
Im Juni 2015 verkündete die ungarische Regierung, dass »aus technischen Gründen« keine Dublin-Rücküberstellungen mehr akzeptiert würden. Diese Ankündigung musste nach erheblichem Druck, vor allem von Österreich, allerdings schon einen Tag später wieder zurückgenommen werden. Sie diente wohl in erster Linie dazu, Druck auf den EU-Gipfel im Juni auszuüben, auf dem die Ergänzung Dublins durch ein freiwilliges Quotensystem diskutiert wurde. Weiterhin war zum damaligen Zeitpunkt bereits mit dem Bau eines rund 175 Kilometer langen Zaunes an der Grenze zu Serbien begonnen worden, was innerhalb der EU massiv kritisiert wurde.
Seit dem Frühling 2015 kamen auch immer mehr Flüchtlinge in Ungarn an. Während im Juli jeweils 1.000 bis 1.500 Personen pro Tag an der Grenze zu Serbien aufgriffen wurden, stieg die Zahl immer weiter an und lag zuletzt zeitweilig sogar bei über 3.000. Pro Tag, wohlgemerkt. Damit war auch der Plan der ungarischen Regierung hinfällig, möglichst viele der Flüchtlinge über einen längeren Zeitraum zu inhaftieren und damit einen Abschreckungseffekt zu schaffen. Es fehlten schlichtweg die Kapazitäten, um Zehntausende längerfristig zu inhaftieren; die Flüchtlinge wurden nach ein paar Tagen freigelassen und reisten weiter nach Budapest.
Die beiden großen Budapester Bahnhöfe, Keleti und Nyugati, entwickelten sich bereits seit Anfang 2015 zur Drehscheibe, an der die Weiterfahrt organisiert wurde. Diese gelang im Regelfall im Rückgriff auf Schlepper, die Autotransporte nach Österreich und weiter organisierten. Laut unseren Quellen lag der Preis dafür bei etwa 200 Euro pro Person. Allein dieses relativ billige und ausreichend vorhandene Angebot führte dazu, dass nur einige Dutzend oder zeitweilig auch mal Hunderte Flüchtlinge an den beiden Budapester Bahnhöfen präsent waren. Aber nie mehr.
Gerüchte mit Folgen
Am 25. August verlautete aus dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass Deutschland bis auf weiteres Dublin-Rücküberstellungen von syrischen Flüchtlingen aussetzen werde. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei nur um eine interne Richtlinie ohne rechtliche Bindung, die im BAMF auch noch umstritten war. Dennoch sprach sich die Nachricht in kürzester Zeit unter den syrischen Flüchtlingen herum. Alle Versuche der Bundesregierung, die Maßnahme zu relativieren, kamen zu spät: Deutschland wurde zum Zielland Nummer Eins in Europa.
Am 27. August entdeckte die österreichische Polizei 71 Leichen von Flüchtlingen in einem LKW, der an einem Autobahnparkplatz südlich von Wien abgestellt war. Infolgedessen intensivierte die österreichische Polizei die Fahndung nach Schleppern. Spätestens ab dem 31. August kam es deswegen zu massiven Polizeikontrollen auf den Autobahnen, die von Ungarn nach Österreich führen, es bildeten sich Rückstaus von bis zu 50 Kilometern Länge. Die Schlepper stellten ihre Tätigkeiten daraufhin weitestgehend ein. Zugleich hinderte die ungarische Polizei Flüchtlinge daran, internationale Züge zu besteigen. Erst dadurch stieg die Zahl der Menschen in dem informellen Camp am Bahnhof Keleti auf mehrere Tausend.
Am 31. August sprach sich das Gerücht herum, dass Deutschland die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge per Sonderzug abholen würde, während die ungarische Polizei sich komplett vom Bahnhof zurückzog. Ein Run auf die Züge setzte ein, im Laufe des Tages konnten mehrere Tausend Flüchtlinge Ungarn verlassen und kamen ein paar Stunden später in Wien und bald auch in München an. Österreich unternahm nichts, um die Flüchtlinge aufzuhalten; auch Flüchtlinge, die an den Wiener Bahnhöfen auf ihre Weiterreise warteten, wurden nicht aufgehalten.
Es ist davon auszugehen, dass Deutschland und Österreich spätestens jetzt hinter den Kulissen immensen Druck auf Ungarn ausübten. Der österreichische Bundeskanzler Faynmann mahnte Ungarn sogar öffentlich, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Daraufhin sperrte die ungarische Polizei am 1. September den Budapester Bahnhof für Flüchtlinge, von denen sich immer noch mindestens 3.000 am Bahnhof aufhielten - und es wurden immer mehr.
Die Situation blieb so bis zum 3. September. An diesem Tag wurden alle internationalen Zugverbindungen ausgesetzt, den Flüchtlingen wurde jedoch mitgeteilt, dass sie mit Regionalzügen an die österreichische Grenze fahren könnten. Doch der erste Zug mit rund 600 Flüchtlingen wurde 35 Kilometer außerhalb von Budapest in dem Ort Bicske aufgehalten und von der Polizei umstellt. In dem Ort befindet sich eines der ungarischen Flüchtlingslager, in welches die Polizei die Insass_innen des Zuges transportieren wollte. Diese weigerten sich jedoch und verharrten rund 30 Stunden in dem Zug. Gleichzeitig verbreitete sich die Nachricht von der Finte, woraufhin keine weiteren Flüchtlinge in Züge stiegen.
Am 4. September kam es zum bisherigen Höhepunkt dieses Kampfes um Bewegungsfreiheit. Mehrere Tausend Flüchtlinge brachen am frühen Nachmittag zu Fuß auf, um sich auf den 170 Kilometer langen Marsch an die ungarisch-österreichische Grenze zu machen. Ihr erklärtes Ziel: Österreich und Deutschland. Auch in Bicske machten sich rund 300 der am Vortag aufgehaltenen Flüchtlinge zu Fuß auf den Weg und liefen auf den Bahngleisen gen Westen. Schon am Morgen hatten in Röszke, nahe der ungarisch-serbischen Grenze, weitere 300 internierte Flüchtlinge den Zaun um das Lager überwunden, wurden aber später von der Polizei festgehalten. Die am Bahnhof Keleti verbliebenen Flüchtlinge wurden am Nachmittag von ungarischen Hooligans angegriffen, konnten den Angriff aber zurückschlagen.
Der Marsch gen Westen, der sich schnell unter dem Hashtag #marchofhope herumsprach, kam relativ zügig voran und erreichte bald eine zweispurige Autobahn. Die Bilder des Marsches werden sicherlich in die Ikonographie dieses langen Sommers der Migrationen eingehen: eine lange Reihe von Menschen, die sich nach einer Woche des Ausharrens die eigene Mobilität wieder aneignen und kollektiv Budapest verlassen. Unter dem Eindruck dieser Bilder erklärten Deutschland und Österreich, dass sie ihre Grenze öffnen und die Flüchtlinge aufnehmen würden, woraufhin die ungarische Regierung den Bustransport zum Grenzübergang organisierte. Über das Wochenende gelangten mindestens 10.000 Flüchtlinge nach Deutschland. Die Grenzen waren endlich offen.
Die Entschlossenheit der Flüchtlinge
Allgemein, dies sehen nicht nur wir so, wird der Sommer der Migration (im offiziellen Sprachgebrauch: die »europäische Flüchtlingskrise«) als Krise des europäischen Projekts gesehen. Leider äußert sich diese Einsicht weniger in einer grundsätzlichen Kritik am Schengener Grenzregime und der Dublin-Verordnung als in einem geschichtsvergessenen Appell an die EU-Mitgliedsstaaten, sich nun endlich solidarisch zu zeigen und eine gemeinsame europäische Lösung zu finden.
Bemerkenswert ist das komplette Unvermögen der ungarischen Regierung, eine humanitäre Katastrophe im Zentrum der Hauptstadt zum eigenen Vorteil auszuspielen. Statt mit Verweis darauf Konzessionen von der EU zu fordern, polterte Victor Orbán durch Europa und ließ seinem Rassismus und Chauvinismus freien Lauf. Als paradoxe Konsequenz steht nun Ungarn für den lieblosen Versuch, die Regeln des europäischen Grenz- und Migrationsregime aufrechtzuerhalten, am Pranger, während Deutschland trotz seiner Rolle als Architekt und Triebkraft eben jenes Gebildes für sein humanitäres Handeln weltweit gelobt wird.
Der zweifellos schönste Aspekt ist jedoch, dass mit den Flüchtlingen aus Syrien auch die ursprüngliche Kraft und Hoffnung des arabischen Frühlings ein zweites Mal nach Europa gekommen sind und die Grenzen herausgefordert haben. Der Rhythmus und die Entschlossenheit der Parolen, die über Tage hinweg gegen die Polizeikette am Haupteingang des Budapester Bahnhof gerufen wurden, wirkten seltsam vertraut. Die Entschlossenheit der Flüchtlinge, ihr Ziel zu erreichen, traf in den letzten Tagen auf mehr und mehr Unterstüzer_innen in ganz Europa, die über Facebook und Twitter Hilfe jenseits des Staates organisieren. Bis hin zum Aufruf zum kollektiven, offen praktizierten Menschenschmuggel, dem am 6. September tatsächlich mindestens 140 Autos aus Wien folgten, unbehelligt von der Polizei. (Siehe Seite 16)
Angesichts der vielen Flüchtlinge, die immer noch in Griechenland sind oder dort gerade erst ankommen, ist davon auszugehen, dass es die nächsten Wochen und Monate so weitergehen wird. Die Grenzen sind offen, das Grenzregime ist in der Defensive. Doch die Strateg_innen in Brüssel und Berlin bereiten schon die nächsten Volten vor: eine EU-weite Liste »sicherer Herkunftsstaaten«; große Internierungslager an den Grenzen der EU; ein Verteilungssystem nach Quoten, was aber nur das Überdruckventil für Dublin, nicht dessen Ersatz darstellen soll; und alles in allem mächtigere, zentrale europäisierte Institutionen des Asyls und des Grenzschutzes. Das europäische Grenzregime wird nach diesem Sommer anders aussehen, aber vor allem bleibt die Botschaft, dass es überwunden werden kann. Auch dies wird sich sicherlich bald wiederholen.
Bernd Kasparek und Marc Speer arbeiten für den gemeinnützigen Verein bordermonitoring.eu. Ihren Artikel haben sie am 7. September 2015 fertiggestellt.