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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 609 / 20.10.2015

Aufgeblättert

Care Revolution

Ziel einer »Care Revolution« ist ein Perspektiv-, aber auch Systemwechsel hin zu einer Gesellschaft, die eine Kultur des Miteinanders und der Solidarität sowie die Sorge für sich selbst und Andere in den Mittelpunkt stellt. Anhand einer feministisch-marxistischen Analyse der Überakkumulationskrise veranschaulicht Gabriele Winker die »Krise sozialer Reproduktion«. Sie macht deutlich, weshalb Reproduktion in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft möglichst kostengünstig und ins Private abgeschoben langfristig nicht erhalten werden kann. Winker thematisiert historische Veränderungen in der Organisation von Reproduktionsarbeit, die Neoliberalisierung in Familien-, Pflege- und Sozialpolitik sowie Zeit- und Existenznöte von bezahlten und unbezahlten Care-Arbeitenden. Hierbei macht sie unterschiedliche Ungleichheitsverhältnisse sichtbar. Ausgehend von der Kritik am Bestehenden zeigt sie Widerständigkeiten und Handlungsspielräume auf und entwirft konkrete Transformationsstrategien. Auch wenn Winker sich in der Analyse vorrangig auf die Verhältnisse in der BRD beschränkt, bietet diese eine gute Basis, um transnationale Zusammenhänge und postkoloniale Verhältnisse im Kontext von Care und Reproduktion weiterzudenken. Lesenswert ist das Buch insbesondere aufgrund der sehr differenzierten und gut strukturierten Analyse unterschiedlicher Ebenen und Wechselwirkungen der Krisenphänomene, die dabei aber weder ausschweifend noch besonders voraussetzungsvoll ist.

Finn Roth

Gabriele Winker: Care-Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Transcript, Bielefeld 2015. 205 Seiten, 11,99 EUR.

Merve Verlag

Der Buchtitel - »Der lange Sommer der Theorie« - eine zweite Auflage innerhalb kurzer Zeit und sich überschlagende Kritiken der bürgerlichen Presse machen neugierig: Im Kern widmet sich der Band der Geschichte des Merve-Verlags und den Lebenswegen von Heidi Paris (1950-2002) und Peter Gente (1936-2014), die den Verlag ab Mitte der 1970er Jahre gemeinsam führten. Der Autor »folgt der Spur ihrer Lektüren, ihrer Debatten und Lieblingsbücher«. 1970 zunächst als sozialistisches Kollektiv gegründet, geographisch eng verknüpft mit Westberlin (günstige Mieten, linkes Milieu), verlagerte der Verlag das Programm vom Marxismus über den (französischen) Poststrukturalismus ab 1980 hin zur Kunst. Die mitreißend geschriebene Schilderung dieser Entwicklung zerfasert von Beginn an in viele kleine, für sich vielfach lesenswerte Stücke und biographische und theoriegeschichtliche Begebenheiten, ohne dass ein roter Faden erkennbar wäre. Spannende Sachverhalte wie etwa die Arbeitsbedingungen im Verlag werden nur en passant und bruchstückhaft abgehandelt. Der Buchtitel selbst ist grob irrendführend - der Aspekt der Revolte bleibt im Dunkeln. Deutlich wird, wie zentral Merve für die Einführung französischer Denker in die deutschsprachigen Theoriedebatten war. Aus heutiger Sicht spannend ist die Nachzeichnung des Weges, wie »linke Suchbewegungen« nach der »marxistischen Konjunktur« der 1970er Jahre auch in Richtung Carl Schmitt und Ernst Jünger führten.

Sebastian Klauke

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. Verlag C.H.Beck, München 2015. 327 Seiten, 24,95 EUR.

Kriegsfotografie

Wie weit darf (oder muss?) man als Kriegsfotograf gehen? Was darf (oder muss?) man den Zuschauer_innen zumuten? Das sind Fragen, die Christoph Bangert mit seinem neuen Fotobuch aufwirft. »War Porn« lautet der provokante Titel der kontroversen Publikation, für die der 1978 geborene Fotojournalist mit dem Deutschen Fotobuchpreis 2015 ausgezeichnet wurde. Und in der Tat: Es wäre ein Leichtes, die Bilder als »pornografisch« zu bezeichnen. Bangert weiß, dass er sich mit den drastischen Bildern, die in den letzten zehn Jahren in Afghanistan, Irak, Indonesien, Libanon und Gaza entstanden sind, angreifbar macht. Sein Buch soll nicht in erster Linie schockieren, sondern neue Kontroversen provozieren - über die Sichtbarkeit des Krieges und die Präsenz von Tod und Gewalt in der (Medien-)Gesellschaft, über die Verantwortung von Bildproduzenten und -konsumenten, nicht zuletzt über das, was man als »Ethik des Hin- und Wegschauens« bezeichnen könnte. Insgesamt ist »War Porn« durchdrungen von permanenter Selbstreflexion. Das wird nicht nur im Vor- und Nachwort explizit. Kleinformatig (12 x 16 cm) und mit einem simplen Pappeinband versehen, sperrt sich das Buch gegen jegliche Form von plakativem Schock. Es wirkt eher wie ein privates Arbeitsjournal. Tatsächlich ist es vor allem dieser reduzierte dokumentarische Gestus, der »War Porn« auszeichnet: als ein bruchstückhaftes und rohes Zeugnis, das die Rede vom »sauberen« Krieg des 21. Jahrhunderts Lügen straft.

Stephanie Bremerich

Christoph Bangert: War Porn. Kehrer Verlag, Heidelberg 2014. 192 Seiten, 98 Farbabbildungen, 29,90 EUR.

Stalin

Oleg Chlewnjuk, geboren 1959 im ukrainischen Winnyzja, ist leitender Mitarbeiter des Staatsarchivs der Russischen Föderation in Moskau. Der Siedler Verlag nennt ihn einen der »führenden Stalinismus-Experten der Gegenwart«. In der Tat: Der Autor der gerade erschienenen Biografie weiß »alles« über Stalin, den Priesterschüler, Revolutionär, Konterrevolutionär, Diktator, Massenmörder - und Patienten. Stalins tagelangem Sterben Anfang März 1953 widmet er mehrere Einschübe, in denen er auch Aspekte der Diktatur erörtert, etwa die das System stabilisierende »Angst im inneren Zirkel«. Der Großteil des Textes aber besteht aus der Nacherzählung von Stalins Leben. Trotz vieler aufschlussreicher Details bleibt nach Lektüre der Erkenntnisgewinn gering. Wie war es möglich, dass Stalin über Jahrzehnte ein riesiges Land, die Staatspartei und die kommunistische Weltbewegung beherrschen konnte? Danach fragt Chlewnjuk ebenso wenig wie nach weniger opferreichen Alternativen beim Aufbau des Sozialismus - für ihn war der rote Oktober 1917 der Ausgangspunkt des Schreckens. Die Vorgeschichte - den Ersten Weltkrieg - erwähnt er nur am Rande. Zugutehalten muss man ihm, dass er auch Geschichtsrevisionisten und Anhänger_innen der Totalitarismusdoktrin enttäuscht. Besonders deutlich widerspricht er der Legende vom geplanten sowjetischen »Präventivkrieg« gegen das Deutsche Reich. Auch das Zustandekommen des Hitler-Stalin-Paktes von August 1939 erklärt er relativ sachlich.

Jens Renner

Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie. Siedler Verlag, München 2015. 590 Seiten, 29,99 EUR.