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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 608 / 15.9.2015

Es herrscht eine Art Belagerungszustand

Aktion Die Angriffe des türkischen Staates auf die kurdischen Städte zielen auf die Zerstörung der Selbstverwaltung

Von Tim Krüger und Anselm Schindler

Die Straßen von Gever (türkisch: Yüksekova) im äußersten Südosten der Türkei zeugen von den Gefechten zwischen dem türkischen Staat und den Selbstverteidigungskräften der Bevölkerung. Patronenhülsen liegen auf den Gehwegen, an manchen Stellen klebt Blut an den Pflastersteinen. Seit einigen Tagen ist es wieder ruhiger in Gever, alles scheint wie gewohnt zu laufen, in den vielen kleinen Läden und vor den Teehäusern tummeln sich die Menschen.

Doch sobald die Sonne untergeht, kreisen Hubschrauber über der Stadt, es fallen Schüsse. Abseits des Stadtzentrums von Gever, das sich unter der Kontrolle des türkischen Staates befindet, türmen sich in den Seitenstraßen die Barrikaden. Errichtet wurden sie in den vergangenen Wochen durch die Bevölkerung. Als das türkische Militär in die Stadtteile einrücken wollte, rissen die Einwohner_innen die Pflastersteine aus den Straßen, um Schutzwälle zu errichten. In manchen der Barrikaden sind Sprengsätze versteckt, oft wurden sie aus einfachsten Mitteln wie Gaskartuschen hergestellt. Sie sind das letzte Mittel der Verteidigung, wenn die Panzerfahrzeuge des Staates nicht anders aufgehalten werden können.

»Panser« nennen die Menschen in der Stadt das Kriegsgerät in Anlehnung an das deutsche Wort Panzer. Denn viele der Waffen stammen aus deutschen Fabriken. »Mit euren Fahrzeugen bringen sie uns hier um«, schimpft ein junger Mann und deutet in eine Seitenstraße, in der sich die türkische Polizei und das Militär in Stellung gebracht haben. Der Lauf der Geschütze ist auf die belebte Hauptstraße gerichtet.

Nach den vergangenen Parlamentswahlen, in denen die islamisch-konservative AKP massiv Stimmen einbüßte, begann der türkische Staat unter dem Vorwand, gegen den »Islamischen Staat« aktiv zu werden, Stellungen und Kämpfer_innen der PKK auch im Irak zu bombardieren. Die PKK beendete daraufhin den von ihr 2013 einseitig erklärten Waffenstillstand. Dieser war nach einem Aufruf von Abdullah Öcalan an die kurdische Arbeiterpartei PKK mit dem Abzug der PKK-Kämpfer_innen aus der Türkei eingeleitet worden.

Angriff auf die Selbstverwaltungsstrukturen

In überwiegend von Kurd_innen bewohnten Städten im Südosten der Türkei griff der Staat jetzt die seit Jahren aufgebauten Selbstverwaltungsstrukturen der kurdischen Bevölkerung an. (Siehe den Artikel auf Seite 9) Tausende Menschen wurden inhaftiert. Und während Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die angeblich erfolgreichen Attacken auf PKK-Stellungen in den Medien feiern ließ, trafen Bomben und Raketen vor allem Zivilist_innen.

Aufgrund dieser Angriffe erklärte die Bevölkerung in vielen kurdischen Städten ihre Unabhängigkeit vom türkischen Staat. Die basisdemokratischen Volksräte, die schon seit Jahren aus dem Untergrund heraus Strukturen aufbauten, übernahmen die Geschicke in den Städten. Inmitten des wieder aufflammenden Bürgerkrieges »wollen wir die Ideale der kurdischen Befreiungsbewegung umsetzen«, wie eine junge Frau einer aufständischen Jugendorganisation berichtet. Ihren Namen will sie aus Angst vor staatlichen Repressionen nicht in der Zeitung lesen. Mit »Idealen« meint sie die vom inhaftierten PKK-Mitbegründer Abdullah Öcalan entwickelte Losung des demokratischen Konföderalismus, der anders als noch in den 1980er Jahren keine Forderung nach einem Nationalstaat beinhaltet.

Die vermeintliche Ruhe in der Stadt wirkt bedrückend, es herrscht eine Art Belagerungszustand. Erst vor drei Tagen schallte es durch die Straßen: »Sehid namirin!« - »Die Märtyrer_innen sind unsterblich!« Tausende Menschen erwiesen Ali Kaval die letzte Ehre. Der junge Mann fiel den Kugeln der türkischen Polizei ausgerechnet in der Nacht zum 1. September zum Opfer, dem internationalen Weltfriedenstag. Vier Kugeln trafen ihn in Beine, Brust und Kopf. Die Szenerie glich einer Hinrichtung, wie Augenzeug_innen berichten. Bewaffnet war er nicht, die Schüsse, die ihn trafen, wurden aus einem Militärfahrzeug abgegeben.

Er war nicht der einzige Zivilist, der in den letzten Tagen sein Leben lassen musste: Neun Menschen wurden von türkischen Sicherheitskräften getötet, manche sogar, während sie schliefen. Regelmäßig ziehen Beerdigungsprozessionen durch die Straßen, die Menschen schreien sich die Wut aus dem Bauch, unzählige PKK-Fahnen flattern im Wind. »Europa muss endlich handeln«, sagt die Mutter eines der Gefallenen, mit fast flehendem Tonfall. Wie es aussieht, wird sie wohl weiterhin enttäuscht werden.

Übergriffe auf HDP-Büros und Zeitungsgebäude

Aus Europa kommt zwar immer wieder Kritik an Staatschef Erdogan. Aber in der internationalen Presse wird kaum über die Geschehnisse in den kurdischen Teilen des Landes berichtet. Und wenn, übernehmen viele Medien die Berichterstattung türkischer staatlicher Presseorgane. Die wiederum ist immer regierungstreu. Zeitungen wie die Hürriyet, die sich schon mal kritisch zur Politik des Staates äußern, werden inzwischen tätlich angegriffen - so am 8. September in Istanbul, wo Anhänger von Erdogan das Gebäude der Zeitung angriffen. Schon ein paar Tage zuvor hatten etwa 200 Anhänger_innen der islamisch-konservativen AKP versucht, die Redaktionsräume zu stürmen.

In den türkischen Medien wird vielfach behauptet, dass die Raketen, die in den vergangenen Wochen immer wieder auf Gever niederprasselten, von der PKK abgefeuert worden seien. Doch fragt man die Menschen, deren Häuser und Existenzgrundlage durch die Raketen zerstört wurden, hört man etwas ganz anderes: »Der Beschuss kam aus einem 15 Kilometer entfernten Militärstützpunkt«, erklärt der Bewohner eines völlig ausgebrannten Hauses.

Wirft man einen Blick in die Bauten, deren Wände von schwerem Beschuss zeugen, so wird deutlich, dass die Angriffe auf die Zivilbevölkerung mit Raketen nicht das einzige Kriegsverbrechen sind, das dieser Tage begangen wurde. »Kriegsverbrechen«, das ist auch das Wort, das von Seiten der linken kurdisch-türkischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) inzwischen verwendet wird. Zahllose Fenster und Wände der Häuser in Gever sind durchlöchert von Kugeln, abgefeuert aus Helikoptern der türkischen Armee.

Tim Krüger und Anselm Schindler berichteten schon im April dieses Jahres direkt aus Kobanê. Sie sind Redakteure von muscovado, einer unabhängigen Zeitschrift aus dem bayerischen Hinterland.