Chlorhenne oder neoliberales Ei?
EU-Kritik Die Europäische Union ist nicht nur in ihren eigenen Strukturen neoliberal geprägt, sondern fördert dies auch nach außen - das zeigt auch TTIP
Von Hanna Lichtenberger
Wer in den 2000er Jahren politisiert worden ist, kann wohl zwei Schlagwörter nur noch schwer hören: Neoliberalismus und Globalisierung. Zwei Entwicklungen, so war man sich lange sicher, die von den USA ausgehend auch Europa durchdrangen. Dass die Europäische Union (EU) dabei selbst umtriebige Akteurin neoliberaler Globalisierungspolitiken war und ist, passt nicht in die antiamerikanische Erzählung, wie sie mitunter auch bei den Protesten gegen das TTIP-Abkommen angestimmt wird.
Das Chlorhuhn wurde zum absoluten Schreckensgespenst der TTIP-Gegner_innen und Sinnbild dafür, was alles drohe, wenn sich die USA mit den schlimmen Lebensmittelstandards in den Verhandlungen durchsetzen. Im Kontext der Proteste gegen das TTIP-Abkommen kamen zum Teil Erklärungsmuster wieder auf, die an antiamerikanische Globalisierungskritik anknüpfen. Vergessen wird dabei oft, dass die Entstehung der EU eng an die Durchsetzung neoliberaler Interessen geknüpft ist und dass diese in ihre Apparate, Mechanismen und Strukturen eingeschrieben sind. Im Falle des TTIP-Abkommens wird deutlich, dass auch die EU Forderungen zur Deregulierung stellt, etwa im Bereich der Finanzmärkte, und keineswegs passive Akteurin in den Verhandlungen ist.
Der gemeinsame Markt
Die Idee eines gemeinsamen europäischen Marktes ist deutlich älter als das junge Gebilde EU. Schon während des Zweiten Weltkrieges wurde ein solcher von liberalen Kräften angedacht. Unmittelbar nach 1945 dominierten in Europa zwar Politiken des New Deals und der Kooperation, wie die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl deutlich macht. Aber schon Ende der 1950er Jahre verdichten sich Vorstellungen eines gemeinsamen westeuropäischen Marktes erneut. Schlüsseljahr hierfür ist das Jahr 1957. In Rom wurde damals der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterschrieben und damit die ersten Schritte für einen gemeinsamen Markt ohne Einschränkung des Wettbewerbs gesetzt. (1) Es dauerte aber noch knapp 30 Jahre, bis aus der Zollunion Mitte der 1980er Jahre durch die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) tatsächlich eine europäische Wirtschaftsintegration über den freien Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte entstand.
Diese Neugestaltung des »Gemeinsamen Markts ohne Grenzen« ist für den Sozialwissenschafter Stephen Gill ein zentrales Argument dafür, dass sich die europäische Integration unter neoliberalen Vorzeichen entwickelte. Denn neomerkantilistische Projekte der europäischen Integration, die auf einseitige Abschottung und Export setzten, konnten sich nie gegen die neoliberalen Projekte durchsetzen. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führte dazu, dass gemeinsam erarbeitete Normen und Sanktionierungsmaßnahmen umgangen wurden, wodurch sich niedrige Standards durchsetzten und das Prinzip so Liberalisierungstendenzen in die Hände spielte. Begleitetet wurde dies auch von einer Reihe von Privatisierungswellen.
In den Maastricht-Verträgen wurde 1992 ein weiterer Schritt zur neoliberalen Strukturierung Europas gesetzt, die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sollte die Schaffung einer gemeinsamen Währung und der von politisch-demokratischen Kontrolle ausgenommenen Europäischen Zentralbank (EZB) führen. Drei bzw. fünf Jahre später wurden die sogenannten Konvergenzkriterien zur Stabilisierung der neu geschaffenen Währung auf Druck von Deutschland hin eingeführt. Diese sahen vor, dass die jährliche Neuverschuldung maximal drei Prozent und die Gesamtschuldenlast nur 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausmachen durfte. Die restriktiven Währungs- und Haushaltspolitiken hatten Auswirkungen auf die Ausgestaltung von Arbeits- und Sozialgesetzgebungen und einschneidenden Maßnahmen in vielen EU-Mitgliedsstaaten.
Politik der Globalisierung
Um die EU zum »wettbewerbsfahigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen« verabschiedete der Rat im März 2000 die Lissabon-Strategie - ein nächster Vorstoß im neoliberalen Umbau der EU. Durch die Etablierung des »Prinzips der Eigenverantwortung« zur angeblichen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Auch die EU-Osterweiterung (2004) ist hier einzuordnen. Martin Brand ist sicher, dass »die Europäische Nachbarschaftspolitik ... Teil des Puzzles ist, mit dem neoliberale Ideen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auch in den osteuropäischen Nachbarländern etabliert werden«. (2)
Liberalisierungseffekte traten schon am Beginn der europäischen Integration nicht nur im Binnenhandel, sondern auch im Außenhandel zutage. Besonders exportorientierte Länder wie Deutschland, die Niederlande und Großbritannien verhinderten eine Abschottung und setzen in den 1990er Jahren weitere Initiativen zum Abbau sogenannter Außenhandelsbarrieren durch. Die europäische Integration ist deshalb nicht nur in ihren eigenen Strukturen neoliberal geprägt, sondern fördert dies auch nach außen. Schon im Verlauf der Uruguay-Runde (1986-1994), die als ein Ergebnis die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995 hatte, vertraten die EU-Staaten gemeinsam mit den USA die Position, die internationale Handelsagenda noch weiter auszudehnen. Dies zeigt sich etwa in der Unterstützung der Teil-Abkommen GATS, TRIPS und TRIMS. (3)
Auch in den Folgerunden vertrat die EU die sogenannten Singapurthemen: Wettbewerbspolitik, Investitionsschutz, öffentliches Auftragswesen und administrative Handelserleichterungen. Erst der Widerstand zahlreicher Schwellenstaaten führte zu einem Rückzieher der EU. Hans-Jürgen Bieling argumentiert deshalb, die EU führe seither »eine mehrdimensionale Strategie, um die Öffnung anderer Märkte für europäische Waren und Investitionen voranzutreiben.« (4) Die bilateralen Abkommen enthielten nur wenige Liberalisierungsverstöße, diese wurden eher im Bereich der WTO-Plus-Verträge versucht. Seit dem Stocken der Verhandlungen sucht die EU andere Wege.
Und dann ist da noch TTIP
In den aktuellen, hitzig geführten Debatten um das TTIP-Abkommen heißt es nun einmal mehr, es gehe der USA darum, europäische Sozial- und Umweltstandards zu untergraben und zur weiteren Festschreibung neoliberaler Politik beizutragen. Auch hier zeigt sich bei genauerer Betrachtung des EU-Verhandlungsmandates, dass die EU als selbstständige Akteurin agiert und eine Vertiefung neoliberaler Verhältnisse zum Ziel hat. Weil innerhalb der Welthandelsorganisation WTO keine großen Liberalisierungssprünge mehr möglich sind, baut die EU ein Netz an bilateralen Abkommen mit EU-Drittstaaten auf. So schloss die EU etwa zwischen 2010 und 2013 Verträge unter anderem mit den ASEAN-Staaten (Malaysia, Thailand, Singapur, Vietnam), Südkorea, fünf mittelamerikanischen Staaten (Costa Rica, Honduras, Guatemala, Panamá, El Salvador und Nicaragua) oder auch Peru und Kolumbien ab. Aber auch mit Japan und Kanada wurde über die Errichtung von Freihandelszonen verhandelt.
Das derzeit verhandelte TTIP-Abkommen soll etwa die Hälfte des weltweiten Handels umfassen und zu einem Verdrängungswettbewerb für andere Weltmarktakteure führen. Die USA und die EU wollen damit ihre Dominanz im Welthandel stabilisieren und geben ihre eigenen Maßstäbe für andere Staaten vor. Die EU versucht derzeit vor allem, hinsichtlich der Finanzmarktliberalisierung ihre Deregulierungspolitik auszuweiten. So fordert sie im Rahmen der TTIP-Verhandlungen etwa die Rücknahme der 2015 in den USA in Kraft getretenen Volcker-Regel, die unter anderem den Eigenhandel der Geschäftsbanken begrenzt. (5)
In der Frage, was zuerst war, die Chlorhenne oder das neoliberale Ei der europäischen Integration, ist die Antwort klar. Das TTIP-Abkommen soll die Vormachtstellung der USA und der EU am Weltmarkt gegen China verteidigen und stabilisieren. Neoliberale Politik würde aber nicht erst mit dem in TTIP vorgesehenen Rat für Regulatorische Zusammenarbeit oder dem umstrittenen ISDS-Abkommen (Investitionsschiedsverfahren) in der EU verankert. Schon in die bestehenden EU-Institutionen sind ein starkes Demokratiedefizit und neoliberale Interessen eingeschrieben.
Hanna Lichtenberger ist Redakteurin des Wiener Blog-Projektes mosaik - Politik neu zusammensetzen.
Anmerkungen:
1) Der Vertrag ist zusammen mit dem EURATOM-Gründungsvertrag (zur Förderung der Atomkraft) auch als die Römischen Verträge bekannt.
2) Martin Brand: Die Europäische Nachbarschaftspolitik - ein neoliberales Projekt? In: UTOPIE kreativ 217/2008, S. 1005.
3) Die drei Übereinkommen des Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT) über Handel- und Dienstleistungen (GATS), handelsbezogene Aspekte, die die Rechte des geistigen Eigentums betreffen (TRIPS) und der Schutz von Investitionen (TRIMS).
4) Hans-Jürgen Bieling: Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union. Wiesbaden 2010, S. 136.
5) Vgl. Christoph Scherrer: Auspolierte Kratzer. Das US-Finanzkapital: Durch mehr Regulierung weiter hegemonial? In: PROKLA 2/2015.