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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 609 / 20.10.2015

Tektonische Verschiebungen

International Israel und die geostrategischen Machtkämpfe im Nahen und Mittleren Osten - Überlegungen zur Lage in einer sich verändernden Region

Von Achim Rohde

Seit dem Arabischen Frühling ist die Tektonik des Nahen und Mittleren Ostens in Bewegung geraten. Derzeit ist die Region ein Schlachtfeld für geostrategische Machtkämpfe zwischen verschiedenen regionalen und globalen Akteur_innen. Diese Entwicklungen bedeuten zugleich einen Kontrollverlust der USA, die mit dem Irakkrieg von 2003 einen erheblichen Anteil an der Destabilisierung der Region hatten. Wie positioniert sich die israelische Regierung angesichts dieser für das Land riskanten Entwicklungen? Welchen Platz wird Israel in der Region in Zukunft einnehmen?

Israelische Politiker_innen bemühen in diesem Zusammenhang gern das Bild einer »Villa im Dschungel« und präsentieren das Land als isolierte Insel der Zivilisation inmitten einer als chaotische Gegenwelt imaginierten Region. Israel sei ein Hort der Liberalität und des technologischen Fortschritts, die einzige Demokratie des Nahen Ostens, ein Bollwerk gegen islamistischen Terror. Dagegen würden die Menschen in den arabisch-muslimischen Nachbarländern ihr Dasein in brutalen Gefängnisstaaten fristen, es aber aufgrund kultureller und politischer Traditionen letztlich nicht schaffen, ihre Diktatoren zu verjagen und ein friedliches demokratisches Gemeinwesen zu errichten; vielleicht sogar würden sie unter der Knute autoritärer Herrscher am ehesten existieren können, ohne sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.

Sympathie für Orbans Politik

Diese auch den Palästinenser_innen unterstellte, irrationale und fanatische Grundhaltung und nicht zuletzt chronische Israelfeindschaft seien auch für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich. Zu dieser Sichtweise passt es natürlich auch, dass Israel - mit Ausnahme eines seit 2013 in den Gazastreifen eingereisten 1.500 Menschen umfassenden Kontingents - keine syrischen Flüchtlinge ins Land lässt, schon gar keine mit palästinensischen Wurzeln, wie von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und palästinensischen zivilgesellschaftlichen Initiativen kürzlich gefordert. Bereits im Land befindliche Flüchtlinge, vor allem aus Eritrea und Sudan, werden abgeschoben, in Internierungslager in der Negev-Wüste gesteckt oder in israelischen Städten als billige Arbeitskräfte hyperausgebeutet. Sympathien für die Politik der Regierung Orban in der gegenwärtigen »Flüchtlingskrise« waren in der israelischen Öffentlichkeit zuletzt unüberhörbar.

Die mittlerweile in Beton gegossene, mit Raketenschilden und Drohnen befestigte Politik der Abschottung hat ihren Ursprung freilich schon in den scheinbar so rosigen Jahren des Oslo-Prozesses. Damals begannen israelische Regierungen, eine strikte soziale Trennung zwischen der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung durchzusetzen, indem sie ein separates Straßennetz für israelische Siedler_innen in Westbank und Gaza errichteten und den israelischen Arbeitsmarkt (innerhalb der Staatsgrenzen von 1948) für Palästinenser_innen aus den besetzten Gebieten schlossen. Diese Politik schien im Widerspruch zu der Vision eines »neuen Nahen Ostens« zu stehen, wie sie der ehemalige israelische Präsident und Oslo-Architekt Shimon Peres formulierte. Danach sollte eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts als Ausgangspunkt für eine politische wie wirtschaftliche Integration Israels in die weitere Region dienen. Dass damit nicht viel mehr als die Öffnung regionaler Märkte für israelische Produkte und Investitionen sowie die Auslagerung bestimmter Produktionsfelder in angrenzende Billiglohnländer gemeint war, keinesfalls aber ein wirklicher politischer Ausgleich, wurde meist übersehen. Dieser Diskurs wurde von neoliberalen Überlegungen einer regionalen Integration getragen. Seit den Nullerjahren ist er, infolge der zweiten Intifada, von einem in Israel mittlerweile hegemonialen neo-konservativen Rollback verdrängt worden, als dessen Ikone der amtierende israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sich auch global zu inszenieren weiß.

Der Arabische Frühling ließ Demokratiebewegungen in den arabischen Nachbarländern aufblitzen, von deren Existenz die Welt nichts geahnt hatte, während das Image der »einzigen Demokratie des Nahen Ostens« durch die israelische Kriegführung im Gazastreifen und die alltägliche Tyrannei der Besatzung angekratzt wird. Die fortschreitende Aushöhlung demokratischer Rechte auch innerhalb Israels trägt ein Übriges zu dieser Entwicklung bei. Bei näherer Betrachtung scheint das Land sich in mancher Hinsicht gar nicht mehr so sehr von seinen Nachbarn zu unterscheiden: So fanden die israelischen Sozialproteste von 2011 nicht nur zur selben Zeit wie die arabischen Aufstände statt, sie speisten sich auch aus teilweise identischen (ökonomischen) Motiven. Der wachsende orthodoxe Sektor der jüdisch-israelischen Gesellschaft und die seit einigen Jahren zu beobachtende Fusion zwischen religiösen und nationalistischen Strömungen verstärken zudem eine Entsäkularisierung der israelischen Politik, die anderswo in der Region längst Standard ist.

Pfeifen im Walde

Nimmt man das gesamte ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina in den Blick, ergibt sich das Bild eines in mehrere Sphären unterteilten israelischen Herrschaftssystems, in dem eine Bevölkerungsgruppe systematisch unterdrückt und enteignet wird in einer Weise, wie sie Kurd_innen in Teilen durchaus bekannt vorkommen dürfte. Sogar die Argumente klingen vertraut, die israelische Politiker_innen zur Legitimation der fortdauernden Besatzung vorbringen: So behauptete die amtierende Außenministerin Tsipi Hotovely kürzlich, jedwedes Nachgeben gegenüber den Palästinenser_innen bringe lediglich den Islamischen Staat (IS) an die israelischen Außengrenzen. Dabei ist gerade die fortdauernde Besatzung der wichtigste Grund für die Erosion der Palästinensischen Autonomiebehörde und die Stärkung radikalerer Kräfte in der Bevölkerung. Die Durchsetzung eigener Interessen unter dem Deckmantel des »Krieges gegen den Terror« ist eine Taktik, die in ganz ähnlicher Weise auch von anderen Potentaten in der Region angewandt wurde und wird, um die Unterdrückung der Bevölkerung zu rechtfertigen.

Tatsächlich kooperiert Israel mehr oder weniger unauffällig seit langem mit Vertretern der Regime in der Region, insbesondere mit Saudi-Arabien. Erklärtes Ziel ist eine Allianz mit »gemäßigten« arabisch-sunnitischen Regimen gegen den Iran. Seit dem Atom-Abkommen mit dem Iran und dem Scheitern israelischer und republikanischer Bemühungen, es im US-Kongress zu kippen, wirkt dieser Pfeiler der israelischen Außenpolitik ziemlich brüchig. Israel wird sich mit den daraus resultierenden veränderten Rahmenbedingungen arrangieren müssen. Auch die jahrelang erfolgreiche Taktik der israelischen Diplomatie, die Betonung der »iranischen Gefahr« zur Ablenkung internationaler Aufmerksamkeit von der Besatzung und der schleichenden Annexion der Westbank zu nutzen, dürfte sich erledigt haben. Als Netanjahu in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am 1. Oktober wie in den Vorjahren die iranische Bedrohung Israels ins Zentrum rückte und eine wütende Tirade gegen das gesamte Plenum vom Stapel ließ, wirkte das angesichts der breiten weltweiten Unterstützung des Atom-Abkommens wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde.

Inwiefern Israels Verhältnis zu seinem Washingtoner Hauptsponsor durch dieses Zerwürfnis auf längere Sicht gestört ist, wird sich wohl erst herausstellen, wenn Obamas Nachfolger_in im Amt ist. Nicht egal sein kann Israel das verstärkte Engagement Russlands im syrischen Bürgerkrieg auf Seiten des Assad-Regimes und die damit einhergehende strategische Schwächung der USA in der Region. Unmittelbar dürfte durch Putins Luftwaffe die israelische (sowie die US-amerikanische, französische und britische) Bewegungsfreiheit im syrischen Luftraum eingeschränkt werden. Netanjahus Besuch in Moskau Mitte September gemeinsam mit hochrangigen Militärs und Geheimdienstlern dürfte der gegenseitigen Abstimmung in diesem Zusammenhang gedient haben. Der bisherigen Allianz zwischen Israel, sunnitischen Autokratien und den USA erwächst durch die Achse Moskau-Damaskus-Teheran ein deutliches Gegengewicht.

Vor der dritten Intifada?

In absehbarer Zukunft wird es eine Intensivierung der Kriegshandlungen in Syrien geben, unter der die Zivilbevölkerung wie bisher am meisten zu leiden haben wird. Wenn die Erfahrungen der USA und ihrer Verbündeter in Afghanistan und Irak irgendeinen Hinweis für den Ausgang dieser neuen Runde des »Krieges gegen den Terror« liefern, dann wird gerade der als Hauptgegner ausgerufene IS längerfristig wohl gestärkt aus diesem Gemetzel hervorgehen. Derzeit betrachtet die israelische Regierung das Erstarken des vom Generalstab als militärisch handhabbar eingeschätzten IS gelassen, konzentriert sich stattdessen auf die strategische Bedrohung durch einen von Sanktionen befreiten Iran und arbeitet fleißig an der innenpolitischen Transformation Israels entlang türkischer und ungarischer Vorbilder. Der heilige Gral bleibt weiterhin die »Vollendung des Krieges von 1948«, also die Einverleibung der Westbank in das israelische Staatsgebiet, möglichst unter Ausschluss der dort lebenden Palästinenser_innen.

Solange die jüdisch-israelische Bevölkerung diese Politik mehrheitlich gutheißt, solange die Welt mit anderen Krisen beschäftigt ist und solange die palästinensischen Hilfssheriffs in Ramallah stillhalten, wird all dies weitergehen wie bisher. Aber was passiert, wenn Mahmud Abbas oder sein Nachfolger als Präsident der Autonomiebehörde tatsächlich die volle Verantwortung für die Sicherheit und die gesamte Infrastruktur in den besetzten Gebieten an Israel zurückgibt, wie von Abbas in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung angedroht? Noch schlimmer: Was passiert, wenn die Autonomiebehörde irgendwann einfach zerfällt oder von einem Aufstand gestürzt wird, der oft herbeigeredeten und gegenwärtig sich immer deutlicher ankündigenden dritten Intifada? Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die israelische Regierung mit einer solchen Herausforderung qualitativ anders umgehen würde als die Tyrannen in der Region.

Achim Rohde arbeitet am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps-Universität Marburg.