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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 609 / 20.10.2015

Präservativ gegen den Jihad

Diskussion Eine neue Studie wertet Biografien von desertierten IS-Kämpfer_innen aus

Von Thomas Schmidinger

Während sich weiterhin junge Europäer_innen zu jihadistischen Organisationen in Syrien und im Irak aufmachen, um dort zu töten und zu sterben, kehren zeitgleich seit einigen Monaten vermehrt ehemalige Kämpfer_innen nach Europa zurück. Es sind mehr Rückkehrer als Rückkehrerinnen.

Von den Frauen, die nach Syrien gingen, um einen Jihadisten zu heiraten, haben bisher nur wenige ihren Weg zurückgefunden. Junge Frauen werden oft direkt in Istanbul von IS-Schleppern abgeholt und in vom IS kontrollierte Städte gebracht. Die konkrete Erfahrung mit Jihadistinnen aus Österreich und Deutschland zeigt, dass sie kaum die Möglichkeit haben, wieder zurückzukehren. Junge Frauen werden meist nach dem Tod ihres »Ehemanns« gleich wieder mit einem Jihadisten verheiratet. Frauen, die in den Städten und in »Frauenhäusern« des IS streng bewacht werden, haben zudem viel geringere Chancen zu fliehen. Viele der Mädchen und Frauen werden oft bald schwanger und stehen dann vor dem Problem, entweder mit einem Baby fliehen oder dieses zurücklassen zu müssen. Viele dieser Frauen sind außerdem extrem jung und ungebildet. In Fällen, in denen ich mit jungen rückkehrwilligen Frauen über Whatsapp und andere soziale Medien in Raqqa in Kontakt war, musste ich manchen zuerst einmal erklären, wo sie sich überhaupt befinden, wie weit die türkische Grenze entfernt ist und in welche Richtung.

Rückkehrer sind männlich

Zwar gilt auch die Rückkehr von Männern den Jihadisten als Desertion. Allerdings ist es Männern noch immer eher möglich, sich von der Truppe zu entfernen, sich im Kampf gefangen nehmen zu lassen oder - was auch schon vorgekommen ist - die eigenen Kameraden zu erschießen, um flüchten zu können. Insofern haben wir es bei den Rückkehrer_innen überwiegend mit Rückkehrern zu tun. Mit ihnen erhöht sich auch die Zahl jihadistischer Häftlinge, für die derzeit dringend Resozialisierungs- und Defanatisierungsprogramme benötigt werden. Dies betrifft allerdings nicht nur Gefangene.

Eine Studie des Professors für Sicherheitsstudien Peter R. Neumann, Direktor des International Centre for the Study of Radicalization and Political Violence (ICSR) am Londoner King's College, hat nun im September 2015 erstmals die Biografien von 51 desertierten ehemaligen IS-Kämpfern und sieben IS-Anhängerinnen ausgewertet. Damit bekommen wir einen ersten Überblick, wie weit die jihadistische Ideologie bei Rückkehrer_innen hinterfragt wird bzw. wie weit diese immer noch eine Gefahr darstellt. Neumann und sein Team haben für diese Arbeit Betroffene aus dem Zeitraum zwischen Januar 2014 und August 2015 befragt und ist mit der Interpretation der bearbeiteten Fälle entsprechend vorsichtig.

Vorwurf: IS ist unislamisch

Neumann weist selbst darauf hin, dass einige der Deserteure ihre eigene Rolle und ihre Positionen nicht vollständig wiedergeben, etwa um sich strafrechtlich zu entlasten. Beispiel Österreich: Ein sehr junger Rückkehrer, der sich vor Gericht als reumütig darstellte, zeigte sich bei näherer Betrachtung alles andere als »deradikalisiert«. Der betroffene junge Mann teilt bis heute über weite Strecken ein jihadistisches Weltbild und kam wohl primär wegen medizinischer Notwendigkeiten aufgrund einer schweren Verwundung nach Österreich zurück. Interviews mit Rückkehrer_innen sind daher mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Genau diese Vorsicht lässt Neumann in seiner Studie jedoch walten, was deren Ergebnisse vielleicht weniger spektakulär, jedoch umso wertvoller macht.

Dabei kam Neumann zu dem Schluss, dass von den Betroffenen vier Hauptgründe angegeben wurden, weshalb sie sich vom IS abgewendet hätten: 1. Der IS sei mehr daran interessiert, gegen andere Muslime zu kämpfen als gegen das Assad-Regime. 2. Die Brutalität des IS gegen andere sunnitische Muslime. 3. Das »unislamische Verhalten« und die Korruption des IS. 4. Schwierige und enttäuschende Lebensumstände im IS.

Nicht bedauert wurde die Brutalität gegen schiitische Muslime und Muslima oder Jesid_innen, was darauf hindeutet, dass die Deserteure weiterhin große Teile der jihadistischen Ideologie teilen, insbesondere deren Gewaltbereitschaft gegen religiöse Minderheiten. Wenn diese Zweifel bei Rückkehrer_innen nicht mit professionellen Deradikalisierungsprogrammen genutzt werden, besteht damit die Gefahr einer sekundären Radikalisierung. Es gibt bereits Fälle, in denen ehemalige IS-Kämpfer_innen nach ihren für sie enttäuschenden Erlebnissen erneut nach Syrien gingen, um in den Reihen der Jabhat al-Nusrah zu kämpfen.

Interessant ist an der Studie auch, was man dabei indirekt über das Innenleben des IS erfährt. Offenbar gelingt es dem IS keineswegs, die durch die Propaganda emporgeschraubten Erwartungen seiner Anhänger_innen zu erfüllen. Die Lebensbedingungen im »Khalifat« sind offenbar wesentlich harscher, als es von europäischen Jihadisten_innen erwartet wird. Neumanns Studie belegt zudem die bereits aus einer Reihe von deutschen und österreichischen Fällen bekannte Problematik, dass es extrem schwierig ist, den IS zu verlassen. Die Befragten schildern als erstes großes Problem, wie sie vom IS-Gebiet in ein nicht vom IS gehaltenes Territorium gelangen können. Viele der Befragten fühlen sich allerdings auch danach noch nicht sicher und fürchten Racheakte des IS, durchaus auch in Europa.

Tickende Zeitbomben

Trotzdem empfiehlt Neumanns Studie europäischen Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Wert und die Glaubwürdigkeit der Narrative der Deserteure anzuerkennen und ihnen Möglichkeiten zu geben, ihre Geschichten in der Öffentlichkeit zu erzählen. Dafür sei es allerdings notwendig, dass Europa die Sicherheit der IS-Deserteure garantiere und legale Hindernisse aus dem Weg räume, den Deserteuren Plattformen zu bieten. Dies klingt banaler als es ist. Bislang behindern Justiz und Justizwache eher den Zugang von Medien zu den Gefangenen - und zwar auch dann, wenn es sich um verantwortungsvolle Journalist_innen von Qualitätsmedien handelt und nicht um die Boulevardpresse.

Tatsächlich wären solche Narrative sehr wertvoll für die Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit. Ehemalige IS-Kämpfer_innen können der Propagandaerzählung des IS wesentlich authentischer ihre Erlebnisse vor Ort entgegenhalten. Allerdings zeigt der Mangel an Distanzierung von der Gewalt gegen religiöse Minderheiten auch, dass hier Vorsicht geboten ist. Öffentliche Auftritte ehemaliger Kämpfer_innen müssen deshalb in ein entsprechendes Programm eingebettet und von kompetenten Fachleuten begleitet werden. Es macht wenig Sinn, wenn die ehemaligen Kämpfer_innen vor dem IS warnen und zugleich andere jihadistische Gruppen verharmlosen, etwa die zur al-Qaida gehörende Jabhat al-Nusrah oder die Ahrar ash-Sham.

Zugleich ist es jedoch vor allem dringend notwendig, mit den ehemaligen Kämpfer_innen selbst weiterzuarbeiten. Die unterschiedlichsten Entfremdungserfahrungen, die junge Menschen in den IS oder in andere jihadistische Gruppen getrieben haben, sind durch die Kriegserfahrungen ja alles andere als verschwunden, vielfach von Traumatisierungen überlagert. Wenn die Verunsicherung, die zur Desertion geführt hat, nicht für eine konsequente und kompetente Deradikalisierungsarbeit mit den Betroffenen genutzt wird, könnten aus Rückkehrer_innen tatsächlich die medial vielfach beschworenen »tickenden Zeitbomben« werden.

Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter und lehrt an der Universität Wien und der Fachhochschule Vorarlberg.

Jihadismus

Soeben ist von Thomas Schmidinger das Buch »Jihadismus« erschienen, das als Einführung und praktischer Ratgeber gedacht ist. Gemeinsam mit Moussa Al-Hassan Diaw hat er 2014 die in der Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit tätige NGO Netzwerk sozialer Zusammenhalt gegründet, die 2015 für ihre Arbeit den Europäischen Bürgerpreis des Europäischen Parlaments erhielt.