Willkommen um zu bleiben?
Diskussion Wie aus der aktuellen Hilfewelle für Geflüchtete Langfristiges entstehen kann
Von Laura Lambert, Manuel Liebig und Helge Schwiertz
Während der mediale Mainstream die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe als neue deutsche Willkommenskultur feierte, wurden diese Initiativen in linken Kreisen - vielfach zurecht - kritisiert. So machen Johanna Bröse und Sebastian Friedrich in ak 607 auf die neoliberale Vereinnahmung der Hilfe aufmerksam. Dennoch fehlt es an Analysen, die vermehrt auch die Potenziale und Anknüpfungspunkte der noch andauernden Hilfewelle in den Blick nehmen: Wie kann die momentane Solidarität mit Geflüchteten in großen Teilen der Bevölkerung langfristig für eine antirassistische und (pro-)migrantische Organisierung genutzt werden?
Von der Flüchtlingshilfe zur Asylrechtsverschärfung
In den vergangenen Wochen war das Thema Flucht mehr als umkämpft. Während einerseits Merkel einem Mädchen streichelnd ihre bevorstehende Abschiebung näherbrachte und Rassist_innen mehr und mehr Geflüchtete und ihre Unterkünfte angriffen, nahm andererseits auch das zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete zu. Die Positionierung für Geflüchtete wurde für kurze Zeit zum Mainstream. Viele wollten plötzlich Teil einer Willkommensbewegung sein.
Doch nach dem Willkommensrausch kam der Kater: Die Regierung begrüßte die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe und handelte im gleichen Atemzug anti-migrantische Maßnahmen aus. Bundesinnenminister Thomas de Maizière rechtfertigte mit der Willkommenseuphorie sogar die Wiedereinführung von Grenzkontrollen: »Die große Hilfsbereitschaft, die Deutschland in den letzten Wochen gezeigt hat, darf nicht überstrapaziert werden.«
Asylrechtsverschärfungen und ehrenamtliche Willkommenskultur waren zusammen die passende Antwort auf eine vermeintliche »Flüchtlingskrise«. Staatliche Aufgaben wurden an die spontanen Hilfsstrukturen ausgelagert. Dort entstand ein unreguliertes Machtverhältnis zwischen Helfer_innen und Hilfsempfänger_innen. Geflüchtete wurden von den »Ein-Lächeln-reicht«-Launen abhängig, die sich an ihrer Dankbarkeit und dem Wohlwollen der Helfenden messen.
Auf diese Launen ist jedoch kein Verlass und sie können rechtliche Leistungsansprüche nicht ersetzen. Bereits jetzt findet auch hier eine Unterscheidung in legitime Fluchtgründe und ökonomisch motivierte Migration statt. Folgt als nächstes die Entscheidung der Helfenden, wem sie die zu knappen Hilfsgüter zuteilwerden lassen?
Die rassistischen Normalzustände und der inszenierte Notstand des Migrationsregimes im Inland und an den Außengrenzen können deshalb nicht von einer improvisierten Willkommensbereitschaft aufgefangen werden. Hierfür braucht es langfristig angelegte Projekte, die neben einer Unterstützung bei Alltagsfragen eine Kritik anti-migrantischer Politik in sich tragen.
Politisierte Nachbarschaftshilfe
Ein Beispiel hierfür ist die Hamburger Initiative Refugees welcome - Karoviertel. Sie gründete sich Anfang August, als über 1.000 Geflüchtete in den Messehallen untergebracht wurden. Von verschiedenen Arbeitsgruppen werden Übersetzungen, Deutschkurse, Rechtsberatung, medizinische und psychologische Versorgung, Kinderprogramme und ein Chor angeboten. Auch wird auf die spezifische Situation von Frauen, Lesben, Bi-, Trans und Intersexuellen sowie queeren Menschen eingegangen.
Über 100.000 Euro wurden inzwischen als Sach- und Geldspenden gesammelt. Eine englisch- und arabischsprachige Karte verzeichnet die verschiedenen Angebote im Viertel, bei diversen Willkommensfesten kamen die neuen Nachbar_innen zusammen. Das verändert auch die Unterstützer_innen und den Stadtteil. Solidarische Bezüge entstehen, die mehr sind als eine einseitige Hilfe für Geflüchtete. Durch die alltägliche Interaktion können neue »postmigrantische« Gemeinschaften entstehen - wenn die internen Machtverhältnisse reflektiert werden.
Die Arbeit der Karoviertel-Initiative bleibt nicht bei humanitärer Hilfe stehen. Sie versucht, in basisdemokratischen Stadtteilversammlungen gemeinsame Forderungen zu entwickeln. In ihrer Resolution tritt sie dafür ein, dass Geflüchtete eine »gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben« haben können: »Welchen Aufenthaltsstatus die europäische Flüchtlingspolitik den Menschen zuweist, interessiert uns nicht. Wer hier angekommen ist, gehört dazu und bleibt.«
Viele erfahrene Antira-Aktivist_innen haben diesen Prozess unterstützt. »Die Willkommenskultur ist gerade das Feld, auf dem wir spielen«, sagt Tanja van de Loo von der Initiative. Nachdem »Refugees Welcome« im Mainstream angekommen sei, gehe es ihr nun darum, andere Inhalte und Slogans wie »Kein Mensch ist illegal« oder »freedom of movement« (Bewegungsfreiheit) zu platzieren. Zudem solle die Praxis des Selbermachens und die Selbstermächtigung im Stadtteil als generelle Methode forciert werden.
Auf der Versammlung Ende September kamen unter dem Titel »Refugees welcome - wie weiter« knapp 700 Menschen im Millerntor-Stadion des FC St. Pauli zusammen. Ein Geflüchteter berichtete über die Unterbringungssituation in den Messehallen. Das Netzwerk Recht auf Stadt kritisierte die Einrichtung neuer Notunterkünfte jenseits jeglicher Unterbringungsstandards am Stadtrand und forderte ein allgemeines »Recht auf Zugang zur Stadt«.
Diese politischen Stimmen teilen nicht alle in den vielen Initiativen, die sich in Hamburg gerade für eine lokale Willkommenskultur einsetzen. Einige Helfende aus der Kleiderkammer in den Messehallen betonen immer wieder, dass sie ihre Arbeit als unpolitisch sehen. Dagegen fordert Abimbola Odugbesan von der Gruppe Lampedusa in Hamburg mehr als die rein humanitäre Unterstützungsarbeit von den Helfenden: »Wir wissen die humanitäre Unterstützung wirklich zu schätzen, wir begrüßen, wie ihr uns moralische und finanzielle Unterstützung gebt, aber wir brauchen auch eure politische Unterstützung.«
Zur Unterstützung ihres Protests am Michel ruft auch die Roma-Selbstorganisierung Romano Jekipe Ano Hamburg auf. Seit Mitte September hält die Gruppe die Hauptkirche St. Michaelis besetzt, um sich gegen ihre drohende Abschiebung in den Balkan zu wehren. (Siehe Seite 14) Sie kritisieren den staatlichen Umgang mit Roma als »zynische Kehrseite des Refugee-Welcome-Trends«.
In Hamburg wird bereits eine Großdemonstration für den 14. November geplant, bei der die politischen (Selbst-)Organisierungen zusammen mit den konkreten Unterstützungsarbeiten zu einem kollektiven Protest werden sollen. Die wichtige Lektion ist hier, dass Unterstützung und Aktivismus, Sicherung des Lebens und Problematisierung der prekären Zustände zusammengehen müssen.
Nicht jede individuelle Unterstützung ist per se karitativ motiviert: Wie eine Untersuchung der Migrationsforscher Serhat Karakayal? und Olaf Kleist unter rund 500 Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsarbeit von Ende 2014 zeigte, erkannten viele der Ehrenamtlichen Fluchtgründe als legitim an. Drei Viertel wollten mit ihrem Handeln etwas in der Gesellschaft bewegen. Nicht jede Willkommensinitiative hat aber wie das Hamburger Beispiel selbst die Ressourcen, um politische Kampagnenarbeit zu betreiben. Doch das heißt nicht, dass sie per se unpolitisch sind. Die Kampagnenerfahrenen könnten hier zudem Angebote zur öffentlichen, rassismuskritischen Flankierung der Willkommenskultur machen.
Dennoch müssen für einige Dimensionen der Flüchtlingshilfe auch erst einmal kritische Positionen entwickelt werden: Ist Mithelfen im überfüllten Lager zu vereinbaren mit einer grundsätzlichen Kritik an den Lagern? Wie kann die Selbstorganisierung von Geflüchteten in dieser Situation gestärkt werden? Welche Angebote kann die organisierte Linke machen, um den durch die staatliche Krisenpolitik produzierten Erschöpfungszustand der Ehrenamtlichen zu verhindern und langfristiges Engagement zu ermöglichen?
Politische Nachbarschaftshilfe wie die im Karoviertel gibt es vielerorts. In Berlin arbeitet die Neue Nachbarschaft Moabit seit zwei Jahren daran, einen partizipativen Raum zu schaffen, in dem Geflüchtete und Unterstützer_innen gemeinsame Aktivitäten organisieren, Zeit verbringen, Kontakte aufbauen. In ihrem Selbstverständnis richtet sie sich gegen die gegenwärtige Hierarchisierung von Geflüchteten: »Ob gut gebildete, politisch verfolgte Menschen oder Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen sind und noch keinen Zugang zu Bildung in deren Heimatländern gehabt haben, wir behandeln alle gleich.« Auch gegen Abschiebungen engagiert sich die Initiative.
Im Karoviertel und in Moabit unterstützen Menschen, die teilweise zum ersten Mal politisch organisiert sind, Geflüchtete in prekären Lagen. Herauszustellen bleibt, dass die Projekte miteinander verwirklicht werden und keine einseitige Wohltätigkeit stattfindet. Eine gemeinsame Bearbeitung des Einzelfalls kann auf die abstrakten Verhältnisse verweisen. So könnte eine kritische Masse entstehen, die sich über eine gelebte Willkommenskultur in antirassistischer Politik wiederfindet.
Von Hilfeleistungen zu solidarischen Strukturen
Gegenüber dem spontanen Hilfemainstream hat die solidarische Unterstützungsarbeit eine lange Tradition. Im Manifest des antirassistischen Netzwerks Kein Mensch ist illegal von 1997 rufen die Verfasser_innen dazu auf, »MigrantInnen bei der Ein- oder Weiterreise zu unterstützen. Wir rufen dazu auf, MigrantInnen Arbeit und Papiere zu verschaffen. Wir rufen dazu auf, MigrantInnen medizinische Versorgung, Schule und Ausbildung, Unterkunft und materielles Überleben zu gewährleisten.«
Diese Verknüpfung von radikalen Maßnahmen und lebensweltlicher Unterstützung kann auf die Willkommensinitiativen angewendet werden, ohne dass diese ihre Offenheit gegenüber Menschen aus diversen sozialen Zusammenhängen verlieren sollten. Das Ziel muss immer den Kampf um gleiche soziale wie politische Rechte einschließen und das große Ganze im Blick behalten: Das aus der Diskussion geratene Massensterben im Mittelmeer, die anti-migrantische Politik im Inland und an den EU-Außengrenzen, Europas Verursacherrolle von Ausbeutung, Kriegen und Krisen.
Die kommende Asylrechtsverschärfung könnte eine erste Zerreißprobe für die Willkommensinitiativen werden. Nach Empathie und moralischer Beteiligung müssen politische Positionierungen folgen, nach karitativer Hilfe politische Aktionen. Und hier kann interveniert, die Stimmung und Motivation der bereits Aktiven aufgegriffen und in die richtige Richtung geleitet werden: gegen das Migrationsregime, die deutsche Vorherrschaft in Europa, für Bewegungsfreiheit, Bleiberecht und ein Recht auf Stadt für alle.
Der lange Sommer der Migration hat gesellschaftliche Veränderungen angestoßen. Nun kommt es darauf an, ihnen den richtigen Spin zu geben.
Laura Lambert, Manuel Liebig und Helge Schwiertz sind in unterschiedlichen linken Zusammenhängen aktiv und Teil von kritnet, dem Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.